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VIERTELJAHRSCHßlFT
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LITTERATÜRGESCHICHTE
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EUCH SCHMIDT UND BERNHARD SÜPHAN
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BERNHARD SEUFFERT
FÜNFTER BAND
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WEIMAR
HERMANN BÖHLAU
1892
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WEIMAR. - HOF-aUCMOflUOKCRCl
INHALT
Seite
Richard Maria Werner, Das Vaterunser als gottesdienst-
liche Zeitlyrik 1
Theodor Distel, Nachlese über die Neuberin 50
Edward Schröder, Klopstock-Studien. I. Die ältesten Samm-
lungen der Oden 53
Adolf Hauffen, Schröders Bearbeitung des 'Kaufmanns
von Venedig' 87
Bernhard Suphan, Briefe von Goethe und Herder .... 97
Otto Harnack, Über denGebrauch des Trimeters beiGoethe 113
Kuno Francke, Zur Kritik von Falks Goetheerinnerungen 120
Carl Fries, Schillers Fragment 'Die Flibustiers' .... 124
Anton Englert, Ein zeitgenössischesürtheil überHansSachs 135
Richard Maria Werner und Alezander Tille, Zur Faustsage . 137
Hugo Holstein, Briefwechsel zwischen Baggesen und Gleim 140
Sigmund Auerbach, Schiller und Moritz 143
Gustav Kettner, Zu Schillers 'Graf von Habsburg1 .... 144
Ernst Müller, Fragment zu Schillers Teil 145
Beinhold Steig, Achim von Arnim über Herders Cid . . . 148
Alfred Schöne, Zur Kritik des Goethe-Textes 148
A. v. Kotzebue.
1. Adolf Hauffen, Die 'Selbstbiographie1 .... 149
2. Gustav Wilhelm, Ein Streit mit Ärzten . . . 151
Alexander von Weilen, Eine dramatische Skizze Grillparzers 153
Otto Behaghel, Hebel und Wieland 154
Richard M. Meyer, Hein es Achtes Traumbild 156
Felix Poppenberg, Wildfeuers1 Ursprung 158
Marcus Landau, 'Das Muster der Ehen1. Nachtrag zu 1, 492 ff. 2,
275 ff. 160
Waldemar Kawerau, Johann Sommers Ethographia Mundi 161
Hans Sittenberger, Untersuchungen über Wielands Ko-
mische Erzählungen (Schluss zu Bd. 4 S. 439). ... 201
Reinhold Steig, Herders Antheil an den Frankfurter ge-
lehrten Anzeigen vom Jahre 1772 223
Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit 249
Richard Maria Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts . 271
Johannes Bolte, Aus G.R. Weckherlins Leben 295
IV
Seite
Johannes Bolte, Eine Handschrift der Herzogin Magdalene
Sibylle von Würtemberg 299
Ludwig Hirzel, J. H. Waser 301
Felix Poppenberg, Zwei Gedichte Zacharias Werners . . 312
Anton Englert, Heines Beiträge zu Schads Almanach . . 315
Edward Schröder, Kirchners Coriolanus. Zu Vierteljahr-
schrift 4, 566 ff 329
Hermann Fischer, Don Quijote in Deutschland 331
P.E. Richter, J. U. Königs Gevatterbriefe. Zu Vierteljahr-
schrift 4, 582 ff. 332
Karl Johannes Neumann, W. Heinses Erklärung der aristo-
telischen Katharsis 334
Georg Ellinger, Johann Joseph Beckh 337
IL Otto Mayer, Die Feenmärchen bei Wieland 374
Otto Pnipwer, Einige Faustparalipomena Goethes . . . 408
Richard M.Meyer, Über Grillparzers Traum ein Leben . 430
Ludwig Fränkel, Einzelheiten über Valentin Schumanns
Leben, Schaffen und litterarische Stoffe . . . 453
Edward Schröder, Das Volksbuch vom gehörnten Siegfried 480
Heinrich Düntzer, H. P. Sturz in Giessen 490
Derselbe, Ältere Lesarten in Schillers 'Macht des Ge-
sanges1 491
Johannes Bolte, Unlands 'Der Wirthin Töchterlein' ... 493
Philipp Strauch, Merians Bericht über Schiida 494
Felix Poppenberg, Chamissos 'Sterbende* 496
Berichtigungen und Nachträge 496
K.Otto Mayer, Die Feenmärchen bei Wieland (Schluss zu
S.408) 497
Gustav Kettner, Die Quellen von Schillers Warbeck und
Princessin von Zelle 533
Karl Hessel, Heines 'Buch Legrand' 546
Richard Maria Werner, Volkslieder 573
Theodor Distel, Findlinge
1. Weihnachtsspiel im sächsischen Erzgebirge .... 598
2. Michael Becker, der 'lateinische Bauer1 599
3. Noch ein Gedicht der Neuberin an Brühl .... 604
Spiridion Wukadinovid, Die Quellen von Hagedorns
'Aurelius und Beelzebub* 607
Carl Schüddekopf, Ein Brief Gleims an E. v. Kleist ... 612
Ludwig Hirzel, Goethiana aus Lavaters Briefsammlung . 614
Jakob Minor, Zu Grillparzers Entwürfen 621
Berichtigungen 624
Register 625
Das Vaterunser als gottesdienstliehe Zeitlyrik.
Es ist eine merkwürdige psychologische Thatsache,
dass die Menschen gerne das ihnen Heilige verspotten, als
wollten sie sich dadurch von dem Gefühle des Schauers
befreien, das es in ihnen erregt. Parodien von kirchlichen
Formen sind nicht selten, und gerade das herrlichste Gebet,
das wir besitzen, das Vaterunser, wurde besonders häufig
in politischen Gedichten parodirt. Fr. Leonard von Soltau
sagt in der Vorrede zu seiner Sammlung 'Ein Hundert
Deutsche Historische Volkslieder' (Leipzig 1836. s 1845
S. LXXVI) ausdrücklich, die Parodien auf das Vaterunser
machten 'eine eigne Gattung' historischer Volkslieder aus.
Vom 16. bis ins 19. Jahrhundert können wir zwei Typen
dieser Parodien verfolgen, die nur wenig verändert wur-
den und dadurch Zeugniss ablegen, wie sehr sie dem
Geschmacke des Volkes entsprachen. Bisher wurde noch
nicht der Versuch gemacht, diese Typen genau festzustellen
und durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Nur Soltau
(a. a. O. S. LXXVI f.) gab Andeutungen, ihm stand aber
weder der richtigste Text noch eine genügende Zahl von
Fassungen zur Verfügung. R. v. Liliencron (Die histo-
rischen Volkslieder der Deutschen 3,237—241) hatte einen
anderen Zweck und erwähnt die Parallelen nicht. Weder
Ditfurth in seinen Ausgaben, noch Vilmar in seinem 'Hand-
büchlein' haben diesen Volksliedern einen Platz angewiesen;
da nun überdies das Material weit zerstreut und schwer
zuganglich, ja zum Theil noch unbekannt ist, glaubte ich
diese Gattung des Volksliedes im Zusammenhange be-
trachten zu sollen. Ich schliesse dagegen die Umdichtungen
des Vaterunsers aus, wie sie mitunter von Dichtern versucht
Vierteljahrachiift für Literaturgeschichte V 1
2 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
wurden, z. B. 1825 von Grillparzer im Anschluss an Fäh-
richs Bilder (Grillparzer- Album S. 351 ff., dazu S. 544
Sauers Ausgabe l 2, 6 f.), sie gehören auf ein ganz anderes
Blatt. Auch die Verbrecherlyrik, welche in Ton und Ma-
nier des Vaterunser sich bewegt (Av6-Lallemant, Deut-
sches Gaunerthum 1,208—213, Werner, Lyrik und Lyriker
S. 148) bleibt unberücksichtigt.
Älterer Typus. Bei dieser Parodie besteht der Witz
darin, dass gleichsam das Lippengebet und die weit davon
abliegenden Gedanken des Betenden neben einander aus-
gesprochen werden ; es wechselt also ab der Wortlaut des
Vaterunser und die unheiligen Gedanken. Ich kenne fol-
gendes Material:
R. Das Reutlinger Vaterunser 1519 gedruckt bei Lilien -
cron a. a. 0. 3, 239 f. nach zwei Handschriften :
A gleichzeitige Handschrift in München Clm 1585
Pol. 183, darnach gedruckt in Aretins Bey trägen zur Ge-
schichte und Litteratur. München 1805 4,438, daraus ver-
wertet [?] von Hauff im Lichtenstein (Hempel 5, 29),
ferner bei Soltau S. 241 f. (Nr. 40*), vgl. Heyd, Herz. Ul-
rich 1, 529; Eugler, H.Ulrich S. 59. Es ist unterzeichnet
'Eberhard Torex' und mit der Bemerkung versehen: 'Diss
pater noster soll wirttenberg ausgeen haben lassen. Ich
hoff im werd nit gelingen, dann vnnseres Schöpffers pr. no.
geet vor allen Dingen'. Über das Nähere handelt Lilien-
cron, dessen Herstellung aber kaum das Richtige trifft.
B gleichzeitige Handschrift im Besitze Haydingers,
gedruckt bei Liliencron in den Anmerkungen.
D. Das Donauwörther Vaterunser 1603, aus einer Hand-
schrift der Giessener Universitäts- Bibliothek Nr. 552, ge-
druckt bei Dr. J. V. Adrian, Mittheilungen aus Hand-
schriften und seltenen Druckwerken. Frankfurt a/M. 1846
S. 332 f. Es ist eingeleitet: 'Zu der Zeit als Donau werth
von Beyerfürsten eingenommen, ist das heylige Vatter Unser
von den Papisten vff volgende Weiss Gotts lesterlich ver-
kant worden wie hernach volgt'.
E. Das Engelstätter Vaterunser 1603, aus derselben
Handschrift von Adrian gedruckt, es steht unmittelbar
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 3
hinter D mit der Angabe: 'Nun volfet [1. volget] das ander
Yatter Ynser so ihnen die Lutherischen gemacht haben'.
Ähnlich aber in Prosa wird das Vaterunser verwerthet
zur Parodie anderer unheiliger Gedanken, so findet sich bei
Scheible, Volksprediger, Moralisten und frommer Unsinn
(Daa Kloster 1, 160—163) 'Das Paternoster des Wucherers',
Fragment einer Ereuzpredigt Roberts von Corson; im Ge-
sellschafter vonGubitz 1812 Nr. 119 steht, wie mir L.Geiger
nachweist, gleichfalls das 'Vater unser eines Wucherers'
von Bertram, das beginnt: 'Vater unser der du bist im
Himmel. Schade dass man dich nicht auf Erden findet,
ich wollte durch Connexionen schon an dich kommen'.
Soltau erwähnt S. LXXVI Anm.* nach Meyer und Mooyers
Altdeutsche Dichtungen, Quedlinburg 1833 S. 79 V. 79 ff.
das Vaterunser eines Trunkenen. Abraham a Sta. Clara
hat im Abrahamischen Gehab dich wohl! (Sämmtl. Werke
Passau 1837 11, 359 ff.) ein Vaterunser des Neiders, S. 439 ff.
das Vaterunser eines Hausvaters ausgeführt, dem sich
S. 441 das Ave Maria eines Weibes in demselben Stil an-
schliesst.1) Aber schon in Lassbergs Liedersaal (3, 551 ff.
Nr. 246) finden wir eine kleine Geschichte 'Des Buben
Klage'; der junge Bursche wird im Wirthshause geprügelt,
am nächsten Morgen jammert er, Gott habe ihn vergessen.
Dann heisst es (V. 57 ff.):
Er wolt sprechen sin gebett,
Er wist nit recht wie er jm tett:
Wenn er sin ie ain wort gesprach
So clagt er sin lait sin ungemach.
Damit wird ganz deutlich die Art dieser Parodien bezeich-
net, nur geht das Gedicht weiter als die Prosa, indem es
dann die einzelnen Bitten auf die recht unheiligen Ge-
danken reimt:
1) Wenigstens in einer Anmerkung sei des Duetts zwischen einer
Nonne und ihrem Bnlen Herzeger dem 'pruoder' gedacht, das von
J. V. Zingerle (Germania 14, 405 ff.) nach einer Wiener Handschrift von
1393 (Nr. 2885) and nach einer Innsbracker Ferdinandeumshandschrift
von 1456 mitgetheilt wurde und beginnt:
'Pater noster! vater min!
ich pinz diu liebe tochter din,
diu schoene swester Else.1
4 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Pater noster, vatter unser,
Ich wart nacht getunsen
By dem bar durch das kol
Daz waistu lieber her wol
Du bist in dem himel. u. s. w.
Auf diese Parodien gehe ich nicht weiter ein.
Für diese ganze Gruppe charakteristisch ist der lose
Zusammenhang zwischen den Worten des Vaterunsers und
den Gedanken, wenn auch Bertrams Parodie und 'Des Buben
Klage9 zeigen, wie der Weg weitergeht. In den Liedern
giebt der Reim ein engeres Band ab. Nun sehen wir
weiter an dem bei Oscar Schade (Satiren und Pasquille
aus der Reformationszeit, Hannover 1863. 22, 270) nach
'Der Papisten Handbüchlein' 1559 (Ph. Wackernagel,
Kirchenlied S. 692 erwähnt zu Nr. 818 eine Ausgabe von
1563) gedruckten Vater Unser eigentliche Parodie bis zur
Veränderung des Gebetes; es ist bezeichnet: 'Das wer auch
wol ein Gebet für die Pfaffen D. M. L.', vorangeht das
Benedicite und Gratiaa, dann folgt:
Das Vater Unser.
Bapst, vater aller verlöugneten Christen!
Geschendet werd dein verfluchter nam!
Zfi kum dein rieh in der helle!
Dein teufelischer will müsse bald underligen wie im himel also
auch auf erden!
Unser täglich brot gebe dir got nit!
Und erlass uns unser sünde nit durch dein verlognen ablass,
wie wir auch nit wollen Vergebung von dir haben.
Für uns nit mer in Versuchung, sondern got erlös uns von
deinem übel.
Ebenso ist 'Der Gruss' und 'Der Barfüsser Münch zehen
Gebot' gehalten. Mit diesen Vaterunser zu vergleichen
ist das 'Mährische Yatter unser' aus dem Jahre 1619, das
Weller, Die Lieder des dreissigjährigen Krieges S. 6 t hat
drucken lassen (vgl. Wackernagel, Geschichte der deutschen
Litteratur 22, 175 § 118, 1); es zeigt die reformirte Über-
setzung des pater noster:
Unser Vatter Bapst, der du bist in Rom: Geschendet werde
dein Nam. Zerstöret werde dein Reich. Dein will gescheh
nimmermehr, weder zu Rom, in Böhmen, auch nicht bey uns in
Mähren, noch in Schlesien, viel weniger in Teutschland. Unser
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 5
täglich Brod suhlst u uns heut. Und bezahl uns unser Schuld,
was auff den Böhmischen Krieg gangen, wie du unsern Schul-
digern gern mit einer Spanischen suppen zuvergeben meinest,
Führ uns nicht in dein Versandung, noch auf den weg des
bösen Feindes. Sondern erlöss uns von der Römischen Büberey.
Dann dein ist hier das Reich, zu treiben Sund, Schand, Sodo-
mitisches Leben, Hurerey, Todtschlag, und andere unzehlige viel
Laster und Schelmenstück, das ist dein Krafft und gestohlene
Herrligkeit, welche dir in der Hellischen Pein bereitet ist in
Ewigkeit.
Sehr ähnlich dieser Fassung ist : 'Das päpstische Yater
Unser' (1620, in Gotha erhalten, angeblich gedruckt als:
'Auszug des Barnefelds Busspsalms. Gestellet und verfasset
durch Johann Thurein, Professor zu Padua, Gedruckt zu
Rom im Jahr MDCXX') ; mitgetheilt ist es von Julius Opel
und Adolf Cohn in ihrer Sammlung von historischen Ge-
dichten und Prosadarstellungen : 'Der 30 jährige Krieg'
(Halle 1862 S. 32):
UNser Vater der Papst, verunheiliget werde dein Nam, um-
komme dein Reich, dein Will vergehe, wie im Himmel also auch
auf Erden, unser täglich Brod stielst uns armen Leuten und ver-
gibst uns unser Schuld, und bist doch selbst des Teufels Schul-
diger, und führe uns nicht in Verfluchung, sondern ergib dich
dem Bösen, denn dein ist sein Reich und die Kraft seiner Greu-
lichkeit, der Teufel holet [vielleicht: hole] den Papst in Ewigkeit,
Amen.
Noch muss einer ähnlichen Parodie gedacht werden,
die sich von der voranstehenden nur durch die Reime
unterscheidet, sie folgt in 'Der Papisten Handbüchlein' un-
mittelbar hinter 'Der Barfüsser Münch zehen Gebot' mit
der Bezeichnung: 'Des Bapsts Gebet volget' (vgl. Schade
a. a. O. S. 273):
Sein Vater Unser sprich im mit andacht,
die weil er gottes wort und den heiligen geist veracht.
Bapst vater unsinnig, der du bist zu Rom,
vertilget werd dein hochfertiger süntlicher nam!
verbrennet werde dein rieh
iezund und ewiklich!
dein will nimmer gesehen also
weder zu Rom noch anderswo!
unser täglich speis verbeut uns nit,
weder iezund noch z8 andrer zit!
6 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
dein zins, ablass und bullen
mögen nicht bezalen unser schulden,
auch fnre uns nimmer in des bannes simonei,
sonder erlös uns, got, auss der pfaffen buberei!
Amen.
Sein Gruss volgt' .... 'Sein Glaub beschleuset' .... Alle diese
Formen, die angeführt wurden, damit das ganze weitzerstreute
Material beisammenstehe, lehren uns, wie beliebt diese Gat-
tung war, sie gehören alle zum älteren Typus der Parodie.
Die älteste Fassung R besitzen wir nicht ganz zuver-
lässig, weder A noch B sind getreue Abschriften, wir ver-
mögen aber ein ziemlich zutreffendes Bild des Originals zu
gewinnen, wenn wir noch Nr. 314 aus Liliencrons Samm-
lung herbeiziehen : 'Aines frumen minchs gloss auf den vater
unser vorsteend' (3, 241), diese 'Glosse' ist in B erhalten.
Hauff sagt in einer Anmerkung zu seiner Fassung: 'Man
vergleiche über diesen Volkswitz des Freiherrn von Aretin
Beiträge etc. Der hier etwas abweichende Wortlaut ist
folgender.' Darnach könnte man glauben, Hauff habe nur
den Text A überarbeitet, dem scheint aber manches, be-
sonders Y. 3 f. zu widersprechen, so dass Hauff vielleicht
dem Volksmunde nachgeschrieben hat. Hauffs Text aber
steht A am nächsten; an 6iner Stelle V. 9—12 hat wohl
E das Ursprüngliche am treuesten gewahrt, während A
und Hauff eine Lücke enthalten, die 'Glosse' aber damit
stimmend (?) das ganze übergeht; in B und D begegnet
eine andere Vertheilung des Vaterunsertextes. Sonst zeigen
D E die grösste Verwandtschaft, so stehen sie z. B. V. 13 f.
und 15 f. allen anderen gegenüber; in den Versen 3 f. und
8 zeigen sie Ähnlichkeit mit Hauff, während A und B von
ihnen und unter einander abweichen. In V. 17 f. ist D ähn-
lich A und Hauff, während E ähnlicher B. Darnach stellt
sich der Stammbaum für diesen älteren Typus etwa so dar:
R
A Glosse *B
/\
x B
\
D
/
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 1
Den Text bei Hauff habe ich deshalb nicht eingereiht,
weil ich nicht weiss, ob der Dichter nur eine Bearbeitung
von A vornahm oder aber einer volkstümlichen Über-
lieferung folgte, was man auch aus der Bezeichnung 'dieser
Volkswitz' schliessen könnte ; ist das letztere der Fall, dann
müsste Hauffs Text vor A auf diesem Ast abgezweigt
werden. Ob der von der 'Glosse' benutzte Text den Fehler
von A und Hauff Y. 9—12 theilte, lässt sich nicht bestim-
men, wenn ja, dann müssten wir eine gemeinsame Quelle,
etwa *A^ für A und 'Glosse' annehmen.
Unzugänglich blieb mir 'Neugemachtes Yatterunser
Friederich Pfaltzgrafen bey Rhein' o. O. 162t in 4°, wel-
ches Weiler a. a. O. S. XXVI ohne Fundangabe anführt;
ob es zum älteren oder jüngeren Typus gehört, muss da-
hingestellt bleiben. Ich habe es in Berlin, Göttingen, Han-
nover, Heidelberg, Strassburg i/E., Salzburg vergebens
gesucht.
Der Text des älteren Typus nach R lautet:
Vater unser:
Reitling ist unser,
der du bist in den himmeln:
Essling wölln wir auch gewinnen,
s geheiliget werd dein nam:
Hailprun vnnd Weyl wölln wir auch hau.
3 f. Der da bist: Esslingen hab dir ain claine frist — in den
himeln: Ehingen und weil welln wir gewinnen. B. Der Du bist —
Esslingen hat nicht lange Frist, Hauff. 4 Tibing vnnd Essling A.
Liliencron macht darauf aufmerksam, dass Tibing falsch sein müsse,
weil Tübingen würtembergisch war, er setzt deshalb nach B 'Ehing'
ein, während Heyd es in 'Qemünd' besserte. Die Glosse sagt; 'Das ist
ein grossmerklichs wunder, Wirtemperg spott gottes und des Vater
unser, darinn er meldt, Reutlingn ist mein: damit er sich bekennt am
reich mainaidig ze sein! weiter Esslingn zu gewinnen: das helfen
im die mainaidig poswicht besinnen Hanns Lienhart von Reischach
vol aller schand und doctor Vollenband.' Darnach kann B 'Ehingen'
nicht genannt haben, sonst nähme die Glosse Rücksicht darauf. Merk-
würdig ist Hauffs Fassung, welcher 'in den himmeln1 wegläset und
auch nur 'Esslingen' nennt, man vgl. unten die Parallelen. — 6 Hail-
Parallelen: 2 Donau werdt ist unser. D. Engelstatt ist vnser. E.
— 3 f. der du bist. Der Pfalzgraff ist übler Christ. D. der du bist.
Vff den Schellenberg ist man wol grüst. E. — 6 Lauringen mues auch
8 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
zukomme vnns dein Reich:
Der Ulmer pund ist vnns kaynen gleich,
dein will der geschehe:
10 die Müntz hat gereyt ein ander Geprege;
Gib vns unnser täglich prodt;
wir haben geschutz für alle not;
15 vergib vnns vnnsere schuld:
wir haben des königs von Frankreichs Huld;
prnnn nnd Wimpfh soln uns nit entgan B. Heilbronn und Weil wollen
wir hau; Hauff, er well auch Hailprunn und Weil han: er mness
aber ee sein aign land und leut Verlan! Glosse später. — 8 der
U. p. wirt uns geleich B. Ulm sieht uns auch gleich; Hauff, im
müess ulmer pund werden gleich; der herzog muess pald habn ain
ander reich! Glosse. Diese Wendung der Glosse bürgt für A. —
9 — 12 dein will geschech in himmeln als auf erd: schwebisch Gmind
wirt unser vogeiherd. B. dein Will geschehe, die Münz' hat gereit ein
anderes Geprähe; Hauff. Die Glosse gibt keinen Anhalt Liliencron
nimmt keine Lücke wegen des fehlenden 'wie im Himmel also auch
auf Erden1 an, giebt es vielleicht eine Vaterunserfassung ohne diesen
Zusatz? 13—is Unser täglich Brod — Wir haben Geschütz für alle
Noth — Gieb uns heut und vergieb uns unsere Schuld, Hauff, und
dass er hab geschutz für alle not: der mord an dem von Hütten be-
gangen wird sein tod! Glosse. Nach dieser Glosse, welche folgende
Reihenfolge voraussetzt: Reutlingen — Esslingen — Ulmer Bund —
Heilbronn und Weil — Geschütze, möchte man für B annehmen:
geheiliget werde dein nam, zukomme vnns dein Reich:
der Ulmer pundt ist vnns kaynen gleich,
dein will der geschehe:
die Müntz hat gereyt ein ander Geprege
im himmel vnnd auff Erden:
Heilprun vnnd Weil müssen vnser werden.
Gib vns vnnser täglich prodt:
wir haben geschutz für alle not;
aber die anderen Fassungen stützen diese Herstellung nicht, die Glosse
muss also von der ursprünglichen Reihenfolge abgewichen sein. — 16 in
bald dran. D. Am Rhein kommen die Lutherischen zusam. E. —
8 Nördlingen sieht vns auch gleich. D. Schrobenhausen vnd Straubing
sieht vns gleich. E. — 9 — 12 Dein Wille geschehe im himmel als vff
Erden , Vlm mues auch bald vnser werden. D. Dein Will geschehe,
Ihr Bayern seid nit zu gäbe, Im Himmel vnd vff Erden. Aichstett
muss auch vnser werden. E. 13 f. Vnser täglich Brod gib uns heut,
Gundel fingen ist auch nicht weit D. Unser täglich Brott gib vns heut,
Windungen liegt von Mönchen nit weit, E. — 15 f. Vnd vergib 7nss
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
als wir vergeben vnnsern schuldigem:
wir wöllnn den pundt das maul recht zerperen;
Lass vnns nit gefürt werden:
20 wir wöllnn pald kayser werden;
in kainer versuechung;
sondern erlös von allem Vbel: Amen:
so behalten wir des kaysers namen.
Frankreich Hauff, und dass er hab des Franzosen huld: er hab nur
ain deine zeit geduld, sein gemelte mainaidige stück gross, und
das, so er an Reitlingen begangen hat pos, würdet ine darzue gwiss-
lichen pringen, dass er muess pald in gefengnus singen! Glosse, vgl.
V. 18. — 17 — 19 als wir vergebn — das Bairland wirt uns ebn. unsern
schuldigern; für uns nit ein — zu Augspurg hat man schlechten wein
— B. — 18 Dem bund das Maul zusperrn! Hauff. (Das gefengnus* in
der Glosse könnte aus einem solchen 'zusperren' erklärt werden. —
19 Lass uns nicht versucht werden, Hauff. — 20 fehlt B. — 21 — 24 in
kain übel versuechen: sich auf unser aidgnossen puech. sunder erlös
uns vor übel. Amen, ich hoff es werd uns alle zusamen. B. 21 f. fehlen
Hauff. 23 erlös uns vom Übel. Amen! Hauff. Die Glosse erwähnt wie
B nichts vom Kaiserwerden, sondern liest: 'An seiner landschaft hat
er verschult, dass sie von im wirdet ziehen ir huld, ime lassen umb
that und schuld recht ergan, wie er sein underthanen umb Unschuld
hat gethan seines gefallens urtail lassen stellen, die dann die richter
haben mü essen feilen. Das alles wirdet die landschaft zu herzen fassen
und ine den hencker strafen lassen, als er [l. eher] der herzog manchen
piderman wider recht hat gethan, die ine und sein iezigen marschalch
müessen meiden.* Das alles giebt keinen Stützpunkt und der Schluss
mit der Angabe des Verfassers gehört nicht mehr hierher. Die Lücke
V. 22 hat schon Soltau vermuthet, Liliencron nimmt sie an und ich
bin ihm freilich mit Zagen gefolgt.
vnser schuldt, Pfaffingen ergib dich in Geduld. D. Vergib vns vnser
schult, Pfaffenhausen ergib dich in geduld. E. — 17 f. Wie wir ver-
geben vnsera schuldigern, Augspurg vnd Biberach ergibt sich gern, D.
Als wir vergeben, zu Kiebricht wollen wir leben. Vnsern schuldigem,
Hohen werth ergibt sich gern, E. — 19—22 Vnd füre vns nit in Ver-
suchung. Schwäbischen Hall wir auch vber khommen. D. Vnd füre
vns nit in Versuchung Kaisersheim gibt gute Landsknecht kuchen, E.
— 23 f. Vnd erlöse vns vom Vbel Was ist Nürnberg mit ihrer Bibel. B.
Sondern erlöse vns von dem Bösen Freisingen vnd Dillingen ist leicht
zu lesen, Denn dein ist das Reich Die Jesuiten sehen dem Teuffei
gleich, Vnd die Crafft, Sie haben nie nichts Gutes geschafft Vnd die
Herrlichkeit Der Hell ist ihnen bereit. In Ewigkheit, Das ist der letzt
Bescheid. Amen. Amen. Amen. E.
10 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Zu diesem älteren Typus muss ein fliegendes Blatt ge-
stellt werden, obwohl es im Wortlaute vollständig abweicht;
es folgt aber ganz der älteren Art und nimmt sich wie eine
gelehrte Nachbildung aus. Der Abdruck erfolgt genau nach
dem Exemplar der Egl. Bibl. in Berlin Yf 6624 aus Meuse-
bachs Besitz, Sammelband mit der Bezeichnung: 'Gedichte
zum 30jährigen Kriege 1631 — 1650.' Nach einem Exem-
plar auf der Züricher Stadtbibliothek gedruckt bei Weller
a. a. O. S. 204—207 mit geringen orthographischen Ver-
schiedenheiten. Es sind 4 unpag. Bll. 4°.
Ein eyveriges | Andachtiges Christliches | Vater Vnser der
E- | vangelischen Hertzen vrab Stürtzung fal- | scher Lehr auch
vmb Schutz vnnd Beystand der | H. Engeln zu bewahren das
Hoch Koni- | gliche Bluth | Dess Durchlauchtigsten Grossmächtig-|
sten von Gott gesandten Könige | Herrn GVSTAVI A- | DOLPH1
etc. der Reich | Schweden 20. | [Druckstock] | Durch einen auss-
gepl&nderten Pfarrern | continuirt vnd gedruckt | Im Jahr. | O Ie-
hoVah In te nostra FIDVCla | RefVglVMqVe slt. [1631.]
Das Schwedische Vater- Vnser nach den
sieben Propheten
Propheceyung
VAter vnser der du bist im Himmel
Das Bapstthumb soll fallen mit grossen Getümmel
Geheiliget werde dein Name,
Es stossen fünff Könige zusammen.
5 Zukomme dein Reich,
Sie werden im Babstthum bitten zu gleich,
Dein Wille geschehe,
Die Bischöffe vnnd Cardinal werdens nicht gern sehen.
Wie im Himmel,
io Wann der Bapst den Halss bricht vom Schemel.
[Aijb] Also auch auff dieser Erden.
Was sie gestolen haben, soll vns doppelt werden.
Vnser täglich Brod gib vns noch heute,
Die Münche vnd Pfaffen geben vns gute Beute.
15 Vnd vergib vns vnser grossen Schuld
Wir armen Evangelischn habn vns lange gedult
Als wir vergeben vnsern Schuldigern
Zwiefach vnd doppelt solls vns ob GOtt wieder werden
Vnd führ vns O HERR nicht in Versuchung,
*o Wir hoffen es soll nicht kommen zu Vergleichung.
Marginalnoten: V. l f. 'Matth. 6 § 9. Luc. 11 § 2.'
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 1 1
Sondern Erlöss ach GOTT vns von allem Vbel,
Sie müssen alle ja alle in dess Teuffels Kübel
[Aiij] Dann dein (vnnd nicht dess Bapsts) ist das Reich,
Es stehet in aller Orthen nicht gleich.
25 Vnd die Kraut auch die grosse Macht
Darnach haben die Diebischen IESVVVITEN getracht
Vnd die vnausssprechliche Herrligkeit
Nun wirds den losen Schelmen werden leid
In Ewigkeit Amen 0 hilff Christe Amen,
so Im fewrigen Pfuell kriegt sie der Teufel zusammen
Amen das heist es werde wahr.
GOtt gebe Glück es geschehe in diesem 1631. Jahr.
Jesus Christ wahrer GOtt vnd Mensch ist,
Der bleib Adjunct aller betrübtn Christ.
3& Vnnd helff auss vorstehender grosser Gfahr,
[Aiijb] Dass sie jhn lobn nun vnd jmmerdar.
Lobt GOtt, lobt GOtt jhr Menschen Kinder,
Vnd zunehmen im Glauben jmmer.
Auch rühmen die grossn Thaten zugleich,
40 Leipzig vnd anderswo gschehn im Reich.
0 König Gustave vns von GOtt gsand,
Zu erlösen von Münchn Jesuwiten Band,
Adolphe in Frembden Landn vnbekandt,
Das edle Lebn dein bfehl in GOtts Hand.
45 Sihe dich für ach das bitte ich,
GOtt gleite mit seinen Engeln dich.
Vnnd fortpflantzest GOttes Wort im Reich,
Dazu die hohen Sacramentn gleich.
Auff dass ein vnsterblicher Nam dir,
so Auch allen Rittern mög gegeben hier.
Auch bekennen vnd rühmen Weib vnnd Man,
[Aiiij] Dass DEUS almipotens solches gethan.
Vnsern Goliath gzüchtiget zwar,
Mit Geschoss nicht weit vom Leben dar.
55 Bekehre dich nun 0 du Sauls Kind.
Auff dass du ja nicht gar werdest blind.
Sthe ab von deiner Vnsinnicheit,
Das vergossene Blut schreit vbrweit
Ach GOtt wiltu solches nicht rechen,
6o Vnd seinn Muettwillnd Tyranney brechen.
Erhör allr Witbn vnd Weisslein seufftzen,
Wie auch der kleinn Seuglingen Heulen.
Aller Jungfern Bdrangnus vnnd Schmertz.
Ach Gott lass es gehen durch dein Hertz.
29 'Apocal. Joan. 20 § 10.' — 31 4Cantio\ — 33 <Matth. 16 § 16.
20 § 20'. — 42 Müchn Druck. — 53 f. «1. Sam. c. 17. Actor. 9. § 4\ -
64 durch Druck.
1 2 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
65 Auff dass allr bedrengten Menschen Mund
Dich 0 Gott loben auss Hertzen Grund
Amen Amen hilff zu aller Zeit
Aus grossen Nöthen die armn Christen weit
[Aüijb] Geschrieben im 1631. Jahr.
70 Da ebn der Sontag vorm Montag wahr.
In einem Hauss so GOtt ist bekandt
Für allm Vnglück thuen bwaren zu Hand
Amen, Amen ja zu aller Stund
HILff HILff MIer bitte Wir aVs elVm Hertzen GrVnD
7& ENDE.
Ach Waffen, Ach Waffen
Vber vns arme Manche vnd Pfaffen
Wir haben zu lange geschlaffen
GOttes Wort ist auffgestanden
so Vnsere Böberey wirdt bekandt in allen Landen.
Hoc Vaticinium scriptum in templo Erpbordiense
invenies, nomine BarfÜssern Klostern.
Neben diesem älteren Typus sehen wir nun im Jahre
1599 eine neue Form auftauchen, welche sich von jener
dadurch wesentlich unterscheidet, dass nun die einzelnen
Bitten des Vaterunser nicht mehr den Anfang machen und
gleichsam den canto firmo bilden, um welchen sich die an-
deren Motive wie fiori schliessen, sondern dass die Aus-
drücke des Vaterunser den Verspaaren des Gedichtes als
Schluss dienen, gleichsam als ein fortlaufender zusammen-
hängender Refrain. Nun eigentlich wird das Vaterunser
erst parodirt, indem es einen integrirenden Bestandtheil des
Gedichtes, die Ergänzung seines Sinnes, darstellt. Wir
finden zuerst so das lateinische pater noster verwendet. Ich
bezeichne diese Gestalt als
Übergangs form. Sie findet sich unter dem Titel
4Das Spannisch pater noster9 in der Handschrift Nr. 103 der
Giessener Universitätsbibliothek 61. 29 — 30% gedruckt bei
Adrian, Mittheilungen S. 333 — 335. Am Ende steht die
Jahreszahl 1599.
Von Spannien vnd Spannischen sitten
Bewahr vns, herr, darumb wir dich bitten pater noster
Von inen mustu geteuschet werden
Auch verspottet allhie auf erden qui es in coelis.
s Am Anfang könnten sie sich wohl wagen,
Dass, welcher sie siehet, muss sagen Sanctificetur.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 13
Darnach aber, vnd das ist die clag,
Verfluchen sie den ganzen tag
Wenn sie etwas bei dir thun sehen
10 Von stund an thun sie also krähen
Wollen auch so stattlich sein
Dass sie bald werden verzehren fein
Gib mir gelt, oder ich bring dich vmb,
Aisdan sagen sie in einer summ
15 Was wir verdient haben frey,
Darvmb ein ieder glaub dass es sei
Verschaff, herr, im Römischen Reich,
Damit kein Spannier hinein schleich
Wie sie im himmel seind vnbekhannt,
8o Dass sie gleicher weiss werden zu schand
Wenn irr Pferd kein haber hanndt,
So geben sie inen, ists nit ein schandt,
Und wenn wir etwas wollen sparen,
So thun sie vns alsbald anfahren
äs So hilfft auch nit der Khinder clagen,
Wenn sie schon bitten vnd sagen
Doch sind die Spannische Bosswichten
Ein Vrsach dass wir nicht entrichten
Dass sie auch wollen irr leiber
so Reiben an unser hupsche weiber
Wellen wir nit werden geschlagen,
Müssen wir alsbald sagen,
Das ist nit genug, sie thun einziehen
Das gelt, so wir haben geliehen
35 Erbarm dich vnser, o herr, hierbey
Und wehre inen solch Tyranney
Lass einen guten friden erschallen
Damit wir nicht thun fallen
Von den Spanniern und irem Schindt
40 Von iren weibern, knecht vnd khindt
nomen tuum.
Adveniat.
regnum tuum.
fiat.
voluntas tua.
sicut in coelo.
et in terra.
panem nostrum
quotidianum.
da nobis hodie.
et dimitte nobis.
debita nostra.
sicut et nos.
dimittimus.
debitoribus nostris.
et ne nos inducas.
in tentationem.
sed libera nos.
89 f. Diese Verse erinnern an V. 31 f. des jüngeren Typus: 'Sie
thun so grossen Mutwillen treiben, Vnd wollen ligen bey vnsern Wei-
bern Als wir.' — 31 f. Vgl unten zu V. 27 f. des jüngeren Typus:
'Thun wir's dann nicht, sind wir geschlagen, zu uns Bauern sie höh-
nisch sagen : Vergieb uns. 8. Und wenn sie auch uns Bauern schlagen,
So wird zu ihnen keiner sagen: Vergib uns! M.
14 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Sieh vns mit gnedigen äugen an,
Erlös vns auch all, weib vnd man a malo.
Gib vns auch ein gutes ende
Die Spanier aber sent in teufeis hände. Amen.
CIO 10 IC
Diese Übergangsform deutet also schon auf das fol-
gende hin.3) Noch starker ist dies mit der nachstehenden
der Fall. Aus dem Januar 1621 stammt nämlich 'Das
Heydelbergische vnd Rebellen Vater Vnser. Aus Heydel-
berg den 14. Januarij. Im Jahr M. DC. XXI', wie es am
Schlüsse heisst: 'Gedruckt zu Leyden, Im Jahr M. DC.
XXI'. 4°. 4 Bll. neugedrackt bei Soltau Nr. 73 S. 460-462
und bei Weller a. a. O. S. 121— 123. Von diesem Gedichte
besitzt das Strassburger Stadtarchiv eine gute Handschrift,
welche den Text verbessern hilft; Ernst Martin hatte die
grosse Güte, mir eine eigenhändige Abschrift zu senden,
da ihn H. Dr. Winckelmann auf dieses Stück hinwies. Ich
behalte die Druckeintheilunff des Originales bei, da auch
die Handschrift übereinstimmt, zähle daher die Vaterunser-
bitten als besondere Verszeilen ; durch Druck bezeichne ich
V. 43 f. sind schwer leserlich und nicht ganz sicher, so sagt
Adrian; sie erinnern aber an das unten zum ersten Male gedruckte
Vaterunser gegen Montecuccoli V. 41 f. : 'Darumb o Gott, dich zu vnss
wendt, lass vnss nit komben inss gugerls hendt Sondern erlösse vnss*.
*) Sehr merkwürdig ist die Übereinstimmung mit dem Pater
Noster dei Lombardi contro i Francesi aus dem 16. und dem Pater
Noster contro gli Spagnuoii aus dem 17. Jahrhunderte, mit denen ich
erst nach Abschlags meiner Arbeit bekannt wurde; das erste wurde
von F. Novati nach einem handschriftlichen Chronikon ab origine
mundi usque ad ann. 1527 und einem undatirten Druck zum erstenmal
gedruckt Giornale di filologia romanza (1879) 2, 148 ff., das andere
nach zwei Handschriften zuerst von G. Carducci in L'Ateneo Italiano
(1866) I 1, 90 ff., wiederabgedruckt bei Novati a. a. 0. S. 150 ff. No-
vatis Vermuthung, das erste Vaterunser stamme noch aus dem 15. Jahr-
hundert, obwohl es zum Jahre 1520 erwähnt wird, ist nicht einleuch-
tend. Ob nun das deutsche aus dem italienischen geflossen sei, ver-
mag ich nicht zu behaupten, denn wir dürfen nicht vergessen, dass
das deutsche Vaterunser gegen die Spanier älter sei als das italie-
nische Pater noster gegen die Spanier. Leider verbietet mir der Raum,
diese italienischen Fassungen zum Vergleich abdrucken zu lassen, es muss
daher die weitere Untersuchung einem anderen Orte vorbehalten werden.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 15
die Übereinstimmung von Soltaus und Wellers Lesart, durch
Hs. die Strassburger Fassung. Die Anmerkungen ver-
weisen noch auf die Ähnlichkeiten des Heydelbergischen
Vaterunser mit dem jüngeren Typus, wobei die unten ge-
brauchten Siglen als bekannt vorausgesetzt werden.
Hs. führt den Titel : 'Das Heidelbergische und Rebellen
Yater unser9; das Datum fehlt.
Als Heydelbergk vff Prag kam zur stund
Schrin die Rebellen vnser König kömpt vnd
Vatter,
Heydelberger dacht bey jhm selbst zur frist
s Das gantze Böhmische Königreich ist
Vnser,
Dargegen für die trawrigen Papisten
Führt der teuffei her die Calvinisten
Der du bist,
10 Ist gewiss, dass euch bald stürtzen wird
Der Herr, so oben vff regiert,
Im Himmel,
Dann gäntzlichen man gar keinen find
Der aus dem Heydelberger Hoflfgesind
15 Geheiliget werd,
Weil sie Kirchen vnd Klöster stören
Fluchen, schänden, lestern vnd schwören
Dein Nahm,
Aber es schreyen Keyser Ferdinand
ao Das geworbene Volck auss Beyerland
Zukomme vns,
V. l Alss Heidelberger uf Hs. — 2 Schrien .... kompt Hs. —
3 Vatter Hs. Zu V. 4 ff. vgl. V 3 f. Denckt jhm darneben zu jeder
Frist, Bawer was du hast das alles ist, Vnser. — 4 Heidelberg Hs. . . .
selbs Hs. — 5 ganze Königreich [Böhmische fehlt] Hs. — i Dagegen
die traurige Hs. — 8 Fiehrt der teufel her den Calvinisten Hs. — Zu
V. 10 ff. vgl. V 7 f. Sey gewiss dass dich noch straffen wirdt, Der Herr
der oben anff regiert, In Himmel. — 10 das dich bald Hs. — n so]
der Ms. — auf Hs. — 13 ff. vgl. V 9 f. Ich glaub nit dass man einen
findt, Der auss disem verfluchten Gsindt Geheiliget werde. — 13 gäntz-
lichen] gewisslich Hs. — kein Hs. — u auss . . . Heidelbergischen Hs.
— 15 werde Hs. — ie Weilen sy .... steren Hs. — n vgl. V 12 durch
welches mehr gelästert wert dein Nam. — Fluechen, sehenden, lästern
vnd schweren Hs. — schwören] schmehen Druck. — 18 Name Hs. —
19 Aber es schreien Ferdinandt Hs. — Keysers Druck, die Besserung
ist wohl begründet. — 20 Das] Alles Hs. — geworbne Volckh Hs.
— aus Soitau. — 21 Zue komme Hs.
16 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Auch schier vnd bald in vnsern nöthen
Damit sie auch erhalten vnd erretten
Dein Reich,
S5 Da Beyerfürste wolt vff die Rebellen schlagen
Theten alle Keyserische Soldaten sagen
Dein Wille geschehe,
Wir wollen erlangen gute Beuth
Beyneben haben gross Ehr vnd Frewd
so Wie im Himmel,
Dargegen der Winter König in Böheimb
Sampt der Bestia Bethlehem
Also auch
Graff von Thurn vnd sein Anhang
35 In gefahr solin werden bang
Auff Erden,
Dieweil sie verführt viel Land vnd Leut
Geschmählert mit jhrem Meyneid streit
Ynser täglich Brod,
40 In Böhmische, Hunger vnd Mehrenland
Für jhr begehren gar ohne schand
Gib vns heute,
Die wir aus zwang jtzt verlassen müssen
Lass vns Herr nicht aus vngnad gemessen
45 Vnd vergieb vns,
Da man vns verführt vnd betrogen
Wir bekennen, es ist vnerlogen
Vnser schuld,
Die wir Eyd vnd Pflicht haben gethan
93 vnd fehlt Hs. — 23 auch fehlt Hs. — erreten Hs. —
25 ff. vgl. V n f. Wann du sie alle liessest schlagen , So wurd die
gantze Bawrschafft sagen Dein Wille geschehe. — 25 Der Bayr-
first . . auf Hs. — 26 all Hs. — 27 will geschech Hs. — 28 guete
peut Ha. — 29 Beneben grosse .... freudt Hs. — si Ent-
gegen konig in Beham Hs. — 32 sampt dem Bestia Bet-
lehem Hs. Darnach möchte das Reimpar wohl lauten: 'Behem: Beth-
lem', gemeint ist natürlich Bethlen Gabor. — 34 Graf Hs. — 35 sollen
Hs. — 36 Auf Hs. — 37 verfiehrt vil Hs. — 38 Geschmelert mit Irem
menayd Hs. — 40 Gans Behem Hungarn vnd Mahrenland Hs. — 41 Für
Soltau Was Hs. — ir begeren Hs. Für beide Lesungen laset sich
manches anführen, doch scheint die Hs. mit ihrem 'was* (= war) rich-
tiger. — 43 ff . erinnert wenigstens an V. 27 f. : Wir haben gleichwol
dies alles verschuldt, Nimb vns Herr wieder auff zuhuldt Vnd vergib
vns. — 43 auss . . itzt . . . miessen Hs. — 44 nit mit Hs. — 46 Da]
Dann Hs. — verfiehrt Hs. — 47 Wir bekennen es nit unverborgen 2fe
— 49 ayd Hs. —
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 17
50 Werden empfahen jhren Lohn
Also auch wir,
Dann wegen des Meyneids vnd Vbermuth
Hat itzo mancher sein Haab vnd Gut
Vergeben,
55 Dem Heydelberger bracht es heimlich leid
Entgegen aber andern grosse frcwd
Vnsern Schuldigern,
0 Gott gib schier die Stund vnd Tag
Dass ich Pfaltzgraff zum Böhmischn Fuhrman sag:
so Vnd führ vns,
Pfui niwer König frech vnd stoltz
Dich lest Spinola jtzt in der Pfaltz
Nicht ein,
Wir Schlesier thun nach dir nicht fragen
65 Must gewisslich verzweiffein vnd verzagen
In Versuchung,
Ich Prag sag forthin, du Calvinist
Du hast vns verführt mit Lügn vnd List
Sondern erlöse vns,
70 Aber vnsern König Ferdinand gekrönt
Behüte Gott biss in sein End
Vor allem Vbel, Amen.
Jüngerer Typus. Er ist am weitesten verbreitet,
ich kenne nicht weniger als 15 Fassungen, welche vom
Jahre 1610 bis in unser Jahrhundert reichen. Im In-
halte berührt er sich mit dem Gespräche, das Bolte 'Der
Bauer im deutschen Liede' (Acta germanica 1, 3. Berlin,
1890 S. 41 — 46) nach einem fliegenden Blatte des 17. Jahr-
hunderts veröffentlicht. Am ähnlichsten sind "folgende
Stellen :
so empfangen Hb. — m Als Hb. — sa Denn Hb. menaydts Hb.
— 53 jtzo WeUer, fehlt Hb. — manicher Hb. — Guet Hb. Vgl.
V 35 Sie nemmen vnser Gut vnd Haab. — 55 Heidelberger Hb. —
laid H». — 56 fraid Hb. — 58 0 fehlt Hb. — gab Hb. — 59 das
Hb. — Beninischen furraann Hb. — 60 führe SoUau. — 61 niwer] neuer
Hb. nimer Druck. — 63 last Hb. — iezt Hb. — der] die Hb. — 63 nit
ein Hb. — 64 thnen Hb. — nit mehr fragen Hb. — 65 Mnest . . . ver-
zweiflen Hb. — 67 forthin] fahr hin Hb. — 68 verfiehret mit Ingen
2fr. — 69 Sonder Hb. — 7i Behüet got biss an sein endt Hb. — 73 Dar-
nach zwischen zwei Strichen 'Gedruckt zu Leyden, Im Jahr If . DC. XXI'.
Druck.
Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte V 2
18 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Soldat.
Wenn ich wieder ziehe in den Krieg,
Nehme ich frisch Gelt auff die Hand,
Zum Musterplatz ich mich verfug,
Reise durch Städte vnd Landt,
Sprech etwa einen Bawren an:
Glück zu, Vater, sprech ich alssdann,
Freundlich
Vmb ein Zehrung bitt ich dich,
Weil Frost vnd Hunger plaget mich
Schändtlich.
Bawer.
Ich sprech wol: Danck hab, guter Freund,
Bist aber willkommen nicht,
Dieweil dein Hertz viel anders meynt,
Als dein Mund zu mir spricht;
Geb' ich dir gleich ein Stück Brot
Oder ein Zehrung, das weis Gott
Gar wol,
So denck ich doch bey mir geschwindt:
Das der Teuffei das lose Gesind
Weg hol.
Soldat.
Rinder, Ochsen, Schafe, Pferde vnd Küh,
Die nehme ich vnd verkaufte sie
Für mich . . .
Frag nichts darnach; wenn ich bin satt,
Aissdan ich mich vmbschawe,
Ob der Bawer glatte Töchter hat
Oder eine schöne Frawe,
Die sprech ich vmb ein Nachtlager an:
WH sie nicht, so muss sie dran
Endlich,
Das thut dir Bawr im Hertzen weh,
Wenn man dir bricht deine Ehe
Schändlich
Verzeichniss der Drucke, chronologisch ge-
ordnet:
L. 'Das Bauern Vatter vnser wider die mutwilligen |
oder vnbillichen Landsknecht'. Darunter ein Bild in Holz-
schnitt, drei Scenen darstellend, die aus drei verschiedenen
Holzstöcken zusammengesetzt sind. Am Schlüsse die An-
gabe: 'Im 1610. Jahr9. Ein Blatt in Folio, erhalten in der
Strassburger Landes- und Universitätsbibliothek, in der
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 19
Sammlung Heitz als Nr. 4993; eine eigenhändige Abschrift
danke ich der Liebenswürdigkeit Ernst Martins. Es ist
der älteste, bisher unbekannte Druck des jüngeren Typus.
El. 'Das Vaterunser so im Elsäss anno 1610 ist gebetet
worden von den Bauern', handschriftlich erhalten im Strass-
burger Stadtarchiv, mitgetheilt von Alcuin Holländer im
Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Litteratur Elsass-
Lothringens, herausgegeben von dem historisch-litterarischen
Zweigverein des Yogesen-Clubs. Strassburg 1889. 5. Jahr-
gang, S. 112 — 114. Es ist mit folgender Einleitung ver-
sehen, welche sich auf die beiden Erben, den Kurfürsten
Johann Sigismund von Brandenburg und den Pfalzgrafen
Wolfgang Wilhelm von Neuburg, sowie auf Leopold, den
Administrator des Bisthums Strassburg bezieht:
Der beeden Fürsten Volk in das Elsass ist kommen,
Was die Leopoltschen verlassen, das haben sie genommen
Und gebeeten, wie zu sehen an diesem Vaterunser
Haben. doch nit viel darmit ussgericht etwas besonder. —
V. 'Der Soldaten | VATTER | VNSER. | [Stock] | Ge-
truckt | Im Jahr 1621'. Aus Heyses Bibliothek in der Ber-
liner Kgl. Bibliothek Yh 9731, mit folgender Notiz Heyses
versehen : 'Nach einer Handschrift sehr fehlerhaft abgedruckt
bei Soltau: Histor. Volkslieder. Vorrede S. LXXVI. Dieser
Druck enthält den echten Text'. Es ist ein Quartheft von
2 Blättern, der Text beginnt 1 *, die weiteren Seiten tragen
die Bezeichnung 2 und 3 und die Norm Aij. Für freund-
liche Zusendung dieses Druckes sowie einer Reihe der
weiter benutzten Werke bin ich der Egl. Bibliothek in
Berlin zu grösstem Danke verpflichtet.3) Erwähnt ist dieser
Druck bei Weller a. a. O. S. XXVI.
*) Ausserdem danke ich den Bibliotheken in Wien und Lemberg,
ferner für Abschriften besonders Ernst Martin und Ludwig Geiger;
freundliche Hilfe boten meiner Arbeit die HH. Dr. Ed. Bodemann-
Hannover, Reinhold Köhler, Gustav Roethe, Anton E. Schönbach, Max
Freiherr von Waldberg. Durch weitere Nachweise von Vaterunser-
parodien würden mich die Fachgenossen ausserordentlich verbinden.
Vielleicht werden meine Zusammenstellungen auch anregen, der Frage
nachzugehen, welche ich ganz ausser Acht lassen musste, ob diese Pa-
rodien deutschen oder fremden Ursprungs sind. Erat nach Abschluss
der Arbeit machte mir Reinhold Köhler Francesco Novatis 'Studi cri-
2*
20 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
W. 'Der Werderischen Pawren gebet oder Vater vnser
wieder die Soldaten oder Conföderanten\ Es hat sich er-
halten in einer handschriftlichen Gedichtsammlung des
Danziger Schreibers Michael Hancke, welche zwischen 1629
und 1640 aufgezeichnet wurde, gedruckt von Theodor Hirsch,
'Literarische und künstlerische Bestrebungen in Danzig
während der Jahre 1630—1640' in Neue Preussische Pro-
vinzial-Blätter. Königsberg 1849 7,215-217, vgl. S. 55 f.
und Goedeke 32, 27. Es bezieht sich auf den schwedisch-
polnischen Krieg 1626-1629 (vgl. Hirsch S. 56).
B. 'Der Soldaten Vatter vnserr' aus der handschrift-
lichen Braunschweigischen Chronik des 17. Jahrhunderts
im Besitze Leysers gedruckt bei Soltau a. a. O. S. LXXYI f.
A. 'Algemeiner Bauren Vatter Vnser Wieder die Vn-
barmhertzigen Sollthaten'. Darunter ein feinerer Holz-
schnitt, eine Plünderungsscene , Soldaten in spanischer
Tracht, darstellend (vgl. S). Ein Folioblatt in dreispaltigem
Drucke, erhalten in der Strassburger Landes- und Univer-
sitätsbibliothek, Sammlung Heitz 4981, Angabe des Jahres
fehlt, auf dem Einband steht die Jahreszahl 1622. Auch
hiervon schickte mir Ernst Martin eine eigenhändige Ab-
schrift. Der Titel stimmt mit der Angabe Wellers a. a. 0.
S. XL VIII bis auf das erste Wort, das im Ulmer Exemplar
'Algemeines' lautet, auch steht hier ein Kupfer, kein Holz-
schnitt. Mit dem folgenden ist daher A nicht identisch,
obwohl es ihm ausserordentlich nahesteht. Da Weller aus-
drücklich bemerkt, diese Fassung sei bei Scheible gedruckt,
und auch der von ihm mitgetheilte Anfang mit S stimmt
bis auf die Orthographie, so müssen A und S auseinander-
gehalten werden. Übrigens halte ich A für jünger als S.
8. 'Allgemeines Bauren-Vater- Unser wider die unbarm-
herzigen Soldaten' gedruckt bei J. Scheible, Die Fliegenden
Blätter des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1850
S. 177—180, vgl. H. R. Hildebrand, Soltaus deutsche histo-
rische Volkslieder. Zweites Hundert. Leipzig 1856 S. XXI.
Joh. Bolte, Der Bauer im deutschen Liede, Acta Germa-
tici e letterari' (Turin 1889) zugänglich, worin S. 175—310 'La Paro-
dia sacra nelle letterature moderne* behandelt ist; darauf sei verwiesen.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 21
nica 1, 3. Berlin 1890 8. 122. Maltzahn, Deutscher Bücher-
schatz II Nr. 590, dieser setzt hinzu: 'Aus: W. Drugulins
Hist. Bilderatlas II Nr. 1197'. Weller a. a. O. 8. XL VIII
zeigt folgende Orthographie des Titels: 'Algemeines Bauren
Vatter Unser Wieder die Unbarmhertzige Sollthaten'. Vgl.
die Bemerkung zu A.
K. 'Das Vater Unser der Eöllnischen Bauern im
Schreckensjahr 1704'. Ohne Quellenangabe gedruckt in:
Taschenbuch für die vaterländische Geschichte. Heraus-
gegeben von Joseph Freiherrn von Hormayr. 1837, XXVI.
Jahrgang der gesammten und VIII. der neuen Folge.
Leipzig: G. Reimer 8. 9 ff., erwähnt bei Hildebrand a. a. O.
8. XXL Damit identisch
P. 'Vater unser der Cölnischen Bauern (vom Jahre
1704), aus Jahns Nachlass gedruckt bei Heinrich Pröhle,
Weltliche und geistliche Volkslieder und Volksschauspiele.
Zweite Ausgabe. Stuttgart 1863 8. 178—180, vgl. 8. 209,
erwähnt von Bolte a. a. O. 8. 122.
C. 'Der holsteinischen Bauern Vater -Vnser 1713'.
Aus M. 8. Nr. 177. 4° betitelt: 'Anecdota variorum inge-
niorum poemata' etc. der gräflich Ranzauischen Bibliothek
zu Breitenburg, vgl. Zeitschrift der Gesellschaft für Schles-
wig-Holstein -Lauenburgische Geschichte 7, 331 f. Eine
Abschrift schickte mir freundlichst Karl Kochendörffer in
Kiel.
R. 'Das Soldatenvaterunser' vom Jahre 1763 gedruckt
bei H. M. Richter, Österreichische Volksschriften und Volks-
lieder im siebenjährigen Kriege. Wien 1869 8. 165 ff.
H. 'Hannoversches Vater Unser' in Fliegenden Blät-
tern 'gegen den Schluss des vorigen Jahrhunderts9 gedruckt,
nur der Anfang mitgetheilt von Soltau a. a. O. S. LXXVII.
N. Vaterunser der Bauern vom Jahre 1813 auf den
gestürzten Bonaparte bei Scheible, Volkswitz 3, 121; vgl.
Hildebrand a. a. O. 8. XXI und L. Geiger, Münchner
Neueste Nachrichten 1890 Nr. 415 vom 11. September
(Feuilleton).
M. 'Das Bauern- Vaterunser9 gedruckt bei Ernst Meier,
Schwäbische Volkslieder mit ausgewählten Melodien. Berlin
1885 S. 181 f. Vgl. Bolte a. a. O. 8. 122.
22 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
G. 'Bauernvaterunser' gedruckt von Hugo Gaedcke,
Volkslieder aus Mecklenburg bei Robert Prutz' Deutsches
Museum. 5. Jahrgang 1855, Juli — December 8. 769 — 771,
erwähnt bei Bolte a. a. O. S. 1 32.
Die Vergleichung der einzelnen Texte lehrt uns, dass
weder L noch El, obwohl die ältesten Fassungen, irgend-
wie das Original sein können, ja zum Theil viel schlechtere
Lesarten bieten als mehrere jüngere Fassungen; vor allem
V scheint dem Originale am nächsten zu kommen, ich habe
darum V als Text drucken lassen; mit Rücksicht auf das
Yersmass und die anderen Fassungen möchte nur etwa zu
bessern sein: V. 15 'Ja, lieber Herr, wenn sie nur kundten',
so lesen El W B ü, während die anderen stark ändern;
V. 16 'Zuplündern sie sich understundten', das 'auch7 fehlt
in L El WB R; in V. 26 vielleicht: 'Und schneiden uns
vor dem Maul ab' statt 'vorm9 ; V. 27 muss gelesen werden
'Wir hab'n gleichwohl diss all's verschuldt', was V bietet,
ohne dabei die Elisionen anzudeuten, und dies gilt auch
noch von anderen Versen, die nicht erst besonders aufge-
führt zu werden brauchen, nur aus V können die verschie-
denen Lesarten von V. 27 erklärt werden; V. 30 habe ich
'wurdens' von V schon im Texte zu 'wurden' verbessert;
V. 34 ist vielleicht 'all's' einzusetzen und zu lesen: 'Müssen
wir alTs umbsonsten schier'; V. 37 lies 'd'Rösslein' ; Y. 40
'in d'Stuben'; V. 41 wohl zu lesen: 'Welch's uns dann
schmertzlich ins Hertz dringt'; Y. 42 lies 'manch1', sonst
hat V hier gewiss das Richtige bewahrt, denn dadurch, dass
der Bauer in seine Stube nicht hineingelassen wird, kommt
die darin mit dem Soldaten bleibende Frau in Versuchung,
man denke der Rede, welche dem Soldaten in dem oben
citirten Gespräche zugeschrieben wird; V. 43 lies wohl:
'solchs'; V. 44 'lange'; V. 46 'b'hüte'. Die Fassung V
scheint daher in allen Fällen mit Ausnahme von Y. 15 und
16 die richtige Lesart, wenn auch nicht überall die richtige
Schreibung zu überliefern, aber nach den Änderungen in
den anderen Fassungen möchte man fast vermuthen, dass
auch das Original die vollen Formen und nicht die Kürzun-
gen enthalten habe. Besondere Rücksicht müssen wir noch
auf die Yerse 23 — 26 nehmen, denn hier bieten nur V und
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstlicbe Zeitlyrik. 23
M gegenüber allen anderen folgenden Wortlaut der fünften
Bitte: 'gib uns heute unser tägliches Brod', was bekannt-
lieh der katholischen Übersetzung von 'panem nostrum quo-
tidianum da nobis hodie' entspricht, während die übrigen
Fassungen die Reihenfolge 'unser tägliches Brod gib uns
heute' übereinstimmend mit der protestantischen Über-
setzung wahren. Der Zusammenhang der einzelnen Vers-
paare ist in unserem Gedichte kein so fester, dass wir
daraus Schlüsse ziehen könnten; allerdings wäre es sinn-
gemässer, zuerst zu sagen, die Soldaten nähmen den Bauern
ihr Hab und Out, sogar das tägliche Brod, und daran die
Bitte um ihre Vernichtung zu schliessen. Andererseits
lässt sich aber auch der Zusammenhang von V M recht-
fertigen, denn das Vaterunser führt zuerst die Qualen der
Bauernschaft an (V. 1 — 16), erwähnt dann, wie glücklich
sie wäre, wenn alle Soldaten erschlagen und die Bauern
dieser Pein ledig würden, merkt hierauf an, sie könnten
im Himmel so wenig gelten als auf Erden und schliesst
daran die Bitte, dass die Soldaten noch heute erschlagen
würden, denn sie nähmen den Bauern Hab und Out, sogar
das tägliche Brod, freilich sind wir selbst Schuld daran,
aber vergieb uns, sonst treiben uns unsere Schulden ins
Elend. Für und wider lässt sich also gleich viel sagen und
es ist immerhin wahrscheinlicher, dass die durch VM ver-
tretene katholische Reihenfolge des Originales von den
übrigen Texten wegen des gewohnten protestantischen
Wortlautes geändert wurde, weil nur KPN auch den Schluss
des protestantischen Vaterunser : 'Denn dein ist das Reich
und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit Amen9 pa-
rodirt haben. Die ganze Frage würde wesentlich erleich-
tert, wenn wir eine Geschichte des Vaterunsertextes be-
sässen, die aber, soviel ich weiss, nicht existirt; Julius
Zacher soll eine solche vorbereitet haben, ohne zu einem
Abschlüsse gekommen zu sein. Die Zusammenstellungen
bei Johann Severin Vetter (Proben deutscher Volks-Mund-
arten. Leipzig 1816 S. 1—38) reichen nicht aus, von Jo-
hannes Geffckens Werk: Der Bilderoatechismus des fünf-
zehnten Jahrhunderts (Leipzig 1855) war mir nur der erste
Theil zugänglich, in welchem S. VHI ein weiterer Abschnitt
24 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
über das "Vater Unser angekündigt ist, diese Fortsetzung
muss aber unterblieben sein (vgl. Kayser).
Was nun weiter die Verwandtschaft der einzelnen Fas-
sungen betrifft, so zeigen vor allem N und M gemeinsame
Fehler; JV macht den Eindruck, als sei Anfang und Schluss
willkürlich ergänzt worden, weil sie nicht mehr im Gedacht-
niss hafteten; auch M ist unvollständig; neben anderem
beweist vor allem Y. 13 f. den Zusammenhang von JV und M.
Bis auf Kleinigkeiten in den Versen 10. 12. 17. 33.
36. 38. 44. 46 identisch sind K und P, ohne dass P bloss
Abschrift von K wäre ; mit N (M?) ist eine nähere Be-
rührung durch den Schluss gegeben; ich verweise für MKP
noch auf die Verse 2 und 9. Zu KP stellt sich aber auch
6r, was am besten daraus hervorgeht, dass V. 43 ff. die
Lesart von KP die Voraussetzung von G ist. Soweit sich
dies beurtheilen läset, stand H (vgl. V. t. 2 und 3) G
näher, so dass wir eine Gruppe KP— G(H) — N(M) fest-
stellen dürfen, die wir durch *K bezeichnen wollen ; zu ihr
muss auch C gehört haben. V. 29 f. vor allem beweist
nun, dass *K und El aus denselben Quellen geflossen sein
müssen, vgl. auch V. 28. Anderseits weist *K und SA
insofern auf eine gemeinsame Vorlage, als V. 31 willkürlich
ergänzt wird, was darauf hindeutet, dass dieser Vers gefehlt
habe und in der That sehen wir in BB diese Lücke noch
gewahrt; so gelangen wir zu einer Klasse *B, welche durch
den Ausfall des Verses 31 charakterisirt war; *B und El
rücken V. 4. 11. 19. 38 so aneinander, dass wir eine ge-
meinsame Vorlage Z gewinnen , die mit W aus derselben
Fassung Y stammen muss. Y und V vertreten uns das
verlorene Original X. Wir erhalten also folgenden Stamm-
baum, dem ich noch eine Bemerkung vorausschicke.
Die Kreuzung bei *K fallt um so weniger auf, als wir
nicht bloss schriftliche, sondern auch mündliche Fort-
pflanzung anzunehmen haben, freilich beide nebeneinander,
denn der Ausfall von V. 31 ist nur durch das Abirren des
Auges von dem 'treiben' in V. 30 zu dem im V. 31 zu er-
klären. Merkwürdig bleibt nur die Ähnlichkeit von El und
8 (EMG) im ersten Verse, die mit dem übrigen nicht
stimmt.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 25
X
W L
Text. Ich bringe im folgenden V zum Abdruck, was
Orthographie und Sprachformen betrifft, weil es unmöglich
ist, ein genaueres Bild des Originals zu gewinnen; unter
dem Texte stehen die Lesarten der übrigen Fassungen,
wobei naturlich rein graphisches ausgeschlossen wurde,
deshalb gebe ich auch die Unterschiede von A und S nur
an, wenn sie in Wortformen bestehen, die dialektisch
wichtig sind.
Bauern-Vater-Unser.
Wann der Soldat zum Bawrn geht ein,
Grflsst er jn mit freundlichem Schein. Vatter
Titel. Die Ausgaben schwanken zwischen der Bezeichnung
'Bauern1- und 'Soldaten- Vaterunser1 ; jene Form steht in LEI WA8KP
CNMG, diese in VBRt H ist unbestimmt; thatsächlich haben wir es
aber mit einem Vaterunser der Bauern gegen die Soldaten zu thun
und darum muss diese Bezeichnung gewählt werden. Das Nähere
über den Titel sehe man im Verzeichnis der Drucke.
1-19 in N völlig abweichend; 'Vater unser, der Du bist im
Himmel, Befrei uns von dem Kriegsgetümmel, Und von der Tyrannei
Gezücht, Auf dass ihr Unternehmen nicht Geheiliget werde, Und
dass nicht Frankreichs frecher Same Bei uns mehr gelte als Dein
Name1. — 1 = LEIVWBCB nur mit folgenden Abweichungen:
Wenn LEIBE — der Soldat] Moskowiter C — geht zum Baur L —
Pawer W Bauren D Bauern EIB — geht] tritt W kehret BR
kehren C ist gangen El — ein] hein El am ähnlichsten der Lesart
26 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Denckt jhm darneben zu jeder frist,
Bawr was du hast das alles ist Vnser,
s Dessgleichen denckt jhine der Bawr,
Der Teuffei holle dich du Laur, Der du bist
Sey gewiss dass dich noch straffen wirdt,
Der Herr der oben auff regiert Im Himmel, .
Ich glaub nit dass man einen findt,
10 Der auss disem verfluchten Gsindt Geheiliget werde
von & — Die anderen Fassungen lesen : 0 Gott der Soldat kam nachten
[Necht A] heim SA Wo nur der Franzmann kehret ein KP Der
Soldat tritt ins Haus hinein H Sobald der Soldat kommt herein M
Der Franzos, der tritt ins Haus hinein G — 2 Ganz abweichend El:
'So hat er ihn mit unfreundlichen Worten gegrüsset fein : Vater*. Da-
mit steht es ganz allein. — Grüsset BR So grüsst WKPM So sagen C —
er] fehlt SA sie C — ihn] mich SA uns KPM fehlt C — für diese
Worte stehen: Und spricht zum Bauern H Und spricht zum Haus-
wirth G — mit] fehlt SA aus CHG im M — freundlichem] falschem
WKPCHG falschlich SA fehlt M — Schein] also im Schein SA
Friedensschein M — Vater unser 3f . — 3 f . fehlen M% lauten in HG :
Alles was [was nun G] vormals war dein, Das soll nunmehro jetzo [und
muss nunmehr Cf\ sein — s Denckt] Danckt W Danket El Bit Bald
aber heissts C — jhm] fehlt C — darnebn L fehlt C — zur C —
jeder] dieser El aller WBR selben C — Man höret bald zur selben
Frist KP Sagt er, gieb raus du loser Christ, SA — 4 Dein Hab* und
Gut und Alles ist unser! C — Bawr] Spricht, Pawer, W Mein Vater,
KP denn 8 dan A — das alles] das WKP alles EIBR dasselbig SA —
b f. Dessen [Desn A] ich erschrak, kratzt mich im Helm, dacht heim-
lich bei mir, o du Schelm, Der du bist SA Der Bauer dachte bei sich
schlecht: Du Schelm warst mir eben recht Der du bist G. Wir Bauern
denken uns im Friedenssinn: Der Teufel hol* diess Gesind dahin der
du bist M — b Dessgleichen] Hirgegen El Dargegen L WKPR Darauf
so C — dencket L danckt W danket EIBR spricht KP — jhm L ihm
El WBR fehlt KPC — der arme C — 6 Führt dich der Teuffei her
CL — holle dich] hol' dich C führ dich hin El führt dich her W
füret dich her B führet dich her 22 — du] loser C — Laur] Baur K
Bau'r C — 7 f. Das Fluchen ist ihnen angeborn, Kein Heiliger bleibt
ungeschorn im Himmel M. Wir arme Bauern leiden Noth Und klagen
es dem lieben Gott im Himmel G — 7 Die Strafe Dich gewisslich rührt,
C Bat ihn, und sagt, lass mich in [mit A] Fried, SA — Sey] Seye El
Sagt W fehlt KP — gewiss L — dass] dass der El es KP — dich
noch] dich Gott L fehlt KP — straffen wirdt] wird noch treffen dich
KP — 8 So lange noch ein Gott regiert C Sonst wird dich strafen,
der regiert: SA Der Herr ist über Dich und mich KP — oben auff]
alle Ding C — aufstehen wird W — 9 f. Er sprach, daran tfau
ich mich nicht kehren [kehrn A], bring mir Wein, dass der Tag
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 27
Es lebt kein Volck auff diser Erdt,
Durch welches mehr gelöster! wert Dein Nam
Jhr maiste Wort seyn jedes mals,
Was der Bawr hat dasselbig als Zukomme vns
15 Ja lieher Herr wann sie kundten,
Zuplündern sie sich auch vnd erstund ten Dein Reich
Wann du sie alle liessest erschlagen,
So wurd die gantze Bawrschafft sagen Dein Wille ge-
- . schehe
mit Ehren [Ehrn] Geheiliget werde A4 — 9 Ich zweifle, dass C
Man zweifelt ob G — nit] fehlt LWBKPCBMG — einen] kaum
einen WBB selten einen L keinen KPM — 10 aus«] nss El
unter KPCMG — verfluchten Gsind] wilden Gesind L gotlosen
Gesind W losen KP Laster-Gesind M Volksgesind' C Kriegsgesind' G
— geheiligt LKC — n f. Oder beim tausend Sackerment [Sackvolendt
A], wirst du 's [Würstüs A] nicht thun, so wird geschändt Dein Name
[Nam A] SA — n Ach Gott, es lebt kein Volk auf Erd 0 Ach Gott,
kein Volk lebt auff der Erd L Ach Gott es lebt kein Volk auf erden
W Ach Godt kein Volk lebet [lebt EI\ auf dieser erden [Erd B uf
Erd El] EIBB Ach Gott, das ist des Teufels Thier KP — lebt] ist
M — 12 Von welchem El Wodurch G — welchen BB — mehr] noch
mehr G so M fehlt KP — wird gelästert schier [hier P] KP — werde
WBR wird G — Name EIWBSKPCBNMG — 13 Auch sagt das
Lästermaul vielmal, SA Sie drücken uns mit grosser Last C Sie thun
uns grossen Überlast KP Sie quälen ohne Ruh und Rast NM Sie
rauben unser Ruh und Rast G — meiste« L WR meisten B neonates
El — seyn] ist LEIWBB — jedesmol El — mahl WBB — m Bauer,
was du hast, dasselbig all: SA Und sprechen [sagen KP]: Alles was
Du hast CKP Und schreien: Bauer, was du hast NM Und machen,
dass sehr grosse Last G — hat] fehlt B — dasselbige El dasselbe BB
fehlt W — alle L all B alle B vberal W soll El — Zu komm uns
SA Zu uns komme GN es komme zu uns M — 15 0 Herr, wo du sie
nicht wirst hindern G Ach Gott, wenns stund in ihrer Macht, KP
Sie würden, könnt es nur geschehn C Könnten [Konten Ä] sie dich,
Gott, bekommen SA Sie rauben, plündern immerdar NM — vnd
wenn L — sie] sie nur MWBB — künten L — 16 Zu plündern wären
sie bedacht KP Zu plündern würden sie nicht [würten nicht sie A]
schonen SA So werden sie doch endlich plündern G Und wenn sie
könnten [können N] auch sogar NM — sie sich] gar sich C sich WBB
- auch] fehlt LEIWBCB — unterstünden L unterstehn C — n Willst
du sie tödten nah und fern 0— Wenn] So El WBB 0 wenn [wan A]
SA Herr wenn NM Ach G — du sie] würden sie G — alle liessest]
alle werdest El wirst alle W wurdest B würdest R wollst all N
thetst alle L thätst all M nur thätst S nur detz A doch G — er-
8chlagn L erslagen B erschlan A todtschlagen G schlägst [schlügst
P] mit Todesqual KP — 18 So spricht der Bauer herzlich gern C Wir
28 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Wann wir ledig weren diser Pein,
20 So wurden wir arme Bawrn seyn Wie im Himmel
Ich waiss nit wo das Gsind hinghört,
Im Himmel zuseyn, seyn sies nit werth, also auch auff
Erden.
Dass wir sie alle in diser Nacht,
Erschlagen mögen mit gantzer Macht Gib vns Heut.
25 Sie nemmen vnser Gut vnd Haab,
Vnd schneiden vns vorm Maul ab Vnser täglich
Brodt.
Bauern wollten gern all sagen [Alle san A] SA Wir Bauern würden
[thäten M] mit Freuden sagen NM So wollen wir mit Freuden sagen G
Wir wollten sagen all zumal KP — So] So, so El — würde WR
wurde B würd LEI — die] der El — gantze] gemeine L Arme W
fehlt El — Bawrschafft] Bawersafft V Burgerschafft B Bürgerschaft 22
Bauer dan El — sagn L — Will 8 — gesehen L — 19 f. Denn
wenn man nichts von ihnen hört1, So lebten wir auf dieser [hier
auf der M] Erd' NM — 19 Dann wolln wir armen Bäuerlein SA
— Wenn BKPCRG — wir] sie W fehlt C — ledig] nur los L
los wir C los KPG frey W queit B quitt EIB — weren] wem L
würden EIC — diesen Feind G — 30 Wir armen Bauern wollten seyn
KP Wir armen Leute würden sein C bei meiner Seel [Senile A] so
froh seyn SA — wurden] worden W weren B wären R wolte L wollen
G würd El — wir] die W den El — armen LEIWBR voller G —
Bawrn] Bauern L Freuden G — seyn] fein BR — 21 Es wird dies
Volk von uns ernährt KP Oder jags [sags A] zum Teufel unter [vndr
A] die Erd SA — Wer weiss CG — wo] wohin G wem JVJIf — dies*
LCNMG — Volk CNMG — hingehört C gehört NMG hinfert B hin-
fährt R — 22 Es [Und KP] ist ja [doch KP] nichts im Himmel werth
CKP — zuseyn] fehlt LBRNMG — seyn] sind LEIWSARNM wer-
den G — sies] sie LWBSARNMG — nit] nicht viel BR gar nichts NM
gar L — werth] unwerth L geehrt G — auch] fehlt G — uf El —
23 f. steht hinter ss f. in allen mit Ausnahme von V und M, das
aber im Wortlaut stark abweicht; in der katholischen Kirche ist be-
kanntlich nur die Reihenfolge üblich, welche der Text bietet; vgl.
übrigens die Einleitung. — • N zeigt von da an keine Ähnlichkeit mehr,
ich theile diese Fassung daher als Anhang mit und setze nur die we-
nigen Anklänge hierher. Auch M geht von hier seine eigenen Wege,
bricht überdies bald ab, so dass es gleichfalls in den Anhang verwiesen
werden muss. — 23 f. 0, dass man ihre ganze Macht Vertilgen mög'
in einer Nacht gieb uns heute! C Schreien uns nach: Vater, Vater
[fahter A], lang uns heraus Strumpf, Schuh, oder: Gieb uns heut SA
Sie sagen : Bauer, schaff uns frei Fressen und Saufen gleich dabei gib
uns heute G — 23 wir] man KP — sie] fehlt El — all LBKP —
diser] einer L — 24 Mugen erslagen B Mögen erschlagen R Möchten
erschlagn L Todtschlagen möcht' KP — möchten El — gantzer]
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 29
Wir haben gleichwol diss alles verschuldt,
Nimb vns Herr wider auff zuhuldt Vnd vergib vns
Wann dise Leuth lang bey vns bleiben,
ao So wurden vns ins Eilend treiben Vnsere Schuld
Sie thun so grossen Mutwillen treiben,
Vnd wollen ligen bey vnsern Weibern Als wir.
Was nur ansehen die Augen jr,
Müssen wir vmb sonsten schier Vergeben.
grosser BR unserer El — 2s Weil die Mausköpf stehlen [stein A] all
Gut und Hab SA — nemmen] rauben CG — vnser] uns El — Gut
vnd Haab] Fleisch und Speck C [vgl. V. 4] — 26 schneiden] stehlen O
fressen C — unserm G — vor dem EIBSAR für dem L vom KP für
das W fehlt G — Maule CKP Munde SAG — ab] weg C. — 27 f .
Thun wir's dann nicht, sind wir geschlagen [geschlan A\, zu uns Bau-
ren [Baum A] sie höhnisch sagen: Vergieb uns SA Und wenn sie
auch uns Bauern schlagen, So wird zu ihnen keiner sagen: vergib
uns! M [Doch was frommt das Klagen? Lasst uns nicht mehr nach-
giebig sagen: Vergib uns! N] Ach Herr, wenn wir in diesem Jahr Dir
bringen keine Gaben dar, Vergib uns G — 27 Diess [Das KP] alles haben
wir WKP — diess gleichwol alle BR das gleichwohl El solchs gleich-
wol L wol W zwar den Zorn — vorschuld t W Verschulden El ver-
dient C — 28 Sei du uns aber nun versühnt und vergieb uns, C —
Doch nimb [nimm KP] EIKP - 0 Herr W fehlt EIKP wieder] fehlt
W — zuhuldt] zu Hulden El mit Huld L in Huld KP in geduldt W
— vorgib W — 29 f. Dan diser Leut wir nit thun lachen Sintemahl sie
nur tbun grösser machen unser Schulden El Ach, ach, der hochbetrübten
Zeit! Sie machen grösser weit und breit unsre Schuld! KP Denn lasst
uns diese Noth nicht los, So werden endlich gar zu gross unsere Schul-
den. C Sie bringen uns von Gut und Ehr1, Dass wir nicht können be-
zahlen mehr unsere Schuld G — 29 Wann] Ja wan A Ja, wenn S Wo
BR Solten W — dise] die LW das SA — Leuth] Leute WBB Gsind
S Gesindt A — bey uns lange bleiben W sollt lang bleiben SA hie
bleibn mit List L — 30 Treibns vns gar ins Elend, solchs ist Vnser
Schuld L — So] fehlt SA — wurdens V würden W werden BB würt
A wird S — uns noch SA — ins] in ABB — elende W — Vnser A
Unsre S fehlt BB - Schulde W fehlt BB — si fehlt BB - Auch
ist doch wahrlich gar [Je A] nicht fein SA Ganz listig wissen sie zu
spassen, G Solch1 Volk hat man gesehen nie: KP Sie schänden unsre
Töchter sehr C — Auch thun sie El Täglich sie W — so] fehlt LEIW
— Mutwill El — treibn L — 32 Wollen slaffen bey vnsern tochtern
vnd weibern BB Wolln schlaffh bey vnsre Kind, Gsind vnd Weibn, L
sie bschlafen unsre Weiber [bschlaffn vnsr weibr A] und Töchterlein
SA Wenn sie bei unsern Weibern schlafen G Bei unsern Weibern
liegen sie KP Und brauchen unsre Weiber mehr C undt wollen doch
im Lande bleiben W — als auch wir LEIBKPB gleich wie wir W
— 33 f. Wann nur ein Henn die Augen jhr Sehn, habn sies, müssn also
30 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
35 Niemand bleibt nichts darumb auch wir,
Müssen bezahlen die Schulden jr Unsern Schul-
digern.
Keiner kan brauchen die Rösslein sein,
Ohn vnderlass Sprechens, Bawr spann ein Vnd fähre vns
Im flauss ist alle Tag vil prassen,
40 Gar oflft sie vns in die Stuben lassen nit ein.
vmb sonst schier Vergeben L Man weiss nicht mehr, wo Herr und
Knecht, Im Hause muss der Wirth sein Recht vergeben. C Und dazu
sollen wir mit Schmerzen Noch schweigen und mit gutem Herzen ver-
geben G Das g'heit uns Bauren [Baum A], macht so toll, wann wir
den Teufelsköpfen solches [teufelsköpn solche A] solln: Vergeben SA
— 33 Und was sie nur anfangen schier [hier P] KP — nun W —
sehen El — 34 Das Alles müssen ihnen wir KP — alles vmbsonst
schier EIWBE — vorgeben W — 35 f. Müssn oft jhr Schuld zahln,
danckn uns nit, Da wir vor gnug zu thun hattn mit Vnsern Schul-
digern, L Sie fordern Geld, sie fordern Vieh Und keinen Heller lassen
sie unsern Schuldnern C Sie trachten stets uns nach das Leben Und
da wir sonst auch wol vergeben unsern Schuldigern G — 35 Noch
wollten wir gern alles [als A] dulden SA Dies macht uns grosse Un-
geduld KP — nichts] fehlt BB — drumb W — auch] fehlt El — 36 Wir
müssen zahlen ihre Schuld unsern Schuldigern KP Wenn [wan A] wir
nicht zahlen dürften [zahln dorft A] ihr Schulden : Unsren [Vnsern A]
Schuldigern SA — schulde B schuldt W — vnseren BB ihren K —
37 Kein Pferd ist, das man brauchen kann, C — Keiner] Kein Mann
KP Niemande W Niemandt BB Wenn man G Sie SA — kau]
fehlt SAKPG — brauchen] nützen L fehlt KPG — d. R. sein] unser
Ros8 ingemein SA sein Pferd mehr brauchen kann KP kein Pferd
noch haben kann G — Bosse EIW — sein] fein B — ss Ohn vnder-
lass] fehlt SAKPCG — Sprechens] sagen alle [all A] Tage AS Schrein
sie G heiste LW heisst es EIBE Es heisset KP Es heisst nur C —
Bawr] Cujod, G — spanne W spann eilend KP geschwind spann C
spann Ochsen G — ein] an KPCG — führ 8 AK. — 39-4 1 Bhausn wirs,
thun jhn schon gute durchauss, Dörffns wol vns selbst in vnserm
Hauss Nicht in Die Stubn lassn, welchs durchs Hertz schmirtzt hin, L
— 39 f. Sie jagen uns zur Thür hinaus Und uns gehört jetzund das
Haus nicht C Fragen wir nach dem Lohn gleichfalls, sagen [san A]
sie, Du ßollt haben [habn A] so viel als: Nicht SA Das macht sie
sind im Lande eben Und schonen unsrer Leute Leben nicht G [vgl.
'Darum verachten sie uns eben, Dass gleichsam so Wie wir ver-
geben* N], — 39 Sie prassen stets bey vollem Schmaus KP — In
dem BB — hause WBB — alle Tag] täglich W - aller El — Tage
B — vil] gut El — Prassen] frassen W — 40 Und lassen uns in un-
serm Haus KP — Das sie vns W — sie vns] uns selber El — die]
der BB — wollen lassen W — ein] fehlt in allen ausser VL und El
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 31
Welches vns dann schmertzlich ins Herze
tringt,
Vnd manche ehrliche Fraw offl bringt In Versuchung.
Doch alle die solche Laster treiben,
Lass Herr nit lang bey vns bleiben Sondern erlöse
vns
45 Die frommen aber spar gesundt,
Vnd behüte sie zu aller Stundt Vor allem vbel.
Amen.
In SA folgt:
welche letzteren aber 'in' lesen. — 41 f. Weiber und Töchter die unser
sein, Die ftthrn sie tagtäglich ein in Versuchung G Wenn dieses währte
Tag und Jahr, So fiel ein armer Bau'r gar in Versuchung C —
41 Solchr Zwannck vnd trang ins hertz tring A Solcher Zwang und
Drang uns kränkt 8 Das kränket, wenn man denket d'ran KP — Weli-
ches B — vns] fehlt WBR - dann] denn BB fehlt El — ins Hertze
tringt] ins hercz eindringt W eindringet [ins hertze fehlt] BB ins Herz
thut dringen El — 43 Und manchen Bauern oft thut bringen Ver-
suchung [!] El Auch manchen armen Manne bringt in Versuchung W
Und uns arme [arm A] Leut endlich noch bringt [bring A] in V. SA
Und bringt den armen Bauersmann in V. KP — mannigen B man-
chen LR — ehrlichen LBB — Mann LBB — bringt in [: hin] L —
Versuchung W — 43 f. Drum bitten wir dich, lieber Gott, straf uns nicht
lang mit dieser Noth [Roht A]: Sondern erlöse uns SA Ach Gott, lass
sie bei uns nicht lang, Die '.Schelmen thun uns angst und bang,
sondern erlöse uns KP Drum gieb, o Herr, nicht länger zu, Dass uns
dies Volk solch Herzleid thu, sondern erlöse uns, C — 43 Doch]
Auch EIBR Ach L fehlt W Dieweil G — alle die] all die L sie
G — solche Laster] solchen Mutwilln L solch böss Thun El sol-
ches böses WBP sonst gross Übel G — treibn L — u Lass] Lass
jo L Die lass EIBR So lass sie G — nit] fehlt El — Herr] Herr
Gott El fehlt G — lang] lange WBR mehr G fehlt El — nit bleiben
El — bleibn L — sondern] sond1 V fehlt G — erlöss L erlös' K —
vns] fehlt El — 45 f. Denn [Dan A] ihrer hat man kein Nutzen, sagen
wohl [woll Ä\, sie wolln uns schützen: Von allem Übel [Vbel A] SA
Gieb, dass der Plag ein Ende sei Und mach* uns armen Bauren frei
vom Übel C — 45 Erhalt1 uns arme Leut" gesund, KP Vielmehr gib,
dass wir arme Leut G — frommen Landsknecht all L froinen Bauern
El — aber] fehlt LEIW — spar] spare Got W vertane El — 4G Be-
frey' [Befreie P] uns zu aller Stund' KP Bald mögen werden ganz be-
freit G — Vnd] fehlt W — behüt El Erlöse W hilft" L — sie] jhn
vnd vns L — zu aller] alle L — vor] von LWSAKPRG ■— allem]
dem G — 47 Die Moscowiter sammt dem Czaren Lass sie zu allen
Teufeln fahren Amen! C — Amen] fehlt SAKPG
32 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Zu fressen, saufen, seind sie gut,
sagen: Hey, Baur sey wohlgemuth:
Solchen Hohn und Spott von ihn* wir hören,
so weil wir im Land all haben verloren:
Treiben uns aus mit Weib und Kind,
denn jetzund hat das los Gesind:
Hoff aber, Gott werd es schicken bald,
dass wir ihn1 nehmen mit Gewalt:
55 Und jagen sie aus'm Land zu Haus,
sonst bringt sie wohl kein Teufel naus:
Dann sprechen wir Bauren allsamen:
hinaus in aller Teufel Namen,
dass ihr müsst erkrummen und erlahmen.
Anders lautet der Schluss in KP:
Vom Himmel treff sie Donner und Blitz
Auf Erden der Kartaunen Hitz
Denn dein ist das
Reich.
Die Kraft.
Die Macht.
Die Herrlichkeit.
In Ewigkeit
Amen.
Zu tödten diese bösen Leut,
so Verleih uns Stärk1 und jederzeit
Lass ihnen seyen [sein P] zu ihrem Lohn
Der Höllen Schuld, des Teufels Lohn
[Hohn P]
Die sie verdient zu ihrer Qual,
Die gottlosen Schelmen allzumal
55 Nun kommt ihr Bauern überall
Und sprechet [sprecht P] mit mir in grossem
Schall
V. 23 ff. lauten in N:
Feig, ohne Treue, ohne Glauben,
Sind sie nur tapfer, wenn sie rauben
denn Dein ist das
Reich
die Kraft
die Herrlichkeit
in Ewigkeit
Amen.
Unser täg-
liches Brod;
35 So treiben sie's an allen Orten,
Ihr Deutsch besteht bloss in den Worten: Gib uns!
Drum war es uns die grösste Freude,
Wenn sie verstummten lieber Heute
Als morgen. Doch was frommt das Klagen?
ao Lasst uns nicht mehr nachgiebig sagen: Vergib uns!
Denn lassen wir sie stets so walten,
So ist's, wenn sie für dumm uns halten, Unsere Schuld.
Darum verachten sie uns eben,
4S hey] heun A — 49 Solche A — jhn A — hörn A — so han
verlorn A — 52 dan itzund A — 53 werd] wer A — 54 jhn A —
55 auam A — 56 woll A — 57 Baurn A
Werner, Das Vaterunser als gotfceßdienstliche Zeitlyrik. 33
Dass gleichsam so Wie wir vergeben
ss Uns unsre Ehre, unsern Ruhm,
Vergeben wir uns zum Eigen thum Unsern Schul-
digern.
Misstrauet künftig ihren Lögen
Und krähen sie von ihren Siegen,
So lasst es zwar dabei bewenden,
40 Doch sagt mit aufgehobenen Händen: Und führe uns
nicht in Ver-
suchung!
Lass, lieber Gott, von ihren Tücken,
Uns auch in Zukunft nicht berücken, Sondern er-
löse uns
Von Frankreichs und des Teufels Bund,
Von Bonaparte's Einfluss und Von dem Übel
4s Der allgemeinen Monarchie!
Der Deutschen Ehre welke nie, Denn dein ist
das Reich.
Vergebens floss viel Menschenblut
Doch nun ists aus, es fehlt der Muth Und die Kraft;
Der Franzmann läuft mit langer Nase.
50 Zerplatzt ist nun die schöne Blase Und die Herr-
lichkeit
Die Schande folgt In Ewigkeit. Amen.
In M folgen auf V. 22 in einer anderen Fassung nun-
mehr V. 23—30, das weitere fehlt.
Sie wollen gar nicht warten lang,
Sondern haben stündlich den Gesang: gib uns heut
95 Sie thun uns ganz erschrecklich plagen,
Dazu kommt noch das verfluchte Schlagen : unser täglich
Brod!
Und wenn sie auch uns Bauern schlagen,
So wird zu ihnen keiner sagen: vergib uns!
Wir können uns ja nicht erholen,
30 Wenn wir nebst dem noch zahlen sollen unsere Schuld.
Eine Gruppe für sich bilden drei Gedichte, welche
zwar an den jüngeren Typus noch in einzelnen Versen er-
innern, wie sie seine Methode der Parodie theilen, welche
jedoch selbständiger sind als selbst die am stärksten ab-
weichenden Fassungen des jüngeren Typus. Sie haben
nicht nur verschiedene Verspaare gemein, sondern auch den
Charakter, insofern sie nicht gegen einen Stand sondern
gegen eine Person gerichtet sind.
Ytatetyüinchrift Ar Utter&turgeschichte V 3
34 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
T. 'Das Torstensohnische Vatterunser', ein fliegendes
Blatt in Kleinfolio o. O. u. J. (1646) ist erhalten in der
Züricher Stadtbibliothek und gedruckt bei Weller a. a. O.
S. 263—264.
Ra. 'Das Ragozische Vatter vnser selzam', erhalten in
einer Handschrift der Münchner Hof- und Staatsbibliothek
(Cod. lat. 8564 Blatt 205) unter der Überschrift: 'Volgen
etliche Teutsche Sachen zulesen', erwähnt bei Novati 8. 236
Anm. 1. Ich danke eine wortgetreue Abschrift Franz Munckers
Freundlichkeit. Der Codex stammt aus dem Jahre 1658.
Mo. 'Bauern Vatter unsser, welcher für den Herrn Ge-
neral Ghraff Monte guckherl. genandt etc.9 Es findet sich
in einem Sammelbande, in welchem eine Hand des 17. Jahr-
hunderts auf einer Reihe von leeren Blättern nach der ge-
druckten Chronik Thurmaiers verschiedene Bemerkungen
zur Geschichte und Culturgeschichte nicht immer leicht
leserlich niedergeschrieben hat. Dem Gedicht unmittelbar
voran geht die Beschreibung einer Feuersbrunst in Achen
vom 2. Mai 1656 und eine Specification über die Feuers-
brunst vom 27. April 1662 zu Passau; nach einer Wendung
in dieser Specification, die aber nicht ganz klar ist, konnte
man annehmen, der Schreiber habe zu Passau im neuen
Markt gewohnt, wenn sich dieser Satz nicht etwa auf einen
Passauer Spitalschreiber bezieht. Den Sammelband besitzt
Se. Excellenz FML. Albin Reichsfreiherr von Teuffenbach
zu Tiefenbach und Masswegg in Salzburg, ich danke ihm
auch an dieser Stelle für die freundlich gestattete Be-
nutzung. Das Gedicht ist bisher, soviel ich sehe, unge-
druckt, wird wenigstens nirgendwo erwähnt; uns liegt na-
türlich nur eine Abschrift vor, wie schon die abgekürzte
Form des Titels beweist.
Die Grundlage von T, Ra und Mo herzustellen, hätte
keinen Sinn, weil es sich nicht ausmachen lässt, ob nicht
Ra und Mo aus T geflossen seien, d. b» nicht Handschrift
aus Handschrift, wohl aber Volkslied aus Volkslied. Auch
ist es nicht thunlioh, Ra und Mo etwa nur in den An-
merkungen zu T mitzutheilen, eben weil sie hier zum ersten
Male gedruckt erscheinen, wohl aber verweisen die Anmer-
kungen zu T auf die Ähnlichkeiten zwischen den Gedichten.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 35
T. 1646.
Mein Dorstensohn waist aber wass
Du kanst noch nit betten dass
Ich glaub nit das auff Erden jemahls,
Ein solcher Schalck gewesen als
5 Du stilst, und raubst, trachtest nur nach schätz,
Darumb wirst du haben gar kein platz
Du suchst nur Ruhm, und Eittel Ehr,
Fragst nit darnach ob Gott der Herr
Du hast verdient, darffs gut rund sagen,
io Das man soll an den Galgen schlagen
Vil guet und Gelt, so du bekommen,
Und uberal hinweggenommen
Ich zweifle nit, du loser gesöll,
Ess werdt dort sein die Ewig Höll
u Mein Torstensohn bildtss dir nit ein,
Dass alzeit soll geschehen und fein
Alss unheyl so du für und für,
Und hast vermaint, Gott gebe ess dir
Wolt Gott das auff der gantzen Erden,
so Kein Dorstensohn solt gefunden werden,
Wefl dann deiner niemandt begert,
So bist im Himmel gantz nichts werth
Was du mit Unrecht und Bösen sorgen
Unss gestohlen hast, Wart nit biss Morgen
35 Nimbst aHess hinweck, und führst darvon,
Ist doch nit dein, wessen ist ess dann.
Dorstensohn du milter Frass,
Du bist nit werdt, das du Frist das
Durch stellen, und rauben bist du Reich,
so Dass dirss der liebe Gott verzeich,
Du muest in der Hol werden, gerochen, •
Dan der Himmel ist lengst versprochen,
Der Teiffel wirdt dich dort einschliessen,
Wass giltss du wirst thür bezahlen müssen
35 Weil du der Kirchen nit underthenig,
Vatter Unser.
Der du bist.
Im Himmel.
Geheiliget werde.
Dein Nam.
Zukomme unss.
Dein Reich.
Dein Will.
Geschehe.
Gleich wie im
Himmel.
als auff Erden.
Gib uns heut.
Unser.
Täglich Brot.
Und vergib.
Unss.
Unser Schuld.
l f. = Ba l f. Mo l f . — s f. = Ba 3 f. Mo 3 f. — s f. = Ba
5 f . — 9 f. = Ba 9 f. Mo 9 f. — n f. = Ba n f. — is f. = Ba is f.
erinnert an Mo, vgl. die Anmerkung. — 15 f. = [Ba 15 f.] Mo 15 f. —
n f. = [Ba 17 f.] Mo 17. — is Und] lies : Uns. — 19 f. wenigstens der
Reim derselbe wie Mo 19 f. — 21 f. vgl. jüngerer Typus V. 21 f. 12a
»1 f. Mo 21 f. — 93 f. Sinn wie Ba 23 f. und Mo 93 f. — 95 f. =
Ba 25 f. — 97 f. ähnlich Ba 97 f. — 29 f. = Ba 29 f. Mo 97 f. —
33 f. = Ba 31 f. Mo 99 f. — 35 f. = Mo si f. vgl. Ba 83 f.
36 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
So wflrdt dir Gott deine Sflndt so wenig Als auch wir
vergeben.
Gib her was du uns gestolen hast,
Das wir bezalen den grosen last Unseren Schul-
digen.
Du sprichst, Soldat schon das Pferdt nit,
40 Was nit wil mit gehen, das Tribe mit Und führe.
0 Teuffei du fauler Huren Sohn,
Komb baldt holl nur den Torstensohn Uns nit
Weil Möhren gleichsamb soll sein dein Diern,
Darumb hast du auch wollen Prön einführn In Versuchung.
45 Aber sey trüllnt dich so sehr
Du schreist verlass uns nit 0 Herr Sonder erlöse unss.
Gott hört nit an dein falsche bitt,
Er wirt dich auch erlösen nit Vor allem Übel.
Dass du am Bodengran leidest grosse schmertzen
so Günnen wir dir von gantzen Hertzen Amen.
Das 'Ragozische Yatter vnser' schliesst sich genauer
an das Torstensohnsche an, als das gegen Montecuccoli ge-
richtete. Da T 44 der vergeblichen Belagerung Brunns
durch Torstensohn 1645, sowie T 49 seines Podagras ge-
denkt, das ihn 1646 zur Niederlegung des Commandos
nöthigte, gehört T etwa 12 Jahre vor Ra. Die Beziehun-
gen Torstensohns zu R&götzy I. könnten die Vermuthung
nahe legen, Ra beziehe sich auf diesen, wozu aber, wie
sich zeigen wird, die übrigen historischen Angaben gar
nicht stimmen.
Ra hat folgenden Wortlaut:
[1658]
Höre Fürest Ragozi, weiss du was,
du khanst villeicht nit betten das Vatter vnser,
wann ist in Polin' doch iemals
ein solcher tyrann gwesen als der du bist?
& Du stilst vnd raubst gar kirchen schaz
desswegen hastu ganz khain plaz im himmel,
Du hettest gern die Polinisch Gron
fragst nit ob Gott in seinem thron geheiligt werd
37 f. = Ra 35 f. — 89 f. vgl. jüngerer Typus V. 37 f. Mo 35 f.
ähnlich Ra 87 f. — 41 f. vgl. Ra 39 f. — 49 Torstenschon T. — 43 f.
vgl Ra 41 f., ea scheint in Mo 39 f. mit seinem Reim: 'dentiert: ver-
lort1 durchzuschimmern. — 46 f. vgl. Ra 43 f. — 47 f. = Ra 45 f. —
49 Bodengran] meint natürlich: Podagram. — 49 f. vgl. Ra 47 f.
Werner, Das Vateranger als gottesdienstliche Zeitlyrik. 37
Du hast verdient wil dirs Teutsch sagen
10 das an den galgen werd gesehlagen
Das gellt vnd guet so du in Polin
reichen vnd Armen hast ahgestolln
Dein lohn wird sein du wilder gsell
bei allen Teuflen in der höll
is Gedankhen dir nie khommen solln
das allzeit gschehen wird in Polin
Alles Vnglükh du grausames Thier
hast angericht. Gott geb, das es dir
Darfür muest du ins Sathansreich
90 dort gehets vil änderst her gleich
Zu Polin deiner niemand begert
im hirael bist noch vil weniger wert
Was du bluetwiettrich in ganz Polin
mit deinen dieben geraubt vnd gestolin
»5 Dann alles guet, so du führst hindan
das ist nit dein, wessen ist es dann
Du Land Verderber der du bist
durchaus nit wert, das du mer frisst
Mit armen schwais vnd bluet bist reich
so mainstu das dirs Gott verzeich
Wann dich der Teufel wird einschliessen
wird dein schietter Palg zalen müessen
Der wahren kirchen bist khain glid
so wird dir Gott dein sünd auch nit
dein name,
zuekhome vns.
dein reich.
dein will.
geschehe.
wie im himel.
also auch auf erden
gib vns heut.
vnser
täglichs Prot.
vnd vergeh.
vnsere schuld.
als auch wir ver-
geben.
vnseren schuldern.
u Gib her was du geraubet hast
so wird bezallt der grosse last
Still, morde, Raub, vnd greif brand an
Was nit gehen wil, das treib daruon Vnd führe
O Teufel du stinkhfauler gsell
40 den Ragozi führ zu dir in dhöll
Brennen ist vnter deinen officieren
du aber wirst nit alle verführen
Das blat wird sich wenden so sehr
schweig nur. Verlass mich nit o Herr, sonder erlöse vns.
4s Aber Gott erhört khain falsche bitt
drumb wird er dich auch erlösen nit, von allem übel
Ehe du haim kombst, wirst leiden schmerzen
holl dich der Teufel, ich vergun dirs von
herzen Amen.
vns nit
in Versuchung
3a schietter] Die Lesung ist zweifelhaft, man könnte anch
'schiebter' oder 'schielter* lesen. — 4i Brennen] dürfte für 'Bremen'
verlesen sein.
38 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Dieses Vaterunser verdammt den siebenbürgischen
Fürsten Georg Ragötzi, der im Jahre 1657 seinen Einfall
in Polen bewerkstelligte. Schon seinem Vater, dann aber
im Jahre 1654 ihm selbst war die polnische Krone ange-
tragen worden, wenn er den Polen zu Hilfe käme ; er liess
aber die Antwort 'in suspenso', wie sich Samuel Grondski
de Grondi in seiner Anno M DC LXXVI geschriebenen
Historia Belli Cosacco-polonici (hg. v. CarlKoppi 1789 S.238)
ausdrückt; auf diese gleichzeitige Quelle hat mich mein
College Semkowicz hingewiesen. Ragötzi hatte die Polen
lange hingezogen, Freundschaft geheuchelt, dann aber ein
Bündniss mit den Schweden und Kosaken geschlossen und
brach im Januar 1657 trotz den widrigsten Wetterverhält-
nissen von Szamos Uyvar gegen Lemberg auf (S. 361 ff.).
Grondski erzählt von den Verwüstungen (8. 406 ff.): (Pro-
grediendo quid actum sit, non est quod referam aliud, nisi
caedes, caedes, et continua incendia, quibus ardere visa est
tota Polonia!', von den Erpressungen (S. 414) der Kosaken,
so dass wir die Klagen des Vaterunser begreifen (man vgl.
noch S. 420). Das Vaterunser muss 1657 entstanden sein,
da in diesem Jahre der Krieg auch beendet wurde. Die
Aufzeichnung in der Münchner Handschrift ist also fast
gleichzeitig.
Das folgende Vaterunser richtet sich jedesfalls gegen
den berühmten Feldherrn und Kriegsschriftsteller Raimund
Grafen Montecuccoli, welcher 1609 geboren, 1664 General-
lieutenant wurde und 1680 starb. In seinem reichbewegten
Leben dürfte vor allem die Zeit nach dem Türkenkriege
vom Jahre 1663 für unser Gedicht in Betracht kommen.
Damals wurde zu Wien grosser Kriegsrath gehalten und
eine allgemeine Insurrection verfügt; gegen die Türken
operirt er mit Glück, schlägt sie in der Schlacht bei
St. Gotthard an der Raab 1664; es wird ein zwanzigjähriger
Waffenstillstand geschlossen, welcher aber den Türken vor-
teilhaft ist. Gegen Montecuccoli erhebt sich damals Op-
position. Wahrscheinlich also entstand in dieser Zeit das
Gedicht gegen ihn, denn V. 37 spielt auf die glücklich ab-
gewendete Türkennoth an, V. 2 läset sich als Andeutung
der Ungnade fassen. Dazu passt sehr gut, dass vor dem
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 39
Gedicht ein Ereigniss des Jahres 1662 erwähnt wird. Über
Montecuccoli vgl. Allgem. deutsche Biographie 22, 183 — 189
and wegen des Türkenkrieges vor allem den Aufsatz von
Rintelen in der Ostreiohischen militärischen Zeitschrift 1828,
besonders 3, 18. Da Montecuccoli fortwährend Schwierig-
keiten mit der Verpflegung hatte, waren Fouragirungen
nothwendig, veranlasste doch eine solche das Unglück, wel-
ches am 1 . August 1 664 in der Schlacht bei St. Gotthard
das Centrum der Reichstruppen traf (Rintelen a. a. 0.
3, 10). Es ist begreiflich, dass deshalb die gedrückten
Bauern ihrem Gefühle Luft machten. Ob freilich Monte-
cuccoli nach dem Frieden von Vasvär sich in Ofen aufhielt,
vermochte ich nicht festzustellen.
Mo. (1664?)
Bauern Vatter unsser, welcher für den Herrn General
Graff Monte guckherl. genandt etc.
Mein welscher guckherl. waist du was,
sytz nur zu Offen, vnd bett das Vatter vnsser,
Dan zu Theuschen khrieg niemals
So schlimber hundt gewesssen als .... der du bist,
s Du bringst vnss in Angst vnd in Nott,
das waiss der liebe högste Gott, Im hümel,
[2] Ess gehe wie es woll, bey dir gildts gleich,
du fragst nit ob das Römisch Reich . . geheylliget werdt,
Hast woll verdient, kann es woll sagen
10 das man soll an den galgen schlagen . dein Namen,
dan du sags selbs wolan Soldat,
diss alles woss der Bauer noh halt . . . Zukomb vnss,
Für dein Lohn auf diser Erdten
kan woll der wiener Berg noh werdten dein Reich,
15 Mein lieber guckherl bildt dir nit ein,
Titel: nach 'Monte* ist 'khu* gestrichen — 'Guckerl' ist ein Eu-
phemismus für Teufel, wie Kuckuck, vgl. das Grimmsche Wörterbuch ;
die Abkürzung des Namens hat also tiefere Bedeutung. — V. i Hs.
liest 'welcher' — lf. = Tif. — 3 f. = T 3 f. — 8 Theuschen] na-
türlich: deutschen — 6 dz Hs. und so immer — d' Hb. — i Hs.
schreibt immer 'h1 statt *ch' — 9 f. = T 9 f. — n f. muss mit dem
lungeren Typus V is f. verglichen werden, besonders mit NM — 13 f.
ist im Sinn T sehr ähnlich, denn auf dem Wiener Berg stand die
Teufelsmühle, so meint Mo wohl, was T sagt: 'Ich zweifle nit, du loser
Gesöll, Ess werdt dort sein die Ewig Höll Dein Reich'. - i»f. = T 15 f.
40 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
das alle Zeitt soll geschehen allain . . . dein will,
dass vnhaill, so du ver, vnd für,
vnss Theuschen vermaints gott geh das dir, geschehe,
So ein lossser Tropff. würdt hartt erfundten
werden
30 alss du bist erfundten wordten wie im himmel,
Weül dan deiner Niemand t begerth,
So bist Im Himmel gar nichts werdt, . . alss auch auf
Erdien
Dein Diebstall, mäht mir Angst vnd bang,
gib ales wflder, wardt nit lang gib vnss heindt her,
25 Ess hatt vnss woll der Teuffei beschüsssen,
Dass vnss vom Maull, host weg gerisssen, vnsser täglich brod,
Du würst mit laudter Diebstal reih,
Thun wür dür vnreht so ver zeih; . . . vnd vergib vnss,
[3] Ist aber wahr würdt dür nit erspriessen
30 wass gildts, du würss noh Theyer zallen
müessen . . . vnssern schulden
Weill du beraubst, so grosse menig,
so würdt dür gott, dein Sündt so wenig . alss wür vergeben
So vill diebstall hasst du gethan,
das man zu hülff nit kumben kan . . . vnssern schul-
digern,
s& khue, kölber, Ozssen verschonst du nit,
Soldatt, nimb du nur ales mit ...... vnd führe
dan der Türckh ist ietzt weidt von mihr,
Frisch auf Soldat, ietzt färbten wür . . . vnss nit
hast aber dein Tag nichts dentiert,
40 Sondern vnss nur bloss verfürt In Versuchung,
Darumb 0. Gott, dih zu vnss wendt,
lass vnss nit komben Inss gugerls hendt Sondern erlösse vnss
Dan Alle Bauern Zu fruern [?] tagen,
miessen Ja mit schmerzen sagen, .... von dem vbel,
45 Drumb wünschen wür Im vill glükh vnd heill,
Zu seinem Endt vill Strickh vnd Saiell, . Amen.
Noch bleibt ein Gedicht zu erwähnen, welches in der
Methode der Parodie mit dem jüngeren Typus überein-
stimmt, wie die eben besprochenen Vaterunser gegen eine
Person gerichtet, aber sonst ganz selbständig ist; an Stelle
n f. = T 17 f. — 19 f. erinnert wenigstens an T 19 f. — si f.
= Tn f. jüngerer Typus ai f. — 83 f. ahnlich 2*23 f. — 37 f. = T» f.
— 29 f. = T 33 f. — 31 f. = T 35 f. — 35 f. vgl. T 39 f. — 39 f. vgl. T
43 f. — 41 f. vgl. das Spanische Vaterunser V. 43 f. — 43 Sond' Hs. —
46 seine Hs.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 41
der Reimpaare treten vierteilige Strophen, im Wortlaut
findet sich kaum hie und da ein Anklang mehr. Es steht
in einer Handschrift der hiesigen Ossoliriskischen Bibliothek
Nr. 334 klein fol. Bl. 368*— 370b und schlechter überliefert
in der handschriftlichen Sammlung Michael Hanckes, ge-
druckt von Th. Hirsch 1849 in den Neuen Preuss. Provin-
zial-Blättern 7,212 — 215 vgl. oben W. Der mehrmals ge-
nannte Bigismund ist der Sohn Johanns II., welcher von
Carl IX. entthront worden war. Wie Hirsch S. 56 angiebt,
beziehen sich die von ihm veröffentlichten Lieder, darunter
das unsere, auf den schwedisch-polnischen Krieg 1626—1629,
ich erwähne in den Anmerkungen die Parallelen aus den
übrigen Liedern von Hanckes Sammlung; diese zeugen
zum grössten Theil für die grosse Begabung ihrer Ver-
fasser und verdienten bekannter zu sein, als ihre versteckte
Publication ermöglicht.
1.
Der Werderschen Pawern Vater Vnser
auff Gustauum Vermeinten König
in Schweden gerichtet.
Diesen Vater Vnser thuen beten
Die Pawern in Angst Vndt nöthen
Im Werther gross vndt Kleine
Sampt der betrognen Gemeine
s Von Gustaws Hände.
Auff das Sigismundus Komme
Der Gerechte Vnndt fromme
Vndt schlage diesen Bösewicht
Der Viel herzleid hatt angericht
10 In Preussen Lande.
Alss Gustauus erst in Preussen Kam
Lesarten tob W. Titel: *Der Werderischen Pawren Vaterrnser
vom Gustano'. — V. l Diesses — bitten — * 'Pauren' und do immer
— angsten — 8 Werder — klein — 4 Sampt] Mit — betrogenen Ge-
mein — s fehlt — 7 vndt sehr — 10 fehlt — vor n steht: Folget das
Vater vnser. — n erstlich.
Parallelen. V. 3 f. vgl. TT S. 209: Wen wir in höchsten nöten
sein, Wir Werderischen Pawren gross vndt klein vndt wissen weder
hnlff noch radt ... So ist das vnser trost allein, das wir in vnserm
Jammer vndt leidt [1. Pein] Dich Sigismonde raffen an, den .wir mei-
nen dich han verlahn. — e f. ebenda: 0 Sigismonde Königk firom Zu
dir wir arme Pawren kommen . . .
42 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Eine heilige gestalt er an sich nam
Bildete auch menniglichen ein
Das er Von Hertzen wolte sein
15 Vnser Vater
Willkommen G. König, willkommen
Recht haben wir Vernommen
Dass das Regiment Kommen ist
Auflf dich Gustaw, o böser Christ
so Der du bist.
[368b] Der König Gustaw geschwinde,
Mit seiner Gottlossen gesinde,
Leugt vor den Pawren ahn allen spott,
Vnndt schweret bey dem ewigen Gott,
n Im Himmel
Das er in Warheit nichts nicht achte,
Sondern nur alleine darnach trachte,
Wie er mit nutz das Landt Vermehr,
Auff das dein Gottes Nahm vndt ehre[!],
30 Geheiliget werde:
0 Kuhdieb falscher Bösewicht,
Gott lest sich Ihn Verspotten nicht,
Von deiner lügen vndt falschheit,
Ist worden bekandt weit vndt breit,
35 Dein Nähme
Nach dan du diebisch hast gehandelt,
Alle trew Vndt Erbarkeit verwandelt,
Glitt, Gelt Vndt Viehe geraubet alhier,
Alss wan es Von Rechtswegen dir,
40 Zu Komme.
12 ein — 13 bildet — 16 Willkom Gnädiger Herr willkom, — n
Recht] Nun — wir erst recht vernohmen — 19 auff den gancz gotlosen
Christ — 3i Gustauus geschwindt — 99 seinem — gesindt — 93 leug-
neten für — alle — u schwor — 26 nichts] gancz — acht — 97 S
allein nur das betracht — 38 das] dieses — Landes ferner [!] — n
ehr — 39 lest ferner sich spotten — 36 Nachdem das da hast — 37 vor-
wandelt — 38 geraubt — 39 wens von.
91 ff. W S. 124: Mit seinem wordten linde bethört er Landt
vndt leut, damit sein nacket gesinde bekomme gelt vndt beut. — W
S. 118: Viel 8tftdte hastu betrogen, mit deinen worten lindt, vndt
ihnen uorgelogen, gleich einem kleinen kindt — 28 f. W 8. 120: Gns-
tauus wil regieren noch mehr der Landt vnd leut — 31 W 8.209: den
Schwedischen Kuhdieb, 204 sagt Gustav: dessen zu einem wahren
schein, bringe ich mit in hauffen Vieh, wie ihr iczundt sehet hie,
An Schaffe, Kühe, Schweine vndt Pferdt . . . und so noch wiederholt.
— 38 vgl W S. 204, oben zu V. 81.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 43
Der Teuffell hatt dich gar besessen,
Drumb hastu Ehr Vnd Eydt vergessen,
Gehandelt wieder Eydt, Recht vndt Pflicht,
Dan Pohlen ist ja warlich nicht,
45 Dein Reich.
Alle Bubenstucke hastu gevbet,
Manchen armen Mann herzlich betrübet,
Wüst nun einführen eine Newe Lehr,
Gott geb das nun Vnndt nimmer mehr,
&o Dein Will geschehe.
0 Herre Gott dir seys geklaget,
Wie offt hatt Gustaw Zue gesaget,
[369*] Das man in ganzen Lande nun,
Soll haben Schutz, friedt vndt ruh,
55 Wie im Himmell.
Aber durch deine Schelmische handt,
Hastu Verstöret, Verheret, Verbrandt,
Beraubet Reich vnndt arme Leutt,
Inn Meer vndt Strömen, Weit Vndt breit,
60 Also auch auff Erden.
Durch deinen Ehrlossen wandeil,
Ist verdorben Vnser handell,
Durch dein Rauber in diesem Landt,
Hastu gestohlen, Vndt Vns entwandt,
65 Vnser täglichs Brodt.
Ach lieber Gott lass dich erbarmen,
Errette doch vndt hüff vnns Armen,
Wende Vnser Elendt noth Vndt schmertzen,
42 Daromb — vergessen — 43 Eydt] fehlt — 44 den — ja] ie —
46 All Bubenstück — 47 manchen Man vndt Weib h. — 48 Wilst hirin
führen ein ander lehr, — 49 gebe — 5t sey es — 52 Gustauus gesaget
— 53 im — 54 solte — ruhe — 87 verhöret vndt — »8. arme vnd reiche
— 59 im — 60 auch] fehlt — 6i dein gotlosen — 62 ist ganz — 64 hast
vns g. vndt entwandt — 65 täglich — 66 dichs
41 WS. 125: 'Der Teuffei den du ehrest* und so wiederholt, nach
Hirsch* Anm. eine Anspielung auf Gustav Adolphs tapferen Waffenge-
nossen, den Obersten Teuffei, dessen Name zu allerhand Scherzen
Anlas« gab. — 48 vgl. die Auseinandersetzung bei Hirsch S. 57 f. —
5i ff. vgl. WS. 211: zu dem er vns auch nicht behaget, er helt nicht,
was er zugesaget, er schert die Pauren genczlich über den Kam, vndt
wünschet das wir wehren schlaf [1. schaf] allesam. WS. 220: Den
Pauern schwert er tausendtmahl thut ihn gross schuez zusagen, . . .
— 63 f. vgl. W 8. 211: Gustauus vns gar nicht gefeldt, hat weder
hfilffe, volck noch geldt, brennet, raubet vndt stilt geldt Pferdt
vndt Kuh.
44 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Ganz reine Vndt getrewe hertzen,
70 Gieb vnns Heute
Auff das wir sembtlich Zue gleiche
Beiderseits arme Vndt Reiche
Mögen raffen mit einem Munde,
Komm rette Vns 6 Sigismunde,
75 Vnnd vergieb Vns
Das wir smdt schendlich betrogen,
Gustauus hatt ?ns vorgelogen,
Ist derhalben 6 Rauber dein,
Gustaue, Vndt nicht allein,
so Vnsere Schulde.
Das Wir sein Von dir geplagt,
Von Vnsern hab Vndt gutt Verjagt,
Alle Erbarkeit hastu Verwandelt
Mitt Vnserm Viehe Vndt gutt gehandelt
as Alss Wir
[369b] Landt Vndt Leute du ganz Verlierest,
Vndt auch mit bössem gewissen beschwerest,
Dantzigk die Stadt ohn allen Spott,
Vndt hast also den Gerechten Gott,
so Verlassen.
Wegen sein Vnndt Isabelle Pracht,
Hatt er Viele Meineydig gemacht,
Vndt seindt durch ihn fast alles Quit
Nicht dflrffen wir auch handeln mitt
9» Vnsern Schuldigern
Wan er nun hatt geraubet woD,
Erfüllet Stadt Vndt Dörfler Voll,
So heist er Bürger Vndt Pawersmann,
Nimb Ross Vnndt Wagen Spanne an
ioo Vndt führe Vnns
Den Raub zue Schiff vndt mitt dauon,
Ach Gott gib ihm den rechten lohn,
Stroff ihn nach deinem rechten Gericht,
Vndt lass Vns doch ja fallen nicht,
tos In Versuchungh
so reine] newe — 72 Hs. vor 'arme' 'Reiche' gestrichen — 74
6] fehlt — 75 vorgib — 76 Den wir schandtlich werden — 78 Ist nun
derhalben B. — 79 Gustauus — so vnser — si wir so seindt — ge-
plaget — 82 geiaget — 83 hat er vorwandelt — 85 wie wir — so
Yorherest — 87 vnd mit bösen — 89 rechten — 90 vorlassen —
Ol sein] dein — 92 hastu vns meineidig — 93 sindt — ihn] dich — 94
handien — 96 -105
82 vgl. jüngerer Typus V. 25 — 98 ff. ebenda V. 37 f.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 45
Das ohne deine Göttliche Handt
Kan Kein Königreich Vndt landt,
In seinem Regiment bestehn,
Ach Gott lass Vns nicht Vntergehn
110 Sondern erlöse Vnns.
Von dieser grossen Rauberey,
Vnndt stehe Vns in gnaden bey,
Gieb Vnserin Königk Vndt herrn gewalt,
Auff das er Kom, Vndt rett Vns balt,
1» Von allem Vbell.
Dan ohne dich herr seindt wir verlohrn,
Wendt ab Von Vns dein gerechten Zohrn,
[370*] Stürz den landtrauber mit deiner macht,
Die Weil er dem gebott nicht acht,
iso Welche du mit den Pinger dein,
geschrieben in einen harten stein,
So wollen wir allesamen
Dich loben Vnndt Preissen.
Amen. Amen.
1*5 Dan dein ist das Reich, etc.
Interpretatio.
Ich Gustaw beichte meine Schuldt,
Das Ich in Grosse Vngedult,
Gefähret hab zue aller stundt,
Dich grossen König Sigismund.
110 Dan dein ist das Reich.
0 Herre Got wir bitten dich,
Da wollest iczo gn&diglich,
zu ms wenden dein angesicht,
vnd retten von dem Bösewicht
Vndt führe vns nicht
Das lose Schwedische Reich,
mit deiner gnade nicht von vns weich,
den Streiffer gross hinweg thue treiben,
sonst müssen wir lange stecken bleiben
in Vorsuchung.
106 Das] Den — 107 vndt] noch — 108 bestehen — 109 vntergehen
— 11s gib vnserm Könige gewaldt, — 114 komme vndt vns baldt —
116-119 fehlen — 1» fingern — 121 geschrieben hast im harten —
ist alle snsammen — m nur ein 'Amen*. — 125 -168 fehlen.
96 ebenda V. 57 f. — 111 f. vgl. TT 8. 224: Ach lieber Got stehe
▼na bey vndt stürcz Gnstani Tyranney, . . . — 113 W S. 211: 'Der König
von Pohlen stehe vns bey.
46 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Welches ich diebisch geraubet an Mich,
Schelmisch gehandelt Wieder dich,
Darff mich Vnter dein Angesicht
Mit ehren Stellen nimmer nicht,
tu Die Krafft
Durch Welche Ich habe bestohlen,
Klöster Vndt Kirchen hir in Pohlen,
Kompt gentzlich Von dem teuffei her,
Von Gott hab ich nimmermehr,
140 Die macht.
Das ich Verderbet hab landt Vndt leutt,
Beraubet, Bestohlen, Weit Vndt breit,
Den Armen Vndt auch Reichen Mann,
Drumb ich auch nicht gemessen kan,
uib Die Herligkeit.
Ich glaube Vndt Weiss Warhafftig woll,
Was mir zue buesse Werden soll,
[370b] Der Teuffell hatt mir Zuebereit,
Ein badt Im Nickelssbergk so weit,
im Von Ewigkeit.
Wehme Ich gedienet gibt mir den Lohn,
Gott hatt ja mit mir nichts zue Thuen,
Dieb, Rauber, Vndt Mörder billig sitzen.
In dieser Badtsuben Vndt schwitzen.
i5s Zue Ewigkeit
Drumb lieben Christen in Gemein,
Wolt Vmb Ihn Vnbekümmert sein,
dieWeil er gestohlen, geraubt vndt gebrandt,
Verzehret, Verhehret, Leutt vndt landt,
160 Doch möcht ihr dennoch tretten zuesamen
Vndt beten alle in Gottes Nahmen,
Das Ihn der Teuffei halt hohle
Amen Amen. etc.
Den Beschluss dieser Reihe von Vaterunserparodien
macht ein Gedicht, welches Karl Schäfer (Ein historisches
Volkslied des Odenwaides. Frankfurter Zeitung 1888 April)
aus einer Handschrift veröffentlicht hat; es gehört ganz
148 vgl. W 8. 223: so dürffet ihr nicht mausen im Heckeisberg
mit grausen — Der Satanas aus Heckelafeldt W S. 224 : Gib dem
MausskÖnige bessern sin, das er sich recht bedencket, mit leib vndt
Seel nicht fahr dahin, wohin ihn Satan lencket, sonst muss er hier in
dieser weldt vndt ewig dort im Heckelsfeldt mit zeenklappen vndt
grausen samb seinem gesellen mausen. — Nickel als Name für den
Teufel vgl. Grimm, Mythologie *S. 889.
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 47
zum jüngeren Typus, wendet sich wieder gegen die Sol-
datenqual, erinnert aber im Wortlaut gar nicht mehr an
die Vorgänger; seine Eenntniss verdanke ich Beinhold
Köhler. Schäfer theilt die historischen Voraussetzungen
dieses Pfaffenbeerfurther Vaterunser mit. Im Jahre 1802
wurde das aus Scheffels Bodensteinliedern bekannte Dorf
Pfaffenbeerfurth von Kurpfalz an Hessen abgetreten, womit
aber die Einwohner gar nicht zufrieden waren; sie weiger-
ten sich nach Lindenfels zu kommen und den Unterthanen-
eid zu schwören. Da Güte nicht half, Drohungen nicht
verfingen, wurde im Spätherbst 1802 ein Fussoldat als
Einquartirung nach dem Dorfe geschickt, der abwechselnd
bei jedem Bürger ins Quartier zu legen war; aber auch
dies fruchtete nichts und so wurden im Januar 1803 statt
des &nen zwölf Soldaten geschickt, welche nicht eben zart
und liebevoll mit den widerspänstigen neuen Landeskindern
umgingen, so dass diese bald nachgaben. In dieser Zeit
entstand das nachfolgende Gedicht, dessen Schluss in der
Handschrift unleserlich ist.
Pfaffenbeerfurths Vaterunser.
Von Darmstadt aus scheint uns der Stern
Drum rufen wir jetzt dahin gern — Vater unser.
Ach Ludwig ! denk der Schuld nicht mehr
Verzeih uns als ein gnädiger Herr — Der Du bist.
5 Verzeihest Du uns unsere Schuld —
Dann hat auch Gott mit Dir Geduld — Im Himmel.
Und dann wird nun, und immerfort
Dein Name hier in unserm Ort — Geheiligt werden.
Darum dass Du so gnädig bist.
10 Denn Landgraf heist und Ludwig ist Dein Name.
Zu uns ist nun — wer hätte gedacht?
Von Hittag und von Mitternacht — Dein Reich
komme.
Von nun an bist Du der Regent
Drum soll auch bis an unser End Dein Wille ge-
schehen.
15 Du hast jetzt über Jung und Alt —
In unserm Örtchen die Gewalt — auf Erden.
Regierst Du uns nach Recht und Pflicht
Dann Ludwig sind wir so vergnügt — Wie im Himmel.
48 Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik.
Zwar haben wir jetzt wenig Freud,
ao Denn es verzehren Deine Leut — unser täglich
Brod.
Auch quälen sie uns bis aufs Blut
Und sprechen immer: Geld und Gut — gib uns heute.
Drum bitten wir von Herzensgrund
Lass die Soldaten ziehen, und vergib uns un-
sere Schuld.
9» Es ist ja auf der ganzen Erd
Kein Völkchen so beklagenswert!] — wie wir.
Die Grossmuth zieret jeden Forst
Und drum hoffen wir Du wirst vergeben.
Wir sind jetzt gar bedränget sehr
so Bezahlen können wir nicht mehr unsern Schul-
digern.
Drum flehen wir vor Deinem Thron,
Nach Lindenfels, wir zittern schon, führ uns nicht
Es ist uns ja von Herzen bang.
Denn Heidelberg führt uns schon lang in Versuchung.
35 Weil die Soldaten folgen Dir
So lass sie doch nicht länger hier sondern erlöse
uns von dem
Übel.
Nunmehr sehen wir es ein
Wir müssen Dir gehorsam sein Denn Dein ist
das Reich.
Drum Ludwig schaff uns wieder Ruh
40 Denn Du allein hast ja darzu die Kraft.
Wenn die Soldaten ziehen fort
Aisdan ist hier in unserm Ort Die Herrlichkeit.
[in] Ewigkeit
45 Darum thu uns
Und sprich Amen.
Ob 'Das neueste Vaterunser eines Oesterreichers', Wien
1848 foL bei M. Lell als Einblattdruck, hierhergehört, ver-
mochte ich nicht festzustellen, erwähnt ist es bei Frb. v.
Helfert, Der Wiener Parnass im Jahre 1848 (Wien 1882)
S. 78 Nr. 474 und als 'Andere Auflage' bezeichnet. 'Des
Bettlers Vater Unser9 von Job. Nitschner (vgl. ebenda
S. 144 f. Nr. 793) gehört nicht hierher, da es nur die Bitte
'Gib uns heut' unser tägliches Brot!!9 als Refrain ver-
Werner, Das Vaterunser als gottesdienstliche Zeitlyrik. 49
werthet und ganz unvolksthümlich ist. Anzufahren bleibt
noch: 'Das Vaterunser der Constitution eilen echt deutschen
Bauern in Ungarn. Von M. Anton Lenzi' (t Bl. 4°)
ebenda 8. 214 (Nr. 1164), das ich gleichfalls nicht kenne.
Zum Schlüsse sei hervorgehoben, dass das 'Vater Unser
eines Unterwaldners', welches Soltau a. a. O. 8. LXXVI
mit der Bemerkung versieht: 'auch aus neuerer Zeit soll
es dgl. geben, z. B. das V. U. eines Unterwaldners a. d.
90r Jahren, wenn dies nicht etwa ein Bild ist?' nach Jakob
Bächtolds freundlicher Mittheilung folgenden Titel führt:
'Das Vater Unser eines Unterwaldners erfunden von J. Mar-
tin Usteri in Zürich ausgeführt und in Tuschmanier geäzt
von Marquard Wocher in Basel9 1803; das ziemlich seltene
Werklein besteht aus 7 Blättern, ein Bild und darunter
die Beschreibung enthaltend; z. B. das erste Blatt: 'früher
Morgen: die Herden gehen auf die Waiden, der alte Älp-
ler tritt mit seinem munteren Enkel vor seine Hütte; der
rings um ihn auf Höhen und im Thal verbreitete Segen
stimmt seine Seele zu dankbaren Empfindungen, und er
betet: Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget
werde dein Name !' Im weiteren Verlauf werden die Bitten
zur Schilderung der französischen Invasion in Unterwaiden
benutzt. Auf dem letzten Blatt seufzt der Unterwaldner,
von den schreienden Unthaten der Franzosen empört: 'Er-
löse uns von allem Übel!' In Usteris Werken fehlt dieses
Vater Unser, wie mir Beinhold Köhler schreibt, der es ein-
mal bei einem verstorbenen Freund als fliegendes Blatt mit
Bild gesehen hat. Immerhin scheint auch Usteri von dem
volkstümlichen Typus beeinflusst zu sein, wenn er ihn
gleich mit idyllischem Aufputz versieht. Auf einzelnen losen
Blättern besitzt dieses Vaterunser auch Se. Excellenz
FML. Baron Teuffenbach, der es mir gütigst zur Verfügung
stellte.
Lemberg. Richard Maria Werner.
Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte V
50 Distel, Nachlese über die Neuberin.
Nachlese Über die Neuberin.
Zu der von v. Reden-Esbeck, C. Ncuber und ihre Zeit-
genossen 1881 S. X, verzeichneten Litteratur trage ich aus
der seither erschienenen folgende Neues enthaltende nach:
Allgem. Deutsche Biographie 23, 472—476; Archiv für
Frankfurts Geschichte und Kunst N. F. 9 ; Grenzboten 1 882
2, 75 ff. 1887 2, 444 f.; Hamburger Correspondent 1888 Nr.
291—295; Vierteljahrschrift f. Litteraturgesch. 4, 159—166.
Das von mir aufgefundene, aus dem Jahre 1749 stam-
mende Gedicht der Neuber an den kursächsischen Confe-
renzminister Johann Christian Grafen von Hennicke ist in
Webers Archiv für die Sächsische Geschichte N. F. 5, 1 77 f.
und von v. Reden-Esbeck a. a. 0. 3. 325 unvollständig ver-
öffentlicht. Ich theile hier die Ergänzungen aus dem Ori-
ginale, erhalten im E. S. Hauptstaatsarchive, mit.
Den Worten : 'Ich wusst es freilich wohl1 steht voran :
Verehrungswerther Graf
Nie gnug gepriessner Mann!
0! dass ich Dir die Hand nicht unterlegen kan,
Damit Du Deinen Fuss nicht auf die Erde setztest
Und Dich durch keinen Tritt der Dich beschwert, verletz[t]est
Wie dank ich Dir genug, dass Du mich hast erhört.
Im ersten Ansebn hab ich was verwegenes begehrt.
Nach den Worten: 'will bezahlet sein9 und vor: 'ach Herr!
errette mich!' heisst es:
Die Hände sind mir ja auf tausend Arth gebunden
Bey keinem als bey Dir hab ich Gehör gefunden.
Mit zwanzig Leuthen hat mich Hunger, Durst geplagt
Ich hätte Dir das gern zum ersten mahl gesagt
Als mich Dein Gnadenblick so liebreich konte leiden,
Jedoch ich hielt es selbst für mich zu unbescheiden
Jedoch kein andrer weiss die Noth so gut als ich,
Kein andrer sagt es Dir.
An den Versanfang: 'bis Alles ist bezahlt9 schliesst sich an:
Ich flieh nochmahls zu Dir
So sehr ich zittern muss Dir dieses vorzutragen
So heisst mich doch die Noth dass äusserste noch wagen
Errette mich dadurch und lass mir so viel Zeit,
Distel, Nachlese über die Neuberin. 51
Dann folgt: 'Nur bis Michaelis zu leben hatten'
und darnach noch:
Gott! Der der Menschen Herz wie Wachs erweichen kan
Sprach selbst bei Dir für mich, der nehm sich meiner an,
Er schenke Dir die Kraft dich dahin zu bewegen
Dass Du mich retten hilfst und geb Dir seinen Sägen!
Er mach Dein Leben leicht und steh Dir täglich bey!
Dass Seine Kraft in Dir und durch Dich käntlich sey!
Ew. Hochweisgräfi. Excell.
unterthänigste
Friderica Carolina
Neuberin.
Auf der Rückseite (an Stelle der Adresse) steht:
Hochgebohrner Graf u. Herr!
Lass Dir danken, Dich verehren
Weil wir alle, ohne Dich, hier in Noth vergangen wären.
Auch ein bisher ganz unbekanntes Gedicht der Neuber,
an den mächtigen kursächsischen Premierminister Heinrich
Reichsgraf von Brühl gerichtet, kann ich vorlegen. Ich
fand es kürzlich inmitten völlig gleichgültiger 'Bettelgedichte'
im E. S. Hauptstaatsarchive (Locat 790 Gedichte u. s. w.
Bl. sub O). Das Gedicht fallt in die erste Zeit nach dem
Spiele der Neuber in Hubertusburg1), wo die Künstlerin mit
einer gereimten Rede nach der Vorstellung vom 5. No-
vember 17372) aufgetreten war.8) Die an sich unbedeuten-
den Verse zielen auf die Wiederertheilung des Prädicates
Hofkomödianten an ihre Truppe und auf die Widersacher
der Neuberschen, Müllers. Sie lauten :
Nimm Hochgebohrner Brühl!
von mir diess Dancklied an!
Weil ich es mündlich itzt nicht mehr verrichten kan.
Im Elend bäht ich Dich um des Augustus Namen
Um Seinen kalten Leib, von dem die Kräfte kamen
h Die deine Wohlfarth so vollkommen schön gebaut
]) Man vgl. hierzu auch die k. poln. u. churf. sächs. Hof- und
Staatskalender v. d. Jahren 1738 u. 1739.
*) In demselben Jahre verbannte bekanntlich die Neuber den
Hanswurst von der Bühne.
*) Vgl. v. Reden -Esbeck a. a. 0. S. 221 ff. Fürstenau, Zur Ge-
schichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden 2, 383 f.
52 Distel, Nachlese über die Neuberin.
Dass man Dich itzo noch zu Seinem Nachruhm schaut.
Ich bathe den August der lebet und regieret,
Der itzt nach Ihm wie Er den Königs Zepter führet,
Dass Er mir gnädig sey. Die doppelt Hohe Kraft
10 Hat alle Noth und Qvaal auf einmahl weggeschaft.
August hat mich erhört, und Du hast mich gehöret,
Dass mir der Neid nichts nimmt, dass mich kein Lügner stöhret.
Nunmehro steh ich still, und denck mit Lust zurück
Ich bin dem Kummer gut, ich ehre nun mein Glück
15 Das mir die Gnade bringt, ja dürft ich ohn Verletzen
Der allerhöchsten Gnad gar nichts entgegen setzen,
So wolt ich noch einmahl ins erste Elend gehn
Nur diese Hohe Gnad, nur Deine Huld zu sehn,
Die mich itzund erhält; das hätt ich wissen sollen
so Wie gerne hätt ich Dich damahJs verschonen wollen
Mit meinem Klaggeschrey. Allein verzeihe mir,
Ich flöhe dazumahl in meiner Noth zu Dir
Nicht nur allein um mich, nein, alle meine Pflichten
Auch in der grössten Noth gebührend auszurichten.
äs Die Wahrheit muste Dir auch nicht verborgen seyn,
Sie ehrt den Landes-Herrn, macht das Gesetze rein,
Setzt diesen, der es schreibt ins festeste Vertrauen;
Deswegen Hess ich mir vor keinem Umstand grauen,
So hertzhaft machte mich Dein Ruhm und meine Pflicht.
so Vergieb mir noch einmahl, ö Herr! und zürne nicht
Dass ich es wiederhohl. Sonst klagt ich so im Leide
Itzt sag ich eben das aus wahrer Herzens Freude,
Nun bin ich doppelt stark an Einsicht Muth und Treu,
Du machst mir jeden Wunsch und alle Hoffnung neu,
35 Du nimmst Dich meiner an; Nun hab ich nichts zu klagen
Als dieses: Dass ich Dir nicht Danck genug kan sagen.
Gott! Der zwey Königen das Hohe Hertz gelenckt,
Dass jeder Dich, ö Herr! mit Seiner Huld beschenckt,
Erhalte Dich dabey, dass Dein Geschick vollkommen.
40 Und ohne Wanken bleibt, so wie es zugenommen!
Dass an des Königs Wahl man Deinen Werth erkennt,
Und jeder Dir Dein Glück und Deine Hoheit gönnt,
Dass Reich, Staat, Land und Volck mit allen Freuden hören:
Gott schenckt Dir seine Huld, August hält Dich in Ehren!
Ew: Reichs-Hochgräfl. Excell.
Leipzig unterthänige
am 23. Nov. Friderica Carolina Neuberin.
1737.
v. Reden-Eebeck theilt a. a. 0. 8. 5 das Taufzeugniss
und 8. 41 den Trauschein der Neuberin mit, möge hier
auch ihr Todtenschein, den ich auch sonst noch nicht ver-
Schröder, Elopstock - Studien. 53
öffentlicht gefunden habe, Platz finden. Der betreffende
Eintrag im Kirchenbuche zu Leuben bei Dresden lautet
(unter 1760) also:
Frau Friederica Caroline Neuberin, weyl. Herrn Johann
Neubers, gewes. Comoedianten in Dressden hinterl. Wittwe starb
Sonnabends d. 30. Nov. früh gegen 1 Uhr und wurde Sonntags
früh in der Stille beerdigt. Alt. 68 Jahr.
Dresden-Blase witz. Theodor Distel.
Elopstock - Stadien.
I. Die ältesten Sammlungen der Oden.
Die Untersuchung, mit der ich eine bunte Studienreihe
über Elopstock1) eröffne, ist mir durch die Übungen des
Marburger Germanistischen Seminars aufgedrängt worden.
Ich hatte für das verflossene Wintersemester die Oden als
Gegenstand der gemeinsamen Arbeiten angesetzt und glaubte
uns durch die neue, von Muncker und Pawel mit Unter-
stützung des Klopstockvereins zu Quedlinburg besorgte
Ausgabe für alle Fragen und Aufgaben der äussern wie
innern Textgeschichte aufs beste ausgerüstet. Ein Ver-
gleich mit Pawels ungeschickten, aber nicht ganz unver-
dienstlichen Vorarbeiten wie mit den Ausgaben von Box-
berger (bei Hempel) und Hamel (bei Kürschner) zeigto
nicht nur obenhin, sondern auch überall da, wo eine erste
Prüfung einsetzte, reiche Vermehrung des gedruckten wie
des handschriftlichen Materials; der Druck des Textes wie
der Anmerkungen verdient das Lob grösster Sauberkeit,
und die Einleitung entwickelt verständige Grundsätze, ob-
wohl sie weniger knapp und mehr präcise vorgetragen sein
könnten.
Bei diesem Eindruck von Reichthum und Reinlichkeit
berührt der Titel doppelt angenehm, auf dem jedes an-
spruchsvolle Prädicat der eigenen Leistung vermieden ist.
*) Ein zweiter Aufsatz wird den Dramen gewidmet sein, ein
dritter und vierter Sprachliches und Stilistisches zum Gegenstand haben.
54 Schröder, Klopstock- Stadien.
Die Bezeichnung 'historisch - kritisch' ist allerdings in der
letzten Zeit durch Pabrikanstalten und Fabrikproducte, die
keines näheren Hinweises bedürfen, dermassen in Verruf
gekommen, dass sich Gelehrte, die in der Lage sind, ihre
Titel selbst zu wählen, auf Jahre hinaus vor ihr hüten
werden.
Die Recension der Elopstockschen Oden ist keine
schwierige Leistung, für die Emendation giebt es so gut wie
nichts zu thun — die Hauptaufgabe wird immer die Inter-
pretation bleiben. Der Herausgeber hat in der Ausgabe
letzter Hand ((?) eine Textgrundlage, die er kaum antasten
darf: die Lesarten älterer Fassungen und was einzelne
Drucke und Handschriften Abweichendes bieten, gehört in
den Apparat; was in ihm nicht zur Geltung kommen kann,
mag in extenso als Parallelversion abgedruckt werden.
Wird die Anordnung der Ausgabe G auf Grund ander-
weitiger Nachrichten und Beobachtungen einmal aufgegeben,
woran die Literaturgeschichte ein Interesse und ein Recht
hat, so erscheint auch die Einordnung der von Klopstock
selbst übergangenen Stücke erlaubt. Auch hier, wo wir
zuweilen mehrere unabhängige Überlieferungen, aber keine
authentische Redaction haben, findet der Herausgeber keine
schwere Arbeit, wenn auch etwas mehr als Muncker ge-
leistet hat.2)
Die Hauptarbeit fallt jedesfalls der Einrichtung des
kritischen Apparates zu, und wo für den Text so wenig zu
thun ist, muss auf die Lesarten um so grössere Sorgfalt
verwandt werden. Man muss, auch ohne dass graphische
Unterscheidungszeichen angewendet werden, erkennen kön-
nen, wieweit man es mit besondern Redactionen, mit Über-
gangsyersionen, oder mit einzelnen Varianten einer unsichern
oder verderbten Tradition zu thun hat: man muss im
Stande sein, den Werth der wichtigern Textquellen aus
den Lesarten zu bestimmen, — und man darf nicht un-
nöthig durch Lesarten belästigt werden, die in unvollstän-
*) Muncker hat in weitherziger Collegialität den eifrigen Varianten-
saminler Pawel mit auf den Titel genommen, obwohl er selbst die
Hauptsache gethan hat und die Verantwortung allein trägt Dank
und Kritik werden sich also an seine Adresse richten.
Schröder, KJopstock- Studien. 55
diger Auswahl willkürlich einer abgeleiteten und verderbten,
vom Herausgeber selbst missachteten Fassung entnommen
sind und in der weitern Überlieferung nie wieder auf-
tauchen.
Lässt sich die Quelle oder gar die directe Vorlage
einer abseits gelegenen Druckversion ermitteln, lässt sich
weiterhin nachweisen, dass sie in der Textgeschichte ohne
Nachfolge ist, dann gehört sie nicht in den Apparat.
Oder aber — ein Grundsatz, den ich nicht billige, der in-
dessen seine Vertheidiger finden wird, — : der Apparat
strebt absolute Vollständigkeit an und hat dann bis zur
Ausgabe letzter Hand herab alle erreichbaren Lesarten zu
vereinigen. In keinem Falle darf es dem Herausgeber
überlassen bleiben, die einzelnen Quellen nach ungefährem
Gutdünken abzuschätzen und bald voll aus- bald nur oben-
hin abzuschöpfen. Er selbst muss sich über den Werth
jeder einzelnen Überlieferung klar geworden sein, und wenn
er nicht gerade Lachmann oder Haupt heisst, so verlangen
wir auch, dass er seine Leser wenigstens über Gewähr
und Bedeutung derjenigen Quellen unterrichtet, die auf
fast jeder Seite wiederkehren.
Nun hat sich Muncker keine Mühe verdriessen lassen,
die Zeugen der Tradition und Verbreitung Elopstockscher
Oden in grösster Vollständigkeit zu citiren: aus Hand-
schriften und Einzeldrucken, aus Almanachen und Zeit-
schriften wird eine Fülle bisher unbekannter Varianten auf-
gebracht und mancher Zusammenhang ungesucht erläutert.
Es wird nicht viel sein, was sich hier nachtragen lässt; ich
selbst habe weder den Ehrgeiz noch die literarischen
Hilfsmittel, mit Muncker zu wetteifern, und möchte nur die
eine Frage aufwerfen, ob nicht, nachdem das Gleimsche
Archiv so reiche Schätze hergegeben hat, auch die littera-
rischen Nachlässe anderer Personen, wie etwa Boies,
Herders, Knebels, einige Ausbeute versprächen? Vielleicht
können Weinhold und Suphan hierüber Auskunft geben.
Wenn Muncker aber des weiteren, unterstützt von seinem
Verleger, tüftelige Untersuchungen über die verschiedenen
Drucke der Ausgabe letzter Hand anstellt (Vorrede S. X —
XIII), so fragen wir uns verwundert, warum wir über den
56 Schröder, Klopstock- Stadien.
Charakter und Werth so vielfach benutzter Textquellen wie
der Darmstädter Ausgabe (D), der Ausgabe Schubarts (Seh)
und der Abdrücke Cramers (C) auf 8. IX mit wenigen all-
gemeinen Wendungen abgespeist werden. Man merkt
deutlich, der Herausgeber selbst ist hier nicht zu völliger
Klarheit durchgedrungen, und der Apparat bestätigt diesen
Eindruck: in die Geringschätzung dieser Quellen mischt sich
hin und wieder etwas wie heimliche Sorge; dann werden
plötzlich ein paar Lesarten aufgeklaubt, wir begegnen ver-
einzelten orientirenden Bemerkungen, haben auch hin und
wieder die Überzeugung, dass Muncker den Werth oder
Unwerth einer in jenen Sammlungen enthaltenen Oden-
version richtig erfasst hat und demgemäss mit den Les-
arten verfahren ist. Aber im ganzen überträgt sich diesen
vielcitirten Chiffren Seh, D und besonders C gegenüber ein
Gefühl des Unbehagens vom Herausgeber auf die Leser.
Darüber mussten wir im Seminar hinwegkommen, und
wir konnten es mit dem dürftigen Bücherbestand unserer
Bibliothek nur an wenigen Stellen. So nahm ich die Ar-
beit auf mich, für jene drei Sammlungen eine vollständige
Quellenuntersuchung zu liefern, und nachdem sie fertig ist,
scheue ich mich nicht, sie den Fachgenossen darzubieten,
obwohl ich weiss, dass der Gang, den ich sie führe, wenig
Reize und Ausblicke bietet. Des stillen Dankes derer,
denen ich das Studium des Odentextes und seiner Ge-
schichte erleichtert habe, bin ich um so sicherer.
Die Untersuchung, auf drei Kapitel angelegt, ergab
gleich in den Anfangen die Notwendigkeit, ein viertes (3.)
einzuschalten : es gilt dem Ausbund flüchtiger Poesien, und
ich muss ausdrücklich hervorheben, dass Muncker auch
diese Quelle zuerst aufgefunden hat, freilich, um sie als-
bald wieder zu verschütten (S. X oben).
Ich habe keinerlei Handschriften eingesehen, aber mit
Ausnahme einiger Einzeldrucke, bei denen ich mich glaubte
auf Munckers Collationen verlassen zu können, und des
6. Bandes •) der Neuen Beyträge zum Vergnügen des Ver-
standes und Witzes, der einen Nachdruck des 'Schlacht-
*) Das Berliner Exemplar dieses Bandes ist leider unvollständig.
Schröder, Klopstock -Studien. 57
liedes' enthält, alle gedruckten Hilfsmittel selbst vergli-
chen, soweit sie bei Muncker benatzt sind; durch neue
habe ich sie, abgesehen von der vollständigen! Verwerthung
des Ausbundes, nicht vermehrt. Die Bibliotheken von Berlin,
Bern, Darmstadt, Giessen, Göttingen, Königsberg, Marburg
und Zürich haben mich unterstützt, Jak. Bächtold, Karl
Eochendörffer und Albert Röster haben mir in einzelnen
Punkten Auskunft ertheilt, und im Beginn der Arbeit hat
der kundigste Helfer, Carl Redlich, die Schritte des Suchen-
den geleitet. Ihm vor allem verdanken die Fachgenossen,
das8 das Quellenverzeichniss zu Schubart so vollständig
erscheint.
1. Die Ausgabe Schubarts.
Ich stelle sie an die Spitze, weil sie am frühesten
hergerichtet, bereits im Spätherbst 1770 abgeschlossen und
jedesfalls zur Leipziger Ostermesse 1771 ausgegeben wurde,
früher vielleicht als der Druck der Darmstädter Sammlung
vollendet war, wenn auch nicht früh genug, um auf diese
noch Einfluss zu üben.
In Schubarts Briefen an Gottfried Böckh vom Juli bis
October 1770 (bei Strauss 1, 159—169) lernen wir den
Plan und Fortgang der Sammlung kennen und sehen, wie
Schubart die Hauptarbeit mehr und mehr auf den gewissen-
haftem und bedächtigem Schwager ablädt. Schon die
Lektüre dieser Briefe bringt die Überzeugung, dass den
beiden nichts Handschriftliches zugänglich war. Gleich-
wohl meint Pawel, Elopstocks Oden (Leipziger Periode)
S. 9, die Sammlung sei 'für den Textkritiker doch von
Wichtigkeit', denn sie liefere 'die Oden meistenteils aus
anderen Handschriften als nach denen sie in der frühern
Ausgabe (!) erschienen'. Und auch Muncker hat diesen
Standpunkt vorsichtigen Respects noch nicht ganz überwun-
den, wenn er S. IX die Ausgabe mit der Darmstädter auf
dem gleichen Fusse behandelt und von beiden, Seh und D,
bemerkt, sie schöpften 'meistens (!) unselbständig aus S
oder andern altern Drucken'.
Es ist bekannt, welchen schroffen Empfang Klopstock
selbst der Ausgabe im 'Wandsbecker Bothen' vom
12. April 1771 und zugleich in der (Hamburgiscben Neuen
58 Schröder, Klopstock -Studien.
Zeitung9 Nr. 57 bereitete. Er bezeichnete 6 Gedichte als
solche, 'an die er die letzte Hand nicht legen, und sie
daher auch nicht herausgeben' werde: Nr. 5. 8. 11. 18. 21.
41 ; und 13 als unecht: Nr. 4. 6. 10.4) 13. 15. 16. 19. 20.
22. 26. 27. 28. 29. Des Dichters Abwehr und Kritik wurde
durch T (Ebeling) in die Allgem. deutsche Bibliothek 16,
267 f. übernommen, auch im Leipz. Musen-Almanach f. 1772
8. 73 fand die Sammlung eine herbe Abfertigung.5) Aber
durchaus nicht überall war man zu so schneidiger Kritik
gerüstet, und z. B. die von Pawel 8. 9 als 'scharfe Be-
urtheilungen' bezeichneten Anzeigen in der Kieler gel.
Zeitung 1771 1,246 ff. und den Göttinger gel. Anzeigen
1771 S. 956 ergehn sich in fast einwandsloser Anerkennung
des Geleisteten.
Mein Quellenregister beschränkt sich selbstver-
ständlich auf den ersten Theil der Ausgabe, die den Ge-
sammttitel 'Friedrich Gottlieb Klopstocks kleine poetische
und prosaische Werk. Frankfurt und Leipzig, im Verlag
der Neuen Buchhändlergesellschaft [d. i. Mezler]. 1771 '
führt und in einem zweiten, besonders paginirten Theile
(ohne Titelblatt) 'kleine prosaische Werke9, d. i. Aufsätze
aus dem 'Nordischen Aufseher' bringt.
1 . Elegie (Die künftige Geliebte) aus 2V(eue Beyträge) IV 6, 446 (T.
2. Ode an Daphnen (An Fanny) S I 3, 230.
3. Ode an Herrn Ebert (An Ebert) S I 4, 269.
[4. Ode an die selige R*** (von Giseke: Poet. Werke 8. 129)
S I 4, 273.]
5. Der Adler, eine Ode (Die Verwandlung) 515, 373.
[6. Ode an Herrn*** ('Freund, kaum schlagt noch mein Herz', von
Joh. Chph. Schmidt, vgl. Quellen u. Forschungen 39, 22)
Sl 5,376.]
7. Ode an Fanny (Bardale) S I 5, 378.
8. Ode auf die G. und H. Verbindung (Die Braut) . Sl 5, 381.
[9. Ode an Herrn Klopstock ('Wie in einsamer Nacht', von Joh. Chph.
Schmidt, vgl. Quellen n. Forschungen 39, 18. 24 — 26)
S I 6, 477.]
*) Nr. 9 brauchte er nicht ausdrücklich zurückzuweisen.
•) Auf Schubarts Sammlung und nicht auf die Darmstädter be-
zieht sich auch das wegwerfende Urtheil Boies: an Knebel 28. Mai 1771
(Knebels Nachlaes 2,98; Weinhold, Boie S. 175).
Schröder, Klopstock- Stadien. 59
[10. Eine Choriambische Ode (von Giseke: Poet. Werke S. 142)
S I 4, 312.]
11. Elegie («Der du zum Tiefsten') Sil 5, 361.
12. Ode an Herrn Bodmer (An Bodiner) S II 5, 367.
(13. Ode an Herrn Cl(ausen) (von J. A. Schlegel: Gedichte 1, 311)
S II 5, 389.]
14. Abschiedsode; an Giseke (An Giseke) SU 6,433.
[15. An eine Freundinn (von Giseke: Poet. Werke S. 167) 511 6,435.]
[IG. Ode auf Cramers Eheverbindung (von J. A. Schlegel : Gedichte 1, 302)
S II 6, 484.]
17. Ode von der Fahrt auf der Zürchersee (Der Zürchersee)
S II 5, 369.
18. Ode als er den Messias zu singen unternahm (Die Stunden
der Weihe) Züricher Freymüthige Nachrichten
25. September 1 748. (Muncker N).
[10. Ode an Herrn S ** ('Noch flieht mein Auge der Schlaf v. J. A.Cramer)
S I 6, 445.]
[20. Ode an Dämon (von Giseke: Poet. Werke S. 147) . .0111 2, 135.]
21. Ode an Gott (An Gott) .... Raubdruck (nach Munckers
Bezeichnung A)
[22. Germanikus und Thusnelde (von Füssli) .... Göttinger Musen-
Almanach f. 1770 S. 56.]
23. Hermann und Thusnelde 8 III 3, 216.
24. Elegie. Daphnis und Daphne (Selmar und Selma) S 1 5, 370.
25. An Young Ä III 3, 198.
126. An Daphne (von Giseke : Poet. Werke S. 222) . . . . 8 III 4, 306.]
|27. An Dämon (von Giseke: Poet. Werke S. 186) . . . . 0III 5, 388.]
[28. 'Der Abschied' (von Giseke : Poet. Werke S. 223) . . S III 5, 390.]
[29. An Elisen (Verf. unbekannt) . . Göttinger Musen-Alnianach f. 1770.]
30. An den König (Die Königin Louise) Hamburger Einzeldruck 1 752
(Muncker JST).
31. Ein Psalm (Für den König) Kopenhagener Einzeldruck 1753
(Muncker K).
32. Die Hoffnungen der Christen (Dem Erlöser) .... Leipziger
Musen -Almanach f. 1770. (Muncker L).
(33. Henoch (Fragment a. d. Messias, später XV1I1 619 — 638).
A Nordischer Aufseher 1,25).
34. Über die Allgegenwart Gottes (Dem Allgegenwärtigen). A
Nord. Aufseher 1,44.
35. Das Anschaun Gottes A Nord. Aufseher 2, 78.
36. Ernsthafte Beschäftigungen auf dem Lande (Die Frühlingsfeyer)
A Nord. Aufseher 3, 157.
37. Lobgesang für die Genesung des Königs von den Blattern
(Die Genesung des Königs) . A Nord. Aufseher 3, 125.
38. Auf das Fest der Königlichen Souveränität in Därmemark
(Das neue Jahrhundert) . . . A Nord. Aufseher 3, 177.
60 Schröder, Klopstock- Studien.
39. Rothschilds Gräber (Fragment von V. 15 an, abgesetzt wie
in freien Rhythmen) Gerstenbergs Schleswig.
Litteratur-Briefe 1766, 2. (Muncker M).
49. Parallele zwischen Engelland und Deutschland (Wir und Sie)
. . . Leipziger Musen- Almanach f. 1770 (Muncker M).
41. Eine Parodie auf das Stabat Mater des Pergolesi . . Schmids
Anthologie der Deutschen Bd. 2 (1771). (Muncker A.)
Für diesen Quellennachweis kann ich auf Grund der
Einsicht sämmtlicher angeführten Originale ohne Vorbehalt
bürgen. Man sieht deutlich, wie das Ganze zu Stande ge-
kommen ist: den Eindruck der Briefe bestätigt die Quellen -
liste. Nach dem einzigen Stück aus den alten Bremer
Beyträgen kommt die Sammlung vermischter Schriften an
die Reihe: Stück auf Stück wird ausgeschrieben, darin
allein besteht die 'chronologische Ordnung' (Vorbericht
8. XXXVlil, Strauss 1, 160), und auch sie wird nicht
streng gewahrt, denn mehrfach tragt der Sammler — oder
sein schwägerlicher Genosse — das Resultat einer prüfen-
den Ährenlese nach oder entschliesst sich nachträglich zur
Aufnahme eines anfangs verworfenen Stückes (so bei Nr. 10.
vgl. Strauss 1, 162); zweimal wird die Reihe auch willkür-
lich durch Stücke anderer Herkunft unterbrochen (Nr. 18
und 22). Es folgen weiterbin (Nr. 29—32) vier Stücke
aus Almanachen und Einzeldrucken, sechs aus dem Nor-
dischen Aufseher (Nr. 33 — 38), das Fragment aus 'Roth-
schilds Gräbern', gegen dessen Aufnahme sich Böckh an-
fangs gesträubt hatte, 'Wir und Sie' aus dem Almanach
der deutschen Musen f. 1770, und zum Schluss ein Stück,
das dem Sammler erst kurz vor Thoresschluss zukam: der
2. Band von Schmids Anthologie des Deutschen trägt die
Jahreszahl 1771, muss aber zur Herbstmesse 1770 heraus-
gekommen sein, wie in der Regel die Almanache.
Nur weniges bleibt noch zur Erläuterung hinzuzufügen.
Nr. 36, die später 'Frühlingsfeyer' betitelte Ode, hatte der
Nordische Aufseher zweimal gebracht: beide Fassungen
haben den Sammlern vorgelegen. Der Reihenfolge nach
sollte man den ersten Text, aus Bd. 2 St. 94, erwarten,
und nur aus dem Inhaltsverzeichnisse dieses Bandes kann
auch das Ernsthafte des Titels stammen; aber es scheint,
dass Böckh bei der Revision zwar den von Schubart ge-
Schröder, Klopstock- Studien. 6t
wählten Titel beibehielt, aber die Textfassung von Bd. 3
St. 157 vorzog: wir wissen aus Strauss 1,169, dass ihm
Schubart diesen Band am 13. October 1770 übersandte.
Die Nr. 18, später 'Stunden der Weihe9 genannt, geht
gewiss durch handschriftliche Yermittelung auf den Erst-
lingsdruck zurück, mit welchem Bodmer den Messiassänger
dem schweizerischen Publicum in den Züricher Frey-
müthigen Nachrichten vom 25. September 1748 (N) vor-
stellte und der im Archiv der Schweitzerischen Eritick 1768
S. 19 (A) lediglich wiederholt ist. Die Königsberger Gel.
u. Pol. Zeitungen von 1769 St. 87 (X") können die Ver-
mittelung nicht geleistet haben, denn die Abschrift, auf der
diese fussten, enthielt ganz singulare Varianten, wie V. 5
Im Chor st. Im TAor, in der ersten Plusstrophe Thorn st.
Narrn. Es ist also wohl abschriftliche Weiterverbreitung an
den zahlreichen Fehlern Schuld, die den Text gerade dieser
vielgepriesenen Ode bei Schubart verunzieren; ich hebe
aus ihnen6) mit Umgehung der bloss metrischen Entstel-
lungen heraus: V. 12 den h. Schatten st. dem h. Schatten N; 1.
Plusstrophe Y. 2 Bings um denken st. Bings um mich
denken N; V. 27 Freude st. Freunde JV; V. 31 du mir st.
du nur N; 2. Plusstrophe V. 3 unter Enkeln st. unter unsern
Enkeln N.
Für Nr. 41 wird die Quelle durch die Lesart V. 55
Da, Versöhner, da von dir! = A gegenüber Versöhner, da
von dir! H verrathen; aus Schmids Anthologie stammt
denn auch die Bezeichnung Gesang im Register, die dann
Schubart unter dem Text wieder ausdrücklich zurück-
nimmt.
Die Textabdrücke bei Schubart sind durch eine Menge
von Flüchtigkeitsfehlern entstellt, welche die Pietät des
Abschreibers in bedenklichem Licht erscheinen lassen.
Man vermiest bei Muncker jedes Princip für Aufnahme und
Verwerfung. Ich billige es recht wohl, wenn Varianten
wie in Nr. 1 V. 48 keinem Beobachter st. keinem beobachtet,
Nr. 3 V. 60 Jammer st. Immer, Nr. 36 V. 44 aUes Macht!
st. attes Allmacht ! unberücksichtigt bleiben; aber es ist mir
•) Da Muncker keine einzige angiebt.
62 Schröder, Klopstock- Studien.
durchaus unverständlich, warum dann Abschreibefehler wie
in Nr. 37 V. 9 Gebet st. BefehV, V. 46 Jehovens st. des
Herren in den Apparat aufgenommen sind: gerade hier
wissen wir aus dem Briefwechsel, dass der betreffende
Band des Nord. Aufsehers (3) beiden Sammlern zur Hand
gewesen ist! Am schlimmsten steht es um die Oden,
welche der Sammlung vermischter Schriften entnommen
sind : aber hier war die Quelle Schuld ! So sorgfaltig unter
Gärtners Leitung die Correctur der Bremer Beyträge ge-
wesen war — musterhaft ist der Erstlingsdruck der 'Künf-
tigen Geliebten' — , so schmachvoll stand es um die Über-
wachung des Druckes in der angeblichen Fortsetzung.
Die Klopstockschen Oden, welche hier, grossentheils zum
ersten Male, gedruckt wurden, sind durch die allergröbsten
Schnitzer entstellt — Druckfehler, die man merkwürdiger-
weise bei Muncker vergeblich sucht, obwohl sie fast
sämmtlich noch eine kleine Nachgeschichte haben. Ich
führe ein paar davon zum Beleg an: Nr. 7 (Bardale I)
V. 24 Bein Göttern und Göttinnen! S Seh D st. Keinen:
Nr. 12 V. 21 ins Feuer S Seh D st. ins Ferne Z; Nr. 17
V. 20 des Liedes Werth SSchD st. werth Z; V. 58 gemessen
S Seh D st. giessen Z. Schubart hat allerdings die Mehrzahl
dieser Böcke durchgehn lassen , er lässt selbst Gleinen
st. Gleimen (Nr. 17 V. 22) stehn und hat für metrische
Entstellungen weder Auge noch Ohr. Aber seinen und
seines Setzers neuen Sünden stehn doch auch ein paar ver-
ständige Besserungen gegenüber, so in Nr. 32 V. 1 7 richtig
Aufgang st. Anfang, V. 59 lehrt den Hoheit, fuhrt ihm st
dem ... ihn; beidemal hat D den Fehler des ersten Drucks
L gedankenlos wiederholt. Nr. 38 Y. 6 altem st. alten A
hat dagegen auch D eingeführt.
Hat die Sammlung Schubarts für kein einziges der
mitgetheilten Stücke Quellenwerth, so ist sie auch auf die
fernere Textgeschichte ohne jeden Einfluss geblieben. Der
ganze Band enthält, von orthographischen Varianten und
leichten metrischen Verstössen (wie hört st. höret, Narren
st. Narrn und umgekehrt), deren anderweitiges Vorkommen
nichts Auffälliges hat, natürlich abgesehen, nur noch zwei
unbedeutende Lesarten, die in der weitern Überlieferung
Schröder, Klopstock- Studien. 63
durch Zufall wieder auftauchen. Beide scheinen Druck-
fehlern entsprungen zu sein, obwohl die eine einen ganz
guten Sinn giebt: Nr. 5 V. 57 Schaffe zum Adler mich um,
Seh st mich nun S; es handelt sich um die zweite Ver-
wandlung: Y. 45 Schaffe zur Nachtigall mich! Aber auch
umschaffen passt hier, und das Verbum ist nicht unklop-
stockisch, vgl. 'An Ebert' (I) V. 53 , 'Delphi' V. 84. Die
Lesart kehrt in D unabhängig, vielleicht als Druckfehler,
wieder und ist daraus in AbC übergegangen. Elopstocks
Entscheidung besitzen wir nicht, da er die Ode in keine
seiner Ausgaben aufgenommen hat. — Nr. 18 V. 31 Doch,
(lass du mir, vom Weltgerichte ( Dich unterredest) Seh
st. dass du nur vom Weitgerichte giebt dem Ausdruck eine
falsche und schier komische Wendung ; der gleiche Druck-
fehler kehrt in C wieder, wo aber der Setzer mir und nur
auch sonst gelegentlich verwechselt (2,310, s. u. S. 80).
Das ist das ganze Resultat einer sorgfaltigen Collation
sämmtlicher Texte Schubarts. Ich denke, nach diesen Er-
gebnissen dürfte der Sigle Seh für künftig eine Stelle im
kritischen Apparat der Klopstockschen Oden durchaus ver-
sagt sein. Es ist nichts ungerechter als mit dieser Samm-
lung die Darmstadter über einen Leisten zu schlagen, wie
es augenscheinlich bei Muncker S. IX geschieht.
2. Die Darmstädter Sammlung.
Ich verweise auf Erich Schmidt, Quellen u. Forschungen
39, 82 ff., Pawel, Elopstocks Oden (Leipziger Periode)
S. 6 ff. und stelle wieder eine Inhaltstafel nebst Quellen-
register voran.
1. Das Landleben (Die Frühlingsfeycr). S. 1 — 6 . . . Al d. i.
Nordischer Aufseher 2, 94.
2. An Gott. S. 7— 12 . . . aus einem unberechtigten Einzel-
druck (A bei Muncker).
3. Das Anschaun Gottes. S. 13— 18 .... A d. i. Nordischer
Aufseher 2, 78.
4. Die Allgegenwart Gottes (Dem Allgegenwärtigen). S. 19—27
A d. i. Nord. Aufseher 1,25.
(5. Henoch (Fragment, später Messias XVI11 619—638). S. 28
u. 29 . . . . A d. i. Nord. Aufseher 1,25.)
6. Die Hofrmngen der Christen (Dem Erlöser). S. 29—31
Leipziger Musen- Almanach f. 1770 (Muncker L).
64 Schröder, Klopstock- Stadien.
7. Stabat Mater. S. 32 — 35 Schmids Anthologie d.
Deutschen Bd. 2 (Muncker A).
8. Als der Dichter den Messias zu singen unternahm (Stunden
der Weihe). S. 35 — 37 .... aus den Züricher Frey-
müthigen Nachrichten 1748 (Muncker N).
[9. Germanicas und Thusnelda (von Füssli7). S. 37 — 39 . . . Göttinger
Musen -Almanach f. 1770].
10. Psalm (Für den König). S. 40—43 Einzeldruck
(Muncker K oder 27).
11. Ode an den König (Die Königin Luise). S. 43—47 . . Ham-
burger Einzeldruck (Muncker H).
12. Danklied für die Genesung des Königs von den Blattern
(Die Genesung des Königs). S. 48—52 A d. i.
Nord. Aufseher 3, 125.
13. Auf das Jubelfest der Souveränetat in Dännemark (Das neue
Jahrhundert). S. 52—56 . A d. i. Nord. Aufseher 3, 1 77.
14. Rothschilds Gräber. S. 57—60 . . . Flensburger Einzeldruck
(Muncker F).
15. Zueignung des Messias an den König von Dännemark (Fried-
rich der Fünfte). S. 60—62 Messias von 1751
(Muncker H).
16. Die beyden Musen. 8.63—65 handschriftlich;
erster Druck.
1 7. Die Nachahmer (Fragen). 8. 65 — 66 . . handschriftlich ;
erster Druck.
18. Wir und Sie. S. 66 — 68 Leipziger Musen- Almanach
f. 1770 (Muncker L).
19. Verhängnisse. 8.68.69. bandschriftlich; erster Druck.
20. Elegie (Die künftige Geliebte). S. 70—73 . . N{eue Beyträge)
IV 6,446.
21. Hermann und Thusnelde. S. 74. 75 SHI 3,216.
22. An Herrn Ebert. S. 76—79 514, 269.
23. Die Verwandlung. S. 79—82 S I 5, 373.
24. An Herrn Bodmer. S. 83. 84 8 II 5, 367.
25. Elegie (Der du zum Tiefsinn). S. 85—88 ... 511 5, 361.
26. Aedon (Bardale). S. 89—91 8\ 5,378.
27. Elegie. Daphnis und Daphne (Selmar und Selma).
S. 92—94 ....515, 370.
7) Nr. [9] and [39] sind längst, Nr. [40] ist neuerdings von
Muncker in Goedekes Grnndr. 2*,95 als Heinrich Füsslis Eigenthum
erkannt. Sie stehn alle drei anter seinem Namen in der Schweitse-
rischen Blumenlese von Joh.Bürkli: in Thl. 1 (1780) die 'Ode an Meta',
in Thl. 2 (1781) 'Hermann und Thusnelde' und 'Germanicus und Thus-
nelde1.
Schröder, Iflopstock- Studien. 65
28. Fahrt auf der Zürcher See. S. 95—98 .... SU 5,369.
29. An Daphnen (An Fanny). S. 99. 1 00 513, 230.
30. An Young. S. 101 Sffl 3, 198.
31. Petrarch und Laura. 8. 102 — 105 . . . handschriftlich;
erster Druck.
32. Abschiedsode an Gieseke (AnGieseke). S.106. 107 Sil 6,433.
33. An Fanny (Der Abschied). S, 108 — 113 Leipziger
Musen- Almanach f. 1771 (Muncker L).
34. An des Dichters Freunde (Wingolf). 8. 114 — 125
handschriftlich; erster Druck.
35. Auf die G. und H. Verbindung (Die Braut).
S. 126. 127 .... 81 5,381.
36. Kriegslied (Heinrich der Vogler). S. 128. 129 .... SI 5.
[37. Trinklied. Zur Nachahmung des Kriegsliedes. •)
S. 130. 131 81 6]
[38. Liebeslied. Zur Nachahmung des Trinkliedes.1)
S. 132. 133 51 51
[39. An Meta (von Füssli). S. 134—139. Zürcher Freymüth. Nachrichten
1760, S.210f.]
[40. Thusnelda (von Füssli). S. 140. 141. Ebenda 1760, S. 219 f.]
41. Die Welten. 8. 142. 143 . . . handschriftlich; erster Druck.
42. Eisode (Die Kunst Tialfs) 8. 144—148 . . handschrift-
lich; erster Druck?
43. An Herrn Gleim. 8. 149—151 . . handschriftlich; erster
Druck.
44. Die Chöre. 8.152 — 154 . . . handschriftlich; erster Druck.
45. Ode (Die Zukunft). 8. 155. 156 . . handschriftlich; erster
Druck. •
46. Der Tod. 8. 157 handschriftlich; erster Druck.
47. Siona. 8. 158. 159 ... handschriftlich; erster Druck.
') Die beiden Stücke [87] und [38] schreiben E. Schmidt, Quellen u.
Forschungen 39, 18 f. und mit neuen Gründen Hamel in seiner Klop-
stock-Ausgabe (Kürschner Bd. 46) 1, LVIII f. Klopstocks Vetter Joh.
Chph. Schmidt zu, und ich stimme ihnen, wie Muncker, in der Haupt-
sache bei. Nur hat man dabei einen Punkt nicht beachtet, der doch
vielleicht nicht ganz bedeutungslos ist. Im ersten Druck 8 (und ebenso
in D, s. o.) giebt sich 37 als Nachahmung von 36, 38 wieder als
Nachahmung von 37! Wird so beidemal der gleiche Autor schreiben?
Liegt nicht vielmehr die Vermuthung nahe, es möchten sich in Klop-
stocks Freundeskreise zwei Genossen wetteifernd überboten haben?
Der Dichter der einen Parodie mag immerhin Schmidt sein, aber wer
war der andere? Vielleicht Ebert, dem Weisse (an Ramler, Herrigs
Archiv 77, 15) das 'Kriegslied' selbst zuschreibt? vgl. Viert eljahr-
schrift 1, 492.
Viertdjahrschrüt für Littentoxgenhichte V 5
$6 Schröder, Klopstock -Stadien.
Ich verspare mir die Betrachtung der aus handschrift-
lichen Quellen geschöpften Oden bis zum Schluss.
Da Schubart für die Untersuchung, wie wir oben S. 62 f.
sahen, ausscheidet, so tritt für die folgenden Stücke über-
haupt keine zweite Quelle in Concurrenz : Nr. 3. 4. (5.) 6.
12. 13. 20. 21. 22. 23. 25. 26. 27. 29. 30. 32. 35. [39. 40].
Bei Nr. 1 stimmen alle Lesarten9) zum ersten Abdruck,
der zweite (Nord. Aufseher 3, 157) wird schon durch die
erste Zeile ausgeschlossen: Welten alle AlD gegen Welten
Gottes A\
Bei der reichen Benutzung der Sammlung vermischter
Schriften ist es von vorn herein wahrscheinlich, dass alle
dort gedruckten Elopstockschen Gedichte direct übernommen
wurden. Für Nr. 24 und 28 beweisen dies die oben unter
Schubart S. 62 besprochenen Lesarten; in Nr. 36. [37. 38]
ist das mehrfache Zusammenstimmen in einem wann ND
gegenüber wenn S natürlich kein Gegenbeweis.
Für Nr. 2 giebt Muncker fälschlich H resp. L als
Quelle an: aber alle Lesarten stimmen zu .4, so gleich V. 4
ich wohne A D gegen ich weine H; V. 5. 6. . . . Unsicht-
barer, Dein Blick der schauet AD gegen . . . Unendlicher,
Dein Blick, der Seher, H.
Für das 'Stabat Mater9 Nr. 7 wird die Quelle durch
die gleiche Lesart wie oben S. 61 bei Schubart bestimmt.
Bei Nr. 8 könnte wohl neben N der Neudruck im
Archiv der Schweitzerischen Eritick von 1768 in Betracht
kommen, der keine originellen Lesarten aufweist.10) Aber
auch eine zweite, uns unbekannte Ableitung von N ist
möglich: es bleibt immerhin auffallig, dass D, obwohl es
keinen Fehler mit Schubart theilt, ihm in der Form des
Titels nahesteht, der freilich auch beiderseits neu gebildet
worden sein kann : 'Als der Dichter den Messias zu singen
unternahm'. D — 'Ode als er den Messias zu singen unter-
nahm'. Seh,11)
•) Ich verweise, wo Munckers Angaben genügen, stillschweigend
auf sie.
10) Ausgeschlossen ist K ebenso wie oben (S. 61) bei Schubart.
1 ') Iin Inhaltsverzeichniss S. XLU 'Als Klopstock den Messias zu
singen unternahm1: auffällig ist besonders das beiderseitige unternahm.
Schröder, Klops tock- Studien. 6?
Den Göttinger Musenalmanach für 1770 und nioht seine
Quelle, die Zürcher Freymüthigen Nachrichten von 1760
(S. 260 ff.), habe ich als Vorlage von Nr. [9] angesetzt,
ohne entscheidende Lesarten zu haben : es würde auffallen,
das Stück, wenn es direct aus den Freym. Nachrichten
entnommen wurde wie Nr. [39. 40], so weit von diesen ge-
trennt zu sehen. Und an sich lag der Göttinger Musen-
Almanach gewiss näher.
Die Einzeldrucke K und J3T, die für Nr. 10 in Frage
kommen, sind so gut wie identisch. — Bei Nr. 11 fallt
Munckers angeblicher Abdruck N weg, L scheidet wegen
der isolirten Lesart V. 19 aus, zwischen K und H ent-
scheidet die Lesart Y. 34 Ben K — Die HB.
Für Nr. 14 kommt ein zweiter Einzeldruck, L, immer-
hin in Frage, denn der metrische Fehler Y. 1 7 äussere FB
st. äussre L, ist keine genügende Stütze für F. Die Ent-
scheidung ist aber ebenso gleichgiltig wie bei Nr. 15, wo-
für trotz Muncker der Text der Messias -Ausgabe von 1751
(H) ausser Zweifel steht (entscheidend sind die Lesarten
Y. 9. 19. 25. 37. 41. 45, wo B überall zu Munckers H-
Yarianten stimmt) und nur etwa einer der werthlosen
Sonderabdrücke 1S) in die Druckerei gewandert sein könnte.
L als Quelle von Nr. 18 wird, in Ermangelung anderer
Varianten, durch die Interpunction gesichert.
Bei Nr. 33 ist die Entscheidung durch Y. 54 gegeben:
mehr als es selbst sagt LB statt mehr als es selbst seufzt
KU.
So wären für 35 Stücke, darunter für 29 Elopstockisohe
Oden, die gedruckten Yorlagen oder Quellen in einer Weise
bestimmt, dass wir den Apparat von ihren Lesarten getrost
entlasten dürfen. In der weitern Geschichte der Über-
lieferung spielen nur die Varianten derjenigen Stücke eine
— ganz kleine — Rolle, welche von dem Dichter in B aus-
gelassen und darum theilweise von Ah übernommen wurden.
Überblicken wir die Quellentafel noch einmal, so glaubt
man das allmähliche Zustandekommen der Sammlung einiger-
massen beobachten zu können: den Grundstock, der von vorn
") Ich habe keinen von ihnen zu Gesichte bekommen.
5*
68 Schröder, Klopstock- Studien.
herein zur Hand war, bildeten offenbar die Sachen aus dem
Nordischen Aufseher (6) und die Einzeldrucke (4), dazu traten
ein paar Stücke aus neuern Anthologien und die Messias -
Widmung. Bei Nr. 16 kam die erste handschriftliche Spende,
bei Nr. 21 begann die Ausschöpfung der Sammlung ver-
mischter Schriften; und nachdem man noch für Nr. [39. 40]
die Zürcher Freymüthigen Nachrichten erwischt hatte1*),
traf, unmittelbar ehe das Manuscript zum Druck gelangte,
eine werthvolle Sendung ungedruckter Oden ein.
Die Abschriften älterer gedruckter Stücke waren von sehr
verschiedener Sorgfalt. Nicht alle haben gleiche Schuld an
dem schlechten Ruf, in dem die Sammlung steht; die Wieder-
gabe von Nr. 20 z. B. ist von grosser Genauigkeit: von 185
Interpunctionszeichen der Vorlage N sind 184 richtig ge-
wahrt, eines ist ausgelassen und drei sind nicht unpassend
neu hinzugefügt. Wir haben es da schwerlich mit einer
Abschrift von Damenhand zu thun, sehen aber auch, dass
den Setzer bei den Entstellungen anderer Texte gewiss die
kleinste Schuld trifft.
Unter den Novis, welche die Darmstädter noch zu
guterletzt zugesandt erhielten, war eines, Nr. 42, vielleicht
bei seinem Erscheinen schon kein Ineditum mehr: die
'Eisode' gelangte 1771 auch in der zweiten Auflage des
'Hypochondristen' 14) nach der gleichen, kurz darauf in
B stark umgearbeiteten Fassung zum Abdruck. D bietet
vielfach bessere Lesarten als dieser Text H, so V. 5
schwebet. V. 10 hält ein! V. 12 Dämmert (Donnert H). V. 21
des Telynors. V. 32 Tag. V. 33 0 du in die Henneline gehuUt.
V. 70 sank er wieder. V. 89 Wendungen fort. V. 91 auf
den Teich. V. 97 Sie tanzten fort. Nach Munckers Angabe 15)
könnte man glauben, D sei ein Abdruck aus H.
Für 4 Stücke bietet uns D in Munckers Apparat die
unbedingt älteste Quelle: Nr. 19 ' Verhängnisse', Nr. 31
Tetrarch und Laura', Nr. 44 'Die Chöre', Nr. 46 'Der Tod'.
") Die also schwerlich schon für Nr. 9 zur Hand waren.
") Boie hatte sie im Mai bereits in Händen (Knebels Nachlas*
2, 98).
") lH, ferner in BBGg: Die Collationen Pawels für H wie für
D sind ungenügend.
Schröder, Klopstock- Studien. 69
Die beiden letzten wurden bald hernach in B aufgenom-
men, Nr. 31 fand erst in G Gnade und Nr. 19 blieb dauernd
ausgeschlossen.
Der Werth der übrigen ungedruckten Stücke resp. der
ihnen zu Grunde liegenden Handschriften ist ein sehr ver-
schiedener. Für alle 7 bisher nicht besprochenen sind zu-
gleich Abschriften Gleims (Gl) erhalten, was sowenig ganz
Zufall als für die Herkunft allgemein entscheidend ist.
Bei Nr. 17 'Die Nachahmer' (später 'Fragen9) steht die
Fassung D zwar Gl nahe und repräsentirt mit ihr gemein-
sam eine von R (Rings Abschrift) abweichende Version,
es sind aber originelle und gute Lesarten in D enthalten,
welche die Herkunft aus Gl unbedingt ausschliessen, so
Y. 9 Und nie die Stirne mit eitelglühender statt Und doch
die Wange niemals mit glühender \ ferner V. 10. 12. 18f. 28.
Für Nr. 41 und Nr. 43 dagegen findet die Herkunft
aus Gleims Sammlung, ja die directe Abstammung von den
bei Muncker mit Gl bezeichneten Copien in den Varianten
kein Hinderniss : diese sind durchweg werthlose Erzeugnisse
sorgloser Abschreiber. Ebenso hat die grosse Freund-
schaftsode Nr. 34 in D jeden Werth für die Textkritik
eingebüsst, nachdem wir durch Muncker eine zwanzig
Jahre ältere Abschrift Gleims kennen gelernt haben. In
den meisten Fällen lässt sich die Lesart von D als Fehler
bequem erklären.16)
Ein evidenter Nachweis für den directen Zusammen-
hang von D mit Gl lässt sich für 'Die beiden Musen'
(Nr. 16) führen. Zwar fehlt es auch hier nicht an Ab-
weichungen, man vergleiche nur Munckers Angaben zu
V. 1. 3. 10. 18. 23. 25. 27. 34. 42. 46. 48. 50 und trage
nach: V. 24 im E., V. 28 ich es, V. 29 weitre, V. 33 (34)
Sinn es nach, V. 47 leichten fehlt. Aber die meisten dieser
Varianten sind völlig belanglos, keine findet einen Rück-
halt an der sonstigen Überlieferung, keine trägt den
") Ich unterlasse es daher auch, die unvollständige Collation
Munckers resp. Pawels zu ergänzen, und führe nur an: V. 109 nährst
V. 120 Stimme V. 135 die Thronen V. 140 in sich hervorzubringen
V. 165—166 unsterblichen | Höhern Gesänge V. 170 säume nicht fehlt
V. 189 das erste voU fehlt V. 200 welchem du winkst V. 202 Gesuhtem.
70 Schröder, Kiopstock- Studien.
Stempel der Originalität — denn die allerdings recht origi-
nelle Lesart zu Y. 8, die Muncker aufführt, ist nur der
flüchtigen Feder Cramers entflossen (s. u. 8. 85). Und nun
beachte man die Textform von Y. 23. 24 in D:
Zwar bey Barden
Wuchs ich mit dir im Eichenhayn auf:
im kann Kiopstock nicht geschrieben haben, denn in den
übrigen 12 Strophen hält er den Dactylus als zweiten Fuas
regulär fest. Also in deml Ja und nein. Die Yulgata
freilich hat diese Fassung:
Ja bey Barden
Wuchs ich mit dir in dem Eichenhain auf;
und so bietet ausser BG auch schon Gl. Aber Muncker
giebt an, *n dem sei hier aus zwar im verbessert. Eine
ganz ähnliche Handschrift muss auch D vorgelegen haben,
vielleicht die Yorlage von 6H, in welcher zwar im als eine
erwogene Lesart überschrieben war ;' etwa so
Ja bey Barden
zwar im
Wuchs ich mit dir in dem Eichenhayn auf;
Die Lesart von D kam dann so zu Stande, dass der Ab-
schreiber zwar als Ersatz für Ja, im als Ersatz für in dem
nahm.
So würden wir hier direct auf eine Originalhand-
schrift des Dichters zurückgeführt? Ich glaube es, und
wenn nicht in diesem, so haben wir im folgenden Falle
ein unabweisbares Kriterium für diesen vornehmen Ur-
sprung.
In Nr. 47 'Siona' lauten die beiden letzten Zeilen in
BG: (Siona nimmt)
Die Posaun*, hält sie empor, lässt sie laut
Im Gebirg' hallen! und ruft Donner ins Thal!
Dieses echt Klopstockische ruß Donner ist aber erst jung:
die Gleimsche Abschrift bietet dafür noch ruft donnernd,
und D hatte offenbar eine Yorlage (oder deren Copie) vor
sich, in welche der Dichter selbst die Neuerung rechts schräg
über donnernd eingetragen hatte; so kam die wunderliche
Lesung zu Stande:17)
") 8ie fehlt bei Muncker.
Schröder, Klopstock- Studien. 7]
Die Posaun, hält sie empor, last sie laut Donner
Ins Gebirg' hallen! Und ruft donnernd ins Thal!
Eine ähnliche Beobachtung machen wir bei Nr. 45
'Die Zukunft9. Hier fehlt der Abschrift Gl noch eine
Strophe, die vierte in B (V. 13 — 16); D hat sie bereits,
aber sie ist falsch eingestellt, hinter der fünften18) (Y. 17—
20): in der Vorlage wird sie am Rande gestanden haben.
Die kritische Durchsicht des Bestandes von D hat
unsere Wertschätzung auf- und niedergeschaukelt. Die
grosse Anzahl der Inedita auf der Quellentafel durfte
manchen überraschen, die nähere Prüfung Hess uns einige
von ihnen recht niedrig taxiren, andern aber haben wir
fast den Charakter von Originalmanuscripten zugewiesen;
und das ist um so mehr werth, als die Zahl der wirklichen
Autographa bekanntlich eine sehr geringe ist.
Dass Gleim für diese ungedruckten Sachen der Haupt-
lieferant gewesen ist, glaube ich wahrscheinlich gemacht
zu haben: sie können aber ihren Weg auch über Boie
nach Darmstadt gemacht haben, denn wir wissen aus
Weinhold 8. 174, wie hart man gerade ihm zusetzte bis
zum letzten Augenblick, wir wissen aus Knebels Nachlass
2, 98, dass er u. a. die 'Eisode' (Nr. 42) abschriftlich besass,
und wir wissen auch, dass Boie einer der begnadeten
Yierunddreissig war. Er wird es gewesen sein, dessen
Sendung gerade zum Abschluss der Sammlung in Darmstadt
eintraf.
3i Der Ausbund flüchtiger Poesien.
Auch nachdem im Herbst 177t durch die Hamburger
Ausgabe der Oden das dringende Verlangen des Publikums
nach einer authentischen Sammlung gestillt war, ruhte
der Sammeleifer und die buchhändlerische Speculation nicht.
Yermisste man doch eine Reihe von Gedichten, die am
schwärmerischsten bewundert, am eifrigsten hier verbreitet,
dort gesucht worden waren, Stücke die wie die Ode 'An
Gott' und die 'Als der Dichter den Messias zu singen
unternahm9 mit Elopstocks Dichterruhm aufs engste ver-
knüpft erschienen. Hatte man früher alles zusammen-
la) Danach sind Mu ackere Angaben zu berichtigen.
72 Schröder, Klopstock -Studien.
gerafft , dessen man habhaft werden konnte , so galt jetzt
die Sammlerparole einmal den aus B fortgelassenen und
dann den seit 1771 neu hinzugekommenen Stücken. Jene
zog der hessen-darmstadtische Regierungsrath Carl Georg
von Zangen aus der Darmstädter Sammlung aus und liess
sie in einem — für die Kritik selbstverständlich werthlosen
— Heftchen drucken : 'Einige Oden von Klopstock. Wetz-
lar 1780\ig) Höher hatte sich das Ziel der unbekannte
Herausgeber des 'Ausbunds flüchtiger Poesien der Deut-
schen9 gesteckt, dessen erster (und einziger) Band 'Leip-
zig in der Weygandschen Buchhandlung 1778' heraus-
kam und auf dem Titelblatte das Porträt des Odendichters in
einer hübschen Kupferrignette trug. Diese Anthologie
wird eröffnet durch 'Zwanzig20) Gedichte von Klopstock'.
Die Vorrede ist 'G— , am \V* Februar 1778' unterzeichnet
und thut sich auf die Klopstockiana nicht wenig zu gute.
Die von dem Dichter selbst verworfenen seien zwar 'Seiner
unwürdig', gehörten aber noch immer 'unter unsere besten
Gedichte9 und böten überdies das Interesse, 'die Fort-
schritte eines solchen Genies auf dem Wege zur Unsterb-
lichkeit bemerken zu können9. 'Einige andere sehr un-
vollendete Stücke9 hält der Herausgeber zurück, erklärt
aber die Echtheit aller dargebotenen, mit einem hoch-
mütigen Seitenblick auf Schubart, für unanfechtbar. Er
wusste also nichts davon, dass Klopstock die Nr. 10 beim
Erscheinen von Schubarts Ausgabe alsbald abgewiesen
hatte, auch war ihm die Ausgabe der Sämmtlichen Werke
des Wandsbecker Bothen (1. u. 2. Theil, Hamburg 1775,
vgl. Bedlich8 Ausgabe 1,16) unbekannt geblieben, nach
deren Erscheinen Chr. H. Schmid schon im Almanach d.
deutschen Musen auf 1776 S. 23 seine falsche Angabe in
betreff Nr. 11 (Almanach d. deutschen Musen auf 1772)
zurückgenommen hatte.
lf) Die Vorrede ist allerdings schon vom 6. Januar 1779 und eine
handschriftliche Widmung in dem Exemplar der Darmstädter Hof-
bibliothek vom 17. März 1779 datirt. Da* Heft umfasst folgende
Nummern von D: 2. 8. 7. 25. 31. 33. [39]. 35. 23. 19. [9]. (5). 36. [37. 38].
*•) Außälligerweise schränkt ein zweites Vorblatt die Ankündi-
gung auf 'Neunzehn Gedichte' ein. Hatte der Herausgeber etwa in
etzter 8tunde die Unechtheit von Nr. 10 (oder Nr. 11) erfahren ?
Schröder, Klopstock -Studien. 73
Wenn er demnach dem Kreise Elopstocks persönlich
kaum nahe gestanden haben kann, so waren doch seine
Quellen nicht übel. Er schöpfte aus der kostbaren Darm-
städter Ausgabe und er konnte sich sogar einiger 'noch
ungedruckter Stücke9 rühmen, die ihm von einem Freunde
des Dichters, 'mit der Erlaubniss, sie bekannt zu machen',
mitgetheilt seien. Welche Gedichte er damit meint, wird
unten klar werden; hier sei es gestattet, eine Yermuthung
über den Gewährsmann des Ausbündlers einzuschalten.
Auf die Elopstockschen Sachen folgen direct 'Drey
Gedichte von J. A. Cramer', dann ein Gedicht auf Klop-
stock (von Joh. Chph. Schmidt) und eines auf Cramer.
Diesem wird also sichtbar eine Vorzugsstellung neben dem
Höchstgefeierten eingeräumt. Das letzte der mitgetheilten
Gedichte Elopstocks, 'Fürstenlob', ist einem eben erschie-
nenen Buche des jungen Cramer entnommen. Anderseits hat
dieser Sohn, C. F. Cramer, wie wir unten (S. 79 ff.) sehen wer-
den, die Texte des Ausbunds sichtbar bevorzugt, namentlich
der Darmstädter Ausgabe gegenüber. Und auch das bleibt
beachtenswerth, dass in unserer Sammlung, was wir weder
in Seh noch in D oder sonstwo vorher treffen, hin und wieder
an der Überlieferung metrische Kritik geübt wird, schliesslich
dass eines der mitgetheilten Gedichte, Nr. 3, hier zuerst mit
einem Titel auftaucht, der dann in das Hauptwerk C. F. Cramers
überging und von Klopstock selbst in die Ausgabe letzter
Hand übernommen wurde.
Nach alledem wird man vermuthen dürfen, dass die
Familie Cramer dem Herausgeber des Ausbunds nicht
fern gestanden hat. Ihn selbst ausfindig zu machen, muss
ich einem Kundigem überlassen, der in den Personalien
der Litteratur besser zu Hause ist.
Ich lasse zunächst wieder ein Inhaltsverzeichniss mit
Quellenangaben folgen:
1. Salem S. 1 — 8 handschriftlich; erster Druck.
2. Petrarka und Laura S. 9—14 D.
3. Die Stunden der Weihe. S. 15— 17. . . abschriftlich aus N
(Züricher Freym. Nachrichten 1748) oder A (Archiv d.
schweitz. Kritik 1768).
4. Verhängnisse. S. 18. 19 D.
74 Schröder, Klopstock- Studien.
5. An Gott. S. 20—28 L (Leipziger Musen-Almanach
f. 1770).
6. An Fanny (Der Abschied). S. 29— 38 ... U (Hamburger
Unterhaltungen 1770) oder K (Königsberger Zeitung
1 770).
7. Elegie ('Der du zum Tiefsinn'). S. 39—45 D.
8. Auf die G. und H. Verbindung (Die Braut). S. 46—49 . D.
9. Die Verwandlung. S. 50—54 D.
[10. Germaniku8 und Thusnelde (von Füssli). S. 55—58 D.
oder Göttinger Musen-Almanach f. 1770].
[11. Trost (von Claudius, Ausg. v. Redlich 1, 16). S. 59 . . . . Leipziger
Musen- Almanach f. 1772].
12. An Done S. 60. 61 handschriftlich (nicht nach
Königsberger gel. u. polit. Zeitung 1764).
13. Cidli (Das Rosenband). S. 62 . . . Jf», d. i. GöU. Musen-
Almanach f. 1774.
14. Lyda (Edone). S. 63 M, d. i. Gott. Musen-
Almanach f. 1775.
15. Weissagung (An die Grafen Christian und Friedr. Leop. zu
Stolberg. S. 64—66 . . M , d. i. Gott. Musen-Almanach
f. 1774.
16. Klage. S. 67 V, d. i. Vossischer Musen-Almanach
f. 1776.
17. Jesus am Kreuze (Stabat mater). S. 68 — 71 L,
d. i. Hillers zweite Ausgabe 1776.
18. Warnung. S. 72. 73 .... V, d. i. Voss. Musen-Almanach
f. 1776.
19. Die Erscheinung. S. 74 — 77 . V, d. i. Voss. Musen-Almanach
f. 1778.
0. Fürstenlob. S. 78—80 C, d. i. Gramer, Klopstock.
Tellow an Elisa (i) S. 173.
Vor allem interessiren uns 'die noch ungedruckten
Stücke', welche die Vorrede ankündigt. Muncker hat nur
Nr. 1 'Salem' als solches anerkannt, und allerdings ist es
das einzige Gedicht, das hier zum ersten Male gedruckt
erscheint. Aber dem Herausgeber muss mindestens noch
ein zweites handschriftlich und in einer Weise zugekommen
sein, dass er es als ein Ineditum ansehen musste: diese
Erwägung führt auf Nr. 12 'An Done'.
Die Ode an Sidonie Diedrich gehörte zu den besondern
Lieblingen der Zeitgenossen. Sie war 1764 in den Königs-
berg. Gel. und Polit. Zeitungen abgedruckt worden, aber
bald wieder verschollen , und so blieb sie auch für die
Darmstadter Sammler unerreichbar (Weinhold, Boie S. 1 74).
Schröder, Klopstock- Studien. 75
Erst im September 1771 kann Herder 'das langgedachte
Gedicht' der Braut übersenden (Aus Herders Nachlass
3,93): 'Ich ha'bs unveramthet erwischt: es ist aber, nach
dem, wie mir Stellen im Gedächtniss schweben, verändert9.
Herder hatte wohl als Königsberger Student die älteste
Druckfassung gelesen, und von dieser weicht allerdings
sowohl die Gleimsche Abschrift (Gl) als diejenige ab, welche
dem Herausgeber des Ausbunds mitgetheilt wurde; gleich
in der ersten Strophe Y. 3 haben GlAb : Dies saget dir mein
Hers voll Liebe, K: Dies sagt mein Herz mit einiger (!) Em-
pfindung. GlAh repräsentiren die gleiche, verlorene Vor-
lage, und darum wird man diejenigen Lesarten, in welchen
gleichwohl eine von ihnen mit dem isolirten K stimmt, in
den Text aufnehmen müssen, für den eine weitere Quelle
oder gar eine authentische Ausgabe nicht exietirt; man
lese also V. 1 zweifelst, ob ich A* K st. dass ich Gl; Y. 6
Dies hier im Staub, und jenes dort; AbK st. Das hier Gl;
(V. 18 jetzt AhK st. tot Gl).
Yon den übrigen 18 Nummern kann der Herausgeber
selbst keine für ungedruokt gehalten haben. Nr. 2 — 10
waren in D vereinigt: man muss aber bezweifeln, dass ihm
das Heft von vornherein zur Hand war, da er einige dieser
Stücke unzweifelhaft aus andern Quellen abdruckt. Für
Nr. 5 wird dies durch die Lesart Y. 57 bewiesen : L hat
die metrische Oberladung Die Hebe grubst du auch tief
in mein Herz hinein! Ah bessert mit Beibehaltung des
falschen tief: Die grubst du mir auch tief in mein Herz
hinein! Bei Nr. 6 ist D wegen seiner falschen Lesart
Y. 1 dich st. dir KULAh, D sammt seiner Quelle L wegen
Y. 54 seufzt LD st. sagt KUAh ausgeschlossen; zwischen
IT und U kann man schwanken, doch zeichnet sich in
jedem Falle A* durch bessere Interpunction und Beseiti-
gung einiger metrisch unrichtigen Schreibungen (Y. 25
andere, Y. 106 geliebt, Y. 134 bemerkf) aus. Es ist auch
wohl möglich, dass der Sammler diese Nr. 5 und Nr. 6 bereits
anderweitig in Händen hatte, ehe ihm D (direct oder in-
direct) zugänglich wurde. — Auch Nr. 3 kann er nicht aus
D geschöpft haben: ihm fehlt der Schnitzer Y. 23 Nicht
höret, mit dem D gegenüber Nicht fühlet NAKSch allein
76 Schröder, Klopstock -Studien.
steht. Da nun K und Seh durch andere Fehler ausge-
schlossen sind, so wird die Abschrift, welche dem Heraus-
geber des Ausbunds zugleich mit dem definitiven Titel
'Die Stunden der Weihe' zukam und die ihrerseits nur
6ine neue Lesart (V. 27 Mir nahe st. Annähere) bietet,
direct auf N oder A zurückgehn.
Für Nr. 2 und Nr. 4 ist eine andere Quelle als D
ausgeschlossen, für Nr. 7. 8. 9 ist es praktisch gleichgiltig.
ob D oder dessen Vorlage S abgedruckt ward, es lohnt
nicht die unbedeutenden Sächelchen aufzuzählen, welche
für D sprechen. Noch weniger interessirt uns die Ent-
scheidung zwischen D und dem Göttinger Musen- Almanach
für das unechte Stück 10.
Für die gleichfalls unechte Nr. 1 1 wurde der Leipziger
Almanach für 1772 benutzt, der das Gedicht zuerst Klop-
stock zugesprochen und V. 3 die falsche Lesart Wachset
st. Keifnet eingeführt hatte. — Die Vorlage von Nr. 13
wird durch den Titel 'Cidli' bestimmt, der im Göttinger
Musen -Almanach f. 1774 zuerst auftaucht. Ähnlich steht
es bei Nr. 14 'Lyda'. — Bei Nr. 17 entscheiden die Les-
arten V. 9 Drang, V. 36 gebeut für die angegebene Vor-
stufe gegen alle früheren Abdrücke.
Bei den nun noch übrigen Stücken ist ein Zweifel
über die Quelle nicht möglich, und es wäre völlig gleich-
giltig, wenn nachträglich etwa noch ein bei Muncker fehlen-
der Abdruck aufgefunden und auf Grund graphischer Vari-
anten als die Zwischenstufe, die eigentliche Vorlage, nach-
gewiesen werden sollte.
Als originale Quelle kommt der Ausbund nur für Nr. 1
und Nr. 12 in Betracht, aber für die weitere Textgeschichte
haben auch einige andere Stücke Interesse, wie sich im
folgenden Kapitel herausstellen wird.
4. Odentexte und Lesarten in Cramers 'Klopstock.
Er; und über ihn'.
Von C. F. Cramers grossem Commentar zu Klopstocks
Leben und Werken, der bekanntlich Torso geblieben ist,
kommen für die Textgeschichte der Oden nur die Bände
Schröder, Klopstock- Studien. 77
!, 2, 3 (Hamburg 1780, Dessau 1781ai), 1782) in Frage.
Über die Hilfsmitte], die Textquellen besonders, welche dem
Sohne Johann Andreas Cramers zur Verfügung standen,
konnte man leicht übertriebene Vorstellungen hegen, wie
das noch Pawel S. lOf. thut. Muncker theilt dies Vor-
urtheil nicht (S. VIIL IX der Ausgabe), aber auch er hat
keinen Versuch gemacht, Cramers Lesarten gegenüber eine
feste Stellung zu gewinnen. Vielmehr spielen die mit C
bezeichneten Varianten in seinem Apparat eine unklare und
bedenkliche Rolle, und so erscheint eine Quellenunter-
suchung auch hier dringend nothwendig.
Was uns Cramer selbst dafür an die Hand giebt, ist
nicht viel. Die Hauptquelle für seine Textabdrücke (aber
keineswegs die einzige, wie es nach Muncker S. IX oben
scheinen muss), die Ausgabe B braucht er uns freilich
kaum ausdrücklich zu nennen (2, 396). Von D hatte er
das Exemplar Boies in Händen (1,222) und er charakteri-
sirt die Sammlung hart, aber richtig; weiterhin bezieht er
sich ausdrücklich auf sie 1,251. 3,367. 378. 403. Den
'Ausbund' nennt er 1, 251 , die 'Sammlung vermischter
Schriften, Theil 3' citirt er 3, 382, gegen Schubarts Kritik
der Ode 'An Gott1 wendet er sich 2,301, und auch 2,351,
in der Anmerkung zur Ode 'Die Verwandlung', verräth
sich Bekanntschaft mit Schubarts Ausgabe, indem er den
Titel 'Der Adler', der dorther stammt, als gleichberechtigt
— aber gleich unecht — zur Wahl stellt. Des Besitzes
von Originalhandschriften oder directen Copien rühmt
er sich nirgends — und er hat auch in derThat keine
einzige besessen!
Ich schalte nun abermals eine tabellarische Quellen-
übersicht ein, wobei ich zur bequemern Benutzung alles
nicht aus B Stammende mit einem * auszeichne.
1. Der Lehrling der Griechen, 1, 164—168 B.
") Die von Pawel (a. a. 0. S. 10), Hamel (Klopstocks Werke
3, XXIV) und Muncker (Klopstocks Oden 1, 60, Lesarten) benutzten
Exemplare des 2. Bandes mit der Bezeichnung 'Leipzig und Altona
1790* müssen einer von dem Verleger der Fortsetzung (Bd. 4. 5) ver-
anstalteten Titelauflage augehören. Das Marburger Exemplar hat
richtig 'Dessau, in der Gelehrten Buchhandlung. 1781'.
78 Schröder, Klopstock- Stadien.
■
2. Wingolf. 1, 169-220 B.
*2 a. Ältere Lesearten zu Wingolf (aus der Darmstadter
Ausgabe). 1,221—244 (im Strophenskelett) . . D.
*3. Verhängnisse. 1,245—251 Ah.
4. Die künftige Geliebte. 1 , 252—269 Ä
*4a. Ältere Lesearten zu dieser Elegie. 1,269—271 D.
5. An Giseke. 1,277—279 - B.
*5a. Ältere Lesearten. 1,28222) D.
6. An Ebert. 2, 11—17 B.
*6a. Ältere Lesearten. 2,17—20 D.
*7. Petrarka und Laura. 2,259—264 Ah.
8. Selmar und Selma. 2,264—268 B.
* 9. Die Stunden der Weihe. 2, 269—272 AK
♦10. Salem. 2,272-277 Ab.
11. Bardale. 2,278-284 B.
♦IIa. Ältere Lesearten. 2,284—286 2).
12. An Fanny. 2, 285—290 B.
*12a. Ältere Lesearten. 2, 290. 291 D.
♦13. An Fanny (Der Abschied). 2,291—300 Ah.
»14. An Gott. 2,301—309 AK
*14a. Ältere Lesearten. 2,309. 310 D.
♦15. Elegie (Der du zum Tiefsinn). 2,332—339 Ah.
«16. Auf die G. und H.Verbindung (Die Braut). 2,339—342 AK
1 7. Heinrich der Vogler. 2, 343—345 JB.
*17a. Ältere Lesearten (Kriegslied). 2,345. 346 ... . D.
[•18. Liebeslied. Zur Nachahmung des Kriegsliedes. 2,346—540 2>.)
[•19. Trinklied. Zar Nachahmung des Kriegsliedes (!). 2, 349—351 2>.]
•20. Die Verwandlung. 2,351—354 Ab.
21. An Bodmer. 2, 377—379 B.
♦21 a. Ältere Lesearten. 2,379 D.
22. Der Zürchersee. 2, 380—388 B.
•22a. Ältere Lesearten.. 2, 388. 389 D.
23. Friedrich der Fünfte. 2, 390—398 B.
*23a. Lesearten 'von 1755'. 2,396—397 K
(Kopenhagener Ausg. des Messias 1755).
•23 b. Lesearten Won 1751' (zum Text von 1755).
% 397—398 . . . . H (Messias von 1751) oder D.
24. Friedrich der Fünfte. An Bernstorf u. Mol tke. 3,14—18 B.
J*26. An Meta (von Füssli) 3, 19—25 D.]
26. Dem Erlöser. 3, 308—319 D.
•26 a. Ältere Lesearten. (Die Hofnungen des (!) Christen).
3, 319—320 D.
27. Die todte Clarissa. 3,320—325 B.
28. An Cidli (Die Verwandelte). 3, 326—331 B.
") Die Seiten-Zählung überspringt hier 2 Zahlen.
Schröder, Klops tock- Stadien. 79
29. Friedensburg. 3, 332—337 B.
30. Die Königin Luise. 3, 348—358 B.
•30a. Ältere Lesearten. (An den König) 3, 357. 358 . . D.
31. Herman und Thusnelda. 3,359—362 B.
•31 a. Ältere Lesearten. 3,362 D.
32. Fragen. 3, 363—368 B.
*32a. Ältere Lesearten. 3, 367. 368 («aus der darmstädt.
Sammlung1) D.
33. Die beiden Musen. 3, 369—379 B.
♦33 a. Ältere Lesearten. 3, 378. 379 ('aus der darm-
städt. Ausgabe*) 2).
34. An Young. 3, 380-382 B.
♦34 a. Ältere Lesearten. 3, 382 ('aus der Sammlung
verm. Schriften') S III 3,198.
35. An Cidli ('Unerforschter als sonst'). 3, 383—389 . . B.
36. An Cidli (An Sie). 3, 390. 391 B.
37. Cidli (Ihr Schlummer). 3, 392. 393 B.
38. An Gleim. 3, 394-403 B.
♦38 a. Ältere Lesearten. 3, 403. 404 ('aus der darm-
städt. Sammlung') 2).
39. Cidli (Furcht der Geliebten). 3,405 B.
40. Der Rheinwein. 3,426—433 B.
41. Für den König. 3,434-442 B.
♦41 a. Ältere Lesearten ('Psalm1). 3, 442 . Einzeldrucke
(K, H) oder D.
42. An Cidli (Gegenwart der Abwesenden). 3, 443—447 . B.
43. Cidli (Das Rosenband). 3,448 Ah.
44. Die Genesung. 3,449—452 B.
Zählen wir die drei unechten Stücke ab, von denen
Nr. 18. 19 wahrscheinlich, Nr. 25 ausdrücklicher Angabe
gemäss aus D entnommen sind, so bleiben 41 vollständige
Odentexte übrig. Von ihnen sind 31 aus 2?, der Ham-
burger Ausgabe von 1771, abgedruckt; bei dem Rest von
10 Stück habe ich den Ausbund (Ah) als Quelle angegeben,
was zu begründen bleibt. Denn Muncker notirt als Quelle
Cramers den Ausbund nur da, wo dieser den Erstlings-
druck bietet: bei Nr. 10 'Salem'.
Bei Nr. 3 ergiebt sich Ab als Vorlage von C durch
Gleichheit der Interpunction : V. 6 ist: AhC ist. D. — V. 26
sie; AhC sie - D. — V. 27 lieben; AhC lieben, D. —
Ebenso stimmen die grossen Anfangsbuchstaben in V. 21
Himmlischen AhC und V. 26 Geringers AhC gegen D.
Wichtigere Lesarten fehlen.
SO Schröder, Klopstock- Studien.
Für Nr. 7 wird das Verhältniss schon im Titel durch
Petrarka AbC Petrarch D angedeutet, durch V. 1 von mir
kaum angeschaut AbC gegenüber mir kaum angeschaut D
wahrscheinlich gemacht ss) und durch das Fehlen der beiden
Plusverse von D nach V. 40 festgestellt.
Nr. 9: für ein nahes Verhältniss zum Ausbund ent-
scheidet die Überschrift 'Die Stunden der Weihe9, die dort
zuerst auftaucht. Im übrigen hat C in dieser Ode zwei
Fehler, die zufälligerweise auch bei Schubart vorkommen :
in der ersten Plusstrophe (der altern Fassung) Narren st.
Narrn und V. 31 du mir st. du nur. Der metrische Ver-
stoss, den auch D begeht, will gar nichts besagen, und der
andere ist ein Setzerversehen, das bei Cramer noch ein-
mal, 2, 310 in einer Lesart aus D wiederkehrt: 'An Gott"
V. 90 sich nur st. sich mir. — D ist als Quelle schon durch
V. 23 nicht höret st. nicht fühlet NAK8chAb C ausgeschlossen :
dass aber C in V. 27 eine isolirte Lesart von Ab Mir nahe
st. Annähre NAKSchD nicht mitmacht, darf nur so erklärt
werden, dass Cramer diese Ode, die zu den bekanntesten und
gefeiertsten gehörte, zu gut im Kopfe hatte. Es ist übrigens
das einzige Mal, dass wir zu diesem Auskunftsmittel zu
greifen brauchen.
In Nr. 13 bringt D gleich V. 1 einen Fehler über dich
st. über dir KULAbC. D und zugleich seine Vorlage L
werden ferner ausgeschlossen durch V. 54 mehr als es selbst
sagt LD statt mehr als es selbst seufzt KUAhC. Der Aus-
bund schliesslich wird gegenüber KU als Quelle erwiesen
durch den Fehler V. 83 mein unbemerktes Leben AhC st.
m. u. Lieben KU(LD).
Nr. 14 'An Gott1 bietet die Redaction des rechtmässigen
Einzeldrucks H, während der unbefugte Erstlingsdruck A,
der D zu Grunde liegt, eben nach D in den Lesarten er-
scheint. H ging in X, den Leipziger Musen -Almanach
f. 1770, über und erfuhr hier u. a. die Entstellung V. 57
Die Liebe grübst du auch tief in mein Herz hinein, indem
tief aus V. 53 eindrang. Mit diesem Fehler ging die Fas-
sung in Ab über. Cramer sah wohl, dass der Vers über-
23j Über die vermuthHch verloren gegangene echte Lesart s. S. 86 f.
Schröder, Klopstock- Studien. ${
laden war, aber statt das fehlerhafte tief wieder heraus-
zuwerfen, beseitigte er Liebe und schrieb: Die grubst du
mir auch tief in mein Hers hinein.
Nr. 15 weist freilich Ab zwei leicht zu bemerkende
Druckfehler auf, die in C wieder beseitigt sind: Y. 2 aller
st. aller, V. 31 brauchbaren st. brauchbarem. Dagegen sind
zwei metrische Fehler AhC (und nur diesen) gemeinsam:
V. 17 hört st. höret, V. 67 sahst st. sähest; die Interpunction
stimmt an etwa einem Dutzend Stellen auffallig, und völlig
entscheidend ist für die Verwandtschaft der Wechsel
V. 42 Jezo — V. 51 Im AhC, während B beidemal Izo, S
beidemal Jezo bietet.
Bei Nr. 16 fehlen entscheidende Lesarten. In der
Schreibung und Interpunction aber spricht für Ab als
Quelle von C: V. 16 vorrüberrauscht; AbC gegen vorüber
rauscht; B. — V. 33 Ja! AhC gegen Ja, B. — V. 40 Thor-
heU, AhC gegen ThorheU B.
In Nr. 20 hat C den Hiatus V. 53 liebe, im Ab be-
seitigt: lieb9, im = B. Aber die Interpunction spricht ent-
scheidend für Ab als Vorlage; ich greife nur die Anwen-
dung des Ausrufungszeichens heraus: V. 4. 6. 10 mehr!
AhC mehr. B. — V. 15 Er schaff ne! AbC erschafne, B. —
V. 26 warst! AhC warst. B. - V. 54 nicht! AhC nicht. B.
Es bleibt Nr. 43, wo auch die Kriterien der Inter-
punction nicht ausreichend sind, um zwischen Ab und
seiner Quelle, dem Göttinger Musen -Almanach f. 1774 zu
entscheiden: man wird es aber schwerlich mehr gewagt
finden, dass ich, nachdem Ab für alle andern (9) ihm mit
C gemeinsamen Odentexte als Quelle festgestellt ist, ge-
trost auch diesen zehnten und letzten auf sein Conto ge-
setzt habe.
Das Resultat, welches meine Tabelle vorausnahm , ist
jedenfalls gesichert : für die vollständigen Textabdrücke hat
C überall, wo ihm B und Ab zur Verfügung standen, zu
Ah gegriffen: in 8 Fällen. Ausserdem entnahm Cramer Ab
eine ältere Ode 'Salem', welche dort zum ersten Male gedruckt
war, und eine jüngere 'Das Rosenband', für die ihm even-
tuell auch der Göttinger Musen -Almanach zur Hand war.
D ist für die Texte nirgends benutzt.
Vierteljahrechrift für Utteraturgeschichte V 6
g2 Schröder, Klopstock- Studien.
Um so reichlichere Ausbeute gewährte D für die An-
merkungen, in welchen Gramer 'Altere Lesearten ver-
zeichnet Solche Yarianten sind zu 19 Oden gegeben (zu
18 aus B, zu einer aus Ah abgedruckten), und zwar zu
Nr. 23 von zwei Texten, wahrscheinlich direct aus den
Messias -Ausgaben von 1755 und 1751. Zu Nr. 34 giebt
Cramer die 'Sammlung vermischter Schriften9 (S) als Quelle
an: es ist das der gleiche Text wie in D. Dieses selbst, die
Darmstädter Ausgabe, wird viermal ausdrücklich für die
Lesarten citirt: zu Nr. 2. 32. 33. 38, aber auch in allen
übrigen (13) Fällen kommen wir damit aus, keine einzige
Lesart weist mit Bestimmtheit über die Darmstädter Fassung
hinaus — obgleich freilich an Abweichungen kein Mangel ist.
Diese Abweichungen, die in Munckers Apparat zu ge-
fahrlichen Ehren gelangt sind, lassen sich etwa in vier Rubriken
unterbringen: 1) zunächst ist eine Anzahl unbedeutender
Yarianten theils übersehen, theils mit Absicht übergangen;
2) ungemein häufig tritt der bekannte Collationsfehler auf,
dass als Yariante der Grundtext, die Yorlage B, wieder-
holt wird; 3) nicht selten begegnet der Fall, dass durch
Contamination beider Texte eine scheinbare Übergangs-
variante entsteht; 4) unter dem Eintragen der Lesarten hat
Cramer, in den meisten Fällen stillschweigend, Emen-
dationen vorgenommen: dabei sind nicht nur eine Reihe
von Lesarten unter den Tisch gefallen, sondern auch neue,
originelle, tauchen auf.
Es ist daher nicht nur überflüssig, sondern geradezu
verhängnissvoll, die Cramerschen 'Lesearten' in den Varianten-
apparat einer Odenausgabe aufzunehmen: wer, ohne über
das oben klar gelegte Quellenverhältniss und über Cramers
Verfahren genau unterrichtet zu sein, sich aus diesen
Yarianten (wie sie etwa bei Muncker stehn) einen Text
reconstruiren wollte, würde in den meisten Fällen nicht
auf die wirklich collationirte , meist D entnommene, Fas-
sung kommen, sondern auf einen Text, der zwischen D
und B in der Mitte steht (Fehlerquellen 1 , 2, 3) und über-
dies noch originelle Lesarten aufweist (Fehlerquelle 4).
Muncker sagt uns nun freilich S. IX der Vorrede , er
habe C nur dann ausdrücklich angeführt, 'wenn Cramer
Schröder, Klops tock- Stadien. 83
in wichtigen Punkten von D abweicht, besonders wenn er
für Fehler seiner Yorlage brauchbare Conjecturen angiebt'.
Unter 'brauchbaren Conjecturen' versteht man doch nur die,
welche dem Kritiker die Wiederherstellung eines verderbten
Textes, einer entstellten Version erleichtern. Kommen der-
artige Conjecturen Cramers wirklich in Frage ? So viel ich sehe,
nirgends ! Die Lesarten von (7, welche den Variantenapparat
Munckers zuweilen unverdaulich machen, sind bei näherem
Zusehen grossentheils solche, die nur einer Confusion oder
Contamination der beiden verglichenen Texte ihr Dasein ver-
danken; eine kleinere Gruppe stellt allerdings metrische
Emendationen dar — aber durchweg an Stellen, wo sie
durch die anderweitige gute Überlieferung hinfallig werden !
Freilich giebt es bei Muncker eine Anzahl von C-
Varianten, die sich wie gute Conjecturen ausnehmen, aber
die verdanken wir nur einem höchst wundersamen Ver-
fahren des Herausgebers, der da, wo Cramer eine Variante
zu 2?, sei's aus Versehen sei's aus Gleichgiltigkeit, unter-
drückt, ihm die Lesart des JB-Textes selbst unterschiebt.
Das tritt in verblüffender Weise zu Tage bei Nr. 2 'Win-
goir, beispielsweise V. 109 und V. 163 des alten Textes.
V. 109 bot die älteste uns zugängliche Fassung Gh: Wenn
du nur einen jedes Jahrhundert rührst, und auf sie geht die
Lesart nährst D zurück: eine Verlesung, aber keine sinn-
lose. B hat dafür das blassere nimst, wie es Klopstock
schon in die Gleimsche Abschrift eingetragen hat (Gh).
Cramer nun will, ausdrücklicher Angabe gemäss, die Ab-
weichungen von D gegenüber B notiren, übersieht aber
jenes nährst2*), und nun trägt Muncker 'nimst CP in seinen
Apparat ein! Ähnlich liegt es in V. 163, wo C die Lesart
Neigung D übersehen hat und nun mit der von B Beizung
in die Varianten kommt.
Hier sind dem guten Cramer 'brauchbare Conjecturen'
untergeschoben, an die er wahrlich entfernt nicht gedacht
hat; sehen wir uns nun ein paar an, die ihn thatsächlich
zum Urheber haben. Nr. 2 V. 42 Lieb vom Hoinerus2*),
*4) Wie übrigens auch Muncker es übersehen hat.
ls) Homerus schreibt der junge Klopstock auch 'An Giseke' V. 11.
6*
$4 Schröder, Klopstock- Stadien.
lieb vom Maro Gl hat D entstellt: IAA vom Homer, Zw*
vom Maro; wenn nun C, dem Verse metrisch aufhelfend,
schreibt: Lieb vom Homer und lieb vom Maro, hat diese
Conjectur für uns, die vir aus Gl ja die ursprüngliche
Passung kennen, überhaupt einen Werth? — V. 110 heisst
es in Gh Und ihn den weisem Sterblichen zugesellst; D ge-
rieth in V. 107 zurück und schrieb Und den weisern Völker-
schaften zugeselst ; C änderte aus metrischer Empfindlichkeit
Und weiser Völkerschaften ihn zugesellst, hat aber dabei
weder der Grammatik noch dem Sinn Genüge gethan.
Gleichwohl kommt die Lesart bei Muncker in den Apparat
— doch nicht als 'brauchbare Conjectur'? — Fortgelassen
hat Muncker dagegen die Varianten von D und C zu
V. 140 Die dich in sich zu erschaffen stark sind Gl; D setzt
nachlässig für zu erschaffen ein hervorzubringen; C bemerkt
die Überladung des Verses, wirft aber irrthümlicher Weise
in sich heraus und schreibt: Die dich hervorzubringen stark
sind. Das wäre eine Conjectur, zu der ein Herausgeber viel-
leicht als Nothbehelf greifen durfte, so lange ihm die ältere
Fassung der Freundschaftsode nur aus D bekannt war. Jetzt
aber, wo wir Gl besitzen und den Gang der Verderbniss
übersehen, sind solche Varianten nur werthloser Ballast,
wo nichts schlimmeres. Eine Lesart z. B., wie sie Muncker
zu 'Bardale' (ältere Form) V. 24 anführt, muss jedermann
auf die Vermuthung bringen, dass C mindestens hier eine
handschriftliche Fassung vor sich hatte: im Text steht
Keinen Göttern, die Variante aus C hat Nicht den Göttern.
Ein Blick in die Dannstädter Ausgabe klärt die Sache auf:
D hat aus S den Lesefehler Rein Göttern29) übernommen,
und Cramer, der für metrische Fehler ein feines Ohr, aber
kein Auge für graphische Entstellung hatte, emendirte
Nicht den statt des naheliegenden Keinen, indem er sich
zugleich an die jüngere Fassung von B anlehnte.
Das waren Beispiele für die unter 1) und 4) ange-
zeigten Abweichungen. Für die unter 2) markirten mögen
einige besonders kräftige Proben genügen. Bei Nr. 22
('Zürchersee') ist als Lesart des Schlusses (V. 76 — 78) die
Fassung von B wiederholt; noch ärger bei Nr. 14 ('An
") Fehlt bei Muncker.
Schröder, Klopstock- Studien. 85
Gott'), wo als angebliche Piasstrophe der altern Fassung
eine ganze Strophe (Y. 49 — 52) in extenso abgedruckt
wird, die dem voranstehenden JS-Text durchaus nicht fehlt.
Die Contaminationen (oben 3) sind verschiedener Art.
Mehr vereinzelt ist ein Fall wie in Nr. 33 ('Die beiden Musen9)
Y. 8, wo C aus zwei Zeilen von D eine neue, ganz un-
sinnige Lesart zusammenmischt. Der Yers lautet in D
ganz wie in GIB: Wehende Palmen im Abendschimmer,
Cramers Auge aber irrte auf V. 10 Kühn in die Schranken
u. a. w. ab , und so entstand die Missgeburt Kühn in dem
Schimmer des Abends Palmen. Sie ist sogar mit der Chiffre
D(!) in Munckers Apparat gekommen ! — Weit häufiger und
im Apparat weit lästiger sind jene Lesarten, wo C, indem
er eine Lesart von D notiren will, doch halbwegs in seinen
Grundtext zurückfällt, sodass es den Anschein hat, als ob
seine Yariante resp. der Text, aus dem er schöpft, zwischen
B (resp. Ah) und D (resp. S) in der Mitte stehe. Beispiele :
Nr. 5 V. 12
verweht B rauscht D
weht C.
Nr. 6 V. 31
Ach in schweigender Nacht B Um die Mitternachtszeit D
Ach um Mitternachtszeit C.
Nr. 11 V. 42
Bist du Bläue der Luft B Bist du ein blauer Olymp D
Bist du blauer Olymp C.
Nr. 14 V. 38
Dir schnelle Augenblicke, Ab Die Augenblicke, weinend D.
Dir Augenblicke weinend C.
V. 34 V. 2. 3.
dass sie dir rinnen, und, dir zu rinnen,
stehn steht
Schon die freudige Thränen B Manche freudige Thräne S
und dir zu rinnen stehn
Manche freudige Thränen C.
Der psychologische Yorgang, der zu derartigen unge-
nauen Angaben in zahlreichen Fällen geführt hat, erscheint
höchst einfach, wie ich die Beispiele hier vorführe. So
gß Schröder, Klopstock -Studien.
aber wie sie bei Muncker hier and da im Apparat stehn,
müssen sie verwirren und irre leiten. Wir kommen also
zu der unabweisbaren Forderung, dass principiell aas
einem Apparat zu Klopstocks Oden nicht nur
Cramer8 Texte, sondern vor allem auch seine Les-
arten fern zu halten sind: die Texte wie die Lesarten
sind durchweg aus uns bekannten und bequem zugang-
lichen Quellen geschöpft, die Lesarten überdies durch Willkür
und Unachtsamkeit in einem Grade zerrüttet, dass sie im
Apparat nur Unheil stiften können.
Anhang: Zur Beurtheilung der Odenausgabe
von 1798 (£).
Ich lasse diesem principiellen Verlangen alsbald eine
kleine Einschränkung folgen. Yon Cramers Text-
abdrücken nämlich haben einige für die weitere Geschichte
des Odentextes eine gewisse Bedeutung, die bisher nicht ge-
würdigt worden ist ; denn Elopstock selbst hat sich mit ihnen
beholfen, als er für die Ausgabe letzter Hand eine Auswahl
unter den in B nicht aufgenommenen Oden seiner Jugend-
zeit traf. Er nahm in diese Ausgabe G nachträglich —
ausser dem 'Rosenband', das in B bekanntlich nur durch
ein Versehen fortgeblieben war — die folgenden Stücke auf:
'Salem' 1,39. 'Petrarcha und Laura' 1, 45. 'Der Ab-
schied' 1,57. 'Die Stunden der Weihe' 1,65. 'An
Gott' 1,68. 'Die Braut' 1,78.
Dass der Titel 'Die Stunden der Weihe' zuerst in
Ah auftaucht und aus C in O überging, ward erwähnt.
Zum mindesten bei noch drei weiteren Stücken lässt sich
die Benutzung des Cramerschen Textes oder aber des
Ausbunds wahrscheinlich machen.
Zunächst bei 'Petrarcha und Laura', wo schon Erich
Schmidt für die Fortlassung der beiden in D erhaltenen
Plusverse nach V. 40 Gramer (genauer dessen Vorlage Ah)
verantwortlich gemacht hat (Quellen und Forschungen 39,
82). Hier ist übrigens noch das eigenthümliche Schicksal
der ersten Zeile bemerkenswerth ; sie lautet in der ersten
Fassung D:
Ändern Sterblichen schön, mir kaum angeschaut;
Hauffen, Schröders Kaufmann von Venedig. 87
wenn man sich ähnlicher Dative bei Klopstock erinnert,
wie etwa 'Künftige Geliebte' (ND) V. 48
tviU da
Keinem Zeugen behorcht, keinem beobachtet sein,
und bedenkt, wie viel leichter in solchem Falle ein Flick-
wort, als etwa ein von fortgelassen werden konnte, so er-
scheint die Conjectur berechtigt.
Andern Sterblichen schön, mir kaum (noch) angeschaut.
Anders ergänzten AhC: von mir kaum angeschaut, und
Klopstock selbst besserte abermals: kaum noch gesehn
van mir.
Ein zweites Gedicht, das Klopstock aus C nahm, ist
'Der Abschied' (früher 'An Fanny'). Hier hat er V. 83
den in Ah aufgekommenen Druckfehler mein unbemerktes
Leben st. Lieben KULD, an dem auch C keinen Anstoss
genommen hatte, in die Ausgabe letzter Hand verpflanzt.
Am merkwürdigsten erscheint es, dass der Dichter sogar
für die Ode cAn Gott', von der er selbst doch eine Einzel-
ausgabe besorgt hatte, seine Zuflucht zu Gramer nahm:
aus ihm hat er die Fassung des Y. 57 entnommen: Die
grubst du mir auch tief in mein Herz hinein /, deren Vor-
geschichte ich oben S. 80 f. gegeben habe.
Damit ist aber auch die Bedeutung Cramers für die
Kritik und Geschichte des Klopstockschen Odentextes er-
schöpft : für die Würdigung von Stil und Form, ja für das
poetische Yerständniss der Gedichte wird sein grosses Werk
stets einige Bedeutung behalten, und wer immer die Stimmung
der engern Klopstockgemeinde kennen lernen will, wird an
Cramer einen zwar weitschweifigen und überschwänglichen,
aber unleugbar feinfühligen Führer finden.
Marburg i. H. Edward Schröder.
Schröders Bearbeitung des 'Kaufmanns
von Venedig'.
Die Bearbeitung des Shakespeareschen 'Kaufmanns von
Venedig', die Friedrich Ludwig Schröder für die Ham-
burger Bühne im Jahre 1777 fertig gestellt hat, galt bis-
gg Hauffen, Schröders Kaufmann von Venedig.
her für verloren. Genee (Geschichte der Shakespeareschen
Dramen in Deutschland, Leipzig 1870 S. 250 Anm.) sagt
darüber: 'Es existirte wohl ein unrechtmässiger Druck
davon, den ich jedoch bis jetzt nicht erlangen konnte9, und
Litzmann (Schröder und Gotter, Hamburg und Leipzig 1887
S. 82 Anm. 29) : 'Die Bearbeitung scheint nie gedruckt worden
zu sein9. Auch andern, die in allerneuester Zeit über
Schröders Beziehungen zu Shakespeare gehandelt haben 1),
ist diese Bearbeitung unbekannt geblieben. Schröders
'Kaufmann von Venedig' ist aber im Druck erschienen und
zwar in dem allerdings selten gewordenen Werke: thea-
tralische Sammlung, Wien bei Johann Jos. Jahn, 1791'
Band 16 S. 1 ff. unter dem Titel: 'Der Kaufmann von Venedig,
ein Lustspiel in vier Aufzügen von Schröder9. 'Unrecht-
mässig' kann man diesen Druck insofern nennen, als er
nicht vom Verfasser, sondern vom Verleger veranstaltet
wurde. Da aber diese Bearbeitung mit den Nachrichten,
die Schröder in den Briefen an Gotter selbst darüber giebt,
genau übereinstimmt (wie unten gezeigt werden soll) und
da ferner eine handschriftliche Fassung an der Bibliothek
des Hamburger Stadttheaters (wo z. B. Schröders Macbeth
handschriftlich liegt) nicht vorhanden ist 8), so muss uns der
Wiener Druck genügen.
Im Frühling 1777 hat Schröder begonnen für die Ham-
burger Bühne, die damals seiner Leitung unterstand, den
'Kaufmann von Venedig9 zu bearbeiten. Er sandte die
Handschrift der Arbeit zur Begutachtung an Gotter, mit
dem er seit 1776 freundschaftlichen Verkehr pflegte. Gotter
*) Neben dem altern Aufsatz des Freiherrn von Vincke: Shakespeare
und Schröder, Shakespeare- Jahrbuch 11, 1 ff., undünflad, DieShakeepeare-
litteratur in Deutschland, München 1880, vgl. vor allem: Merochberger,
Shakespeare-Jahrbach 25, 214—268; Albert Köster, Schiller als Drama-
turg, Berlin 1891, S. 62—67 (über Schröders Macbeth) und Brauns, Die
Schröderflehe Bearbeitung des Hamlets, Breslau 1890. Brauns stellt
hier die unhaltbare Vermuthung auf, dass Lessing den Monolog 'Sein
oder nicht sein' für Schröders Bearbeitung verfasst habe (Anzeiger f.
deutsches Alterthum u. deutsche Litt. 17, 175 f.). Vgl. auch Hauffen,
Das Drama der klassischen Periode 2, 1 (Deutsche National-Litteratur
Bd. 139) S. 94—96.
*) Wie mir H. M. Riccins freundlichst mitgetheilt hat.
Hauffen, Schröders Kaufmann von Venedig. 89
besass ein aussergewöhnliches Geschick fremdländische
Bühnendichtungen zu übersetzen, nachzuahmen und zu lo-
calisiren und er ward ein eifriger Mitarbeiter an Schröders
Übersetzungen. Er hat, wie wir aus den Briefen Schröders
an ihn ersehen s), auch an der Bearbeitung des 'Kaufmanns
von Venedig' theilweise mitgeholfen. Im October war die
Arbeit fertig und am 7. November 1777 ward das Stück in
Hamburg zum ersten Mal aufgeführt. Dorothea Ackermann
gab die Porzia, Schröders Gattin die Nerissa, Sohröder selbst
erzielte als Shylock den grössten Erfolg. Über sein Spiel
berichtet Schütze *) : 'Schröder errang als Jude Shylock neue
Lorbeern in dem Kranze seines Ruhmes. Eine treffliche
Nachahmung jüdischer Sitte und Benehmens mit dem
feinsten Beobachtungsgeiste der Judennatur abgelauscht';
und Meyer5): 'Der Jude stand da, den Shakespeare sah!
Mir ist kein Schauspieler vorgekommen, der sich ihm ge-
nähert'. Das Stück hielt sich auf der Bühne. Es wurde
bis Ostern 1778 sechsmal aufgeführt. Für das darauffolgende
Jahr fehlen die Nachrichten. 1781 wurde es einmal, von
1786—1795 noch zwölfmal gegeben.6)
Schröders Bearbeitung hat vier Acte, die der Scenen-
folge bei Shakespeare also entsprechen : Schröder Act I =
Shakespeare I, 1.3. II, 2. Sehr. II = Sh. I, 2. II, 1. 7. 9.
8. DI, 1. 3. Sehr. HI = Sh. III, 2. (4). Sehr. IV = Sh. IV,
1. (2).
Wie bei seinen übrigen Shakespearebearbeitungen ist
Schröder auch hier vor allem bemüht, das Drama des
grossen Briten dem platten Theatergeschmack seiner Zeit-
genossen anzupassen, Einheit der Zeit und des Ortes zu
ermöglichen, den dramatischen Aufbau zu vereinfachen,
durch Striche und Verschiebungen den beschwerlichen
Wechsel der Decorationen zu vermeiden, alles Ausser-
gewöhnliche, Poetische in der Handlung und den Charakteren
in die Sphäre des Alltaglichen und Spiessbürgerliohen herab-
zudrücken. Aber nur dadurch, dass Schröder sich bei der
») Litzmann , a. a. 0. S. 45. 58. 68. 74. 77. 79.
4) Schütze, Hamburger Theatergeschichte 1794, S. 461.
*) Meyer, F. L. Schröder 1819 1, 297.
*) Merschberger, a. a. 0. S. 226 f.
90 Hauffen, Schröders Kaufmann von Venedig.
Bearbeitung Shakespearescher Dramen vom einfachen Haus-
verstande, statt von dichterischer Empfindung und Ein-
bildungskraft leiten Hess, dadurch, dass er in seinem Lear,
Hamlet, Othello, Richard II. den tragischen Ausgang ver-
mied oder milderte, die Grossartigkeit des Hintergrundes
opferte, den Kampf des Helden gegen das Schicksal zu
einem vorübergehenden Ereigniss in dessen Leben um-
wandelte, dadurch machte er überhaupt eine Auffuhrung
dieser Dramen zu seiner Zeit möglich. Seine Bearbeitungen
stehen doch hoch über den Shakespeare -Verballhornungen
eines Heufeld, Grossmann, Engel, Dalberg, Brömel, Petzel,
Schink, Stephanie u. a. in derselben Zeit. Schröders Erfolg:
die endgiltige Einbürgerung Shakespeares auf der deutschen
Bühne rechtfertigt sein Verfahren.
Gestrichen hat Schröder aus dem Personenverzeichniss
des 'Kaufmanns von Venedig' die Episodenfiguren Jessica
und Lorenzo. Lorenzos Flucht mit der schönen Tochter
Shylocks und die weiteren Schicksale des Liebespaares
werden nur gelegentlich erzählt; so berichtet Graziano am
Schluss des I. Actes den Inhalt von Shakespeare II, 3—6.
Die Zeitdauer der Handlung erscheint bedeutend ein-
geschränkt. Schröder schreibt an Gotter (S. 45) : 'es (das
Stück) spielt anstatt der drei Monate und einige Tage bei
Shakespeare, drei Tage bei mir'. Dies ist auch in der Be-
arbeitung wirklich der Fall. In der Scene I, 5 (S. 16) er-
klärt sich Shylock bereit, die dreitausend Ducaten zu leihen :
'Allein höchstens auf einen oder zwei Tage'. Antonio ant-
wortet: 'Nun dann, bis Morgen, länger nicht. Morgen um
diese Zeit sollt Ihr euer Geld wieder haben'. Um nun die
Entwicklung der ganzen Handlung in dieser kurzen Zeit
möglich zu machen, bringt Schröder eine Reihe von kleinen
Änderungen an, darunter als wichtigste das neue Motiv
mit dem Cassirer, dessen er auch in einem Brief an Gotter
gedenkt (S. 74): 'Mein Plan war, Antonio sollte der Flucht
seines Cassirers wegen so zerstreut sein, dass er an Shylock
nicht [denkt]; denn hätte er an ihn gedacht, so hätten so
viele Freunde als Antonio hat, ihm gewiss geholfen'. In
der Bearbeitung selbst wird I, 1 (S. 8) und I, 5 (S. 19) er-
zählt, dass Antonio für den nächsten Tag, an dem ja' seine
Hauffen, Schröders Kaufmann von Venedig. 91
Schuld schon fällig ist, seinen Cassirer, einen treuen und
pünktlichen Bediensteten, mit 5000 Ducaten zurückerwarte.
In II, 10 (8. 55 f.) aber erfahren wir, dass dieser Cassirer
mit der ganzen Summe durchgegangen ist. Antonio ist nun
ausser Stande, dem Juden die Schuld zurückzuerstatten;
in der Verwirrung lässt er ausserdem die Frist der Rück-
zahlung verstreichen, ohne sich nach Hilfe umzusehen : 'Ich
habe diesen ganzen Nachmittag zugebracht, meinem Cassirer
nachzuschicken und seiner habhaft zu werden. — Erst vor
einer halben Stunde erinnerte ich mich seiner [nämlich
Shylocks]. — Der rechtschaffene Bardetto versprach mir
in einer Stunde zu helfen. — Überdiess glaube ich nicht,
dass Shylock, der wegen seiner Tochter Entführung ausser
sich ist, heute an mich denken wird'. Doch gleich darauf
kommt der Jude und überliefert den Schuldner dem Ge-
richte.
Die Porzia-Scenen des ersten und zweiten Actes sind
bei Schröder alle im zweiten Act zusammengestellt und
folgen einander ohne Unterbrechung. Die beiden ersten
Freier Porzias sind bei Schröder nicht Prinzen von Marocco
und Arragon, sondern ein Don Bodrigo und ein Yicomte
de Querchy. Der Bearbeiter will nur dämpfen und besonders
die fremdartige Gestalt des Mohrenprinzen vermeiden. Aus
einem ähnlichen Grunde macht er Antonio zum Bruder
Bassanios. Antonios Opferwilligkeit soll dadurch minder
außsergewöhnlich erscheinen.
Wie in seinen übrigen Bearbeitungen, so schiebt Schrö-
der auch hier biedermännische Lehren ein. Am bemerkens-
werthesten ist der nachstehende Zusatz, der in eine Reihe mit
den zahlreichen Äusserungen des theoretischen Philosemitis-
mus in den Dramen dieser Zeit 7) gehört. Am Schlüsse der
Scene nämlich, in welcher sich Shylock ein Pfund vom
Fleisch Antonios ausbedingt, sobald der letztere die Schuld
verfallen lassen sollte, sagt Antonio (S. 20): 'Des Juden
Absicht seh' ich freilich ein. Nichts als die pünktlichste
Erfüllung der Bedingung würd' ihn befriedigen. Aber ich
T) Näheres darüber s. bei Hauffen, Das Drama der klassischen
Periode a. a. 0. 1, XXXII I.
92 Hauffen, Schröders Kaufmann von Venedig.
hab' ihn gereizt, seine Vorwürfe verdient. Vorurtheile der
Erziehung und des Umgangs machen auch den Vernünftigsten
gegen sein Yolk ungerecht. Mich diesem Eontrakte zu
unterwerfen ist eine Art von Genugthuung, von Wieder-
erstattung9.
In der Prosa aller Shakespeare-Übertragungen Schrö-
ders ist der Stil der Quelle kaum wiederzuerkennen. Der
sprachliche Ausdruck erscheint auch in seinem 'Kaufmann
von Venedig' ausserordentlich gekürzt, möglichst nüchtern,
verstandlich und hausbacken, von allen schroffen und
derben Äusserungen, allen anstössigen Witzen und An-
spielungen befreit, aber auch jedes Schmuckes der Poesie,
aller Bilder und Figuren entkleidet. Schröder hat überhaupt
Shakespeare nicht unmittelbar übertragen, sondern sich an
die vorhandenen älteren Übersetzungen gehalten, in denen
Shakespeares Verse bereits in Prosa aufgelöst waren. Er
hat dabei in der Regel Eschenburgs Übersetzung starker
benutzt, als die Wielandsche, weil jene seiner Vorliebe für
einen klaren, verständlichen Stil besser entsprach.8) 'Seine
Hamletbearbeitung, die sich in der ersten Fassung an Heu-
feld und Wieland anschloss, hat Schröder für die zweite
Ausgabe (1778) nach der inzwischen (1777) erschienenen
Eschenburgschen Hamlet -Übersetzung verbessert u. s. w.
Nachfolgende Stelle des 'Kaufmanns von Venedig' mag
herausgegriffen werden, als ein Beispiel wie kahl und kurz
Schröder die breitausgeführten, reichgeschmückten Beden
Shakespeares wiedergibt. Zum Vergleich werden von Eschen-
burg (der Shakespeare ohne wesentliche Kürzungen über-
tragen hat) nur jene Sätze angeführt, die Schröder be-
nutzt hat.
o, , ,., „ t Eschenburg 11,10 (Shake-
Schröder 11,5 ^ u>9) ^
Vicomte (da er zwischen Prinz: Begünstige nun,
den Kästchen wählt): Nun Glück, o Glück, die Hoffnung meines
begünstige meine Hoffnungen! Herzens! — Gold, Silber und
Gold, Silber und Bley! — 'Wer Bley. — 'Wer mich erwählt,
mich erwählt wagt alles was er wagt alles, was er hat*. Du
hat'. — Du müsstest schöner mösstest schöner aussehen, eh
•) A. Köeter, Schiller als Dramaturg S. 62-67.
Häuften, Schröders Kaufmann von Venedig.
93
aussehn, wenn ich etwas um
dich wagen sollte. — Was sagt
das goldene Kästchen? — 'Wer
mich erwählt, gewinnt, was
manche wünschen'. — Was
manche wünschen ? — Ich mag
nicht, was manche wünschen,
mag nicht mit gemeinen Geistern
nach denn Ziele laufen, noch
mich unter die ungesittete,
thörigte Menge stellen. — Zu
dir, du silberne Schatzkammer!
'Wer mich erwählt, gewinnt,
was er verdient'. — Schön ge-
sagt, recht schön ! — Wer darf
sich vermessen, das Glück zu
betrugen, und um sein herr-
lichstes Geschenk zu buhlen,
ohne den Stempel des Verdienstes.
Mit dem Verdienste will ichs
halten. Wir sind alte Freunde
und Schulkameraden. — Den
Schlüssel zu diesem Kästchen 1
ich etwas um dich wagte. Was
sagt das goldne Kästchen ? 'Wer
mich erwählt gewinnt was
manche wünschen'. — Was
manche wünschen? — — —
Ich will nicht wählen, was
manche wünschen, weil ich nicht
mit gemeinen Geistern nach dein
Ziele laufen, noch mich unter
die ungesittete Menge stellen
will. — Zu dir also du silberne
Schatzkammer! — 'Wer mich
erwählt, gewinnt was er ver-
dient'. Recht wohl gesagt, in
der Thatl Denn wer darf sich
vermessen, das Glück zu be-
trügen, und sich um Ehre zu
bewerben ohne den Stempel des
Verdienstes? — — — — —
Mit dem Verdienste will ich's
halten ; geben Sie mir den
Schlüssel zu diesem Kästchen
und schliessen Sie mir in diesem
Augenblicke mein Glück oder
Unglück auf!
Bei Wieland zeigt diese Stelle (S. 66) manche Abweich-
ungen von Eschenburg und Schröder. Bei ihm lauten
die Aufschriften der Kästchen: 'Wer mich erkiest' (für
'erwählt') u. s. w. Der Prinz sagt unter anderm: 'Ich will
nicht wählen, was manche wünschen, weil ich nicht mit
gemeinen Geistern lauffen, noch mich unter die barbarische
Menge stellen will. — Ich will es mit dem Verdienst halten;
gebt mir den Schlüssel zu diesem, und schliesset' u. s. f.
In den gereimten Sprüchen folgt Eschenburg oft wörtlich
der Wielaudschen Übersetzung. Wo sie von einander ab-
weichen, folgt Schröder bald dem einen, bald dem andern.
Z. B. in der eben herangezogenen Scene sagt Wieland:
'Hängen und Weiben steht nicht jedem frei', hingegen
Eschenburg und Schröder: 'Hängen und Freien steht nicht
jedem frei'. Anderseits sagt Eschenburg in der Scene 111,2
Und wirb um sie, zum frohen Gruss
Durch einen liebesvollen Kuss.
Doch Wieland und Schröder (111,1)
94 Hanffen, Schröders Kaufmann von Venedig.
Und eigne sie, zum frohen Grass
Durch einen liebe(s)vollen Kuss.
Dies ist unter anderm ein Beweis hiefur, dass Schröder bei
seiner Bearbeitung zuweilen auch Wielands Übersetzung zu
Rathe gezogen hat.
In der gleichen Scene (111,1, bei Shakespeare III, 2)
hat Schröder den Gesang weggelassen, der ertönt, während
Bassanio bei den Kästchen mit sich zu Rathe geht. Er
begründet diese Streichung in einem Brief an Gotter (S. 74) :
'Die Arie werde ich auch nicht singen lassen, sie zieht den
Zuschauer vom pantomimischen Spiel des Bassanio und der
Portia ab'.
Schröders 'Kaufmann von Venedig9 hat nur vier Acte.
Auch dies erfahren wir schon aus den Briefen an Gotter
(S. 86), wo Schröder den Erfolg der ersten Aufführung
mittheilt : 'Das Haus war sehr voll, die Meinungen getheilt,
aber viel lauter Beifall — die Decoration des letzten und
vierten Acts (ist) sehr applaudirt worden'.9) Schröder
hat den ganzen Y. Act Shakespeares weggelassen und die
Lösung der Porzia-Fabel unmittelbar an die grosse Gerichts-
scene des IV. Actes angeschlossen. Porzia und Nerissa
geben sich ihren Ehemännern gleich im Gerichtssaale zu
Yenedig zu erkennen, ehe sich noch diese bestimmen Hessen,
ihre Trauringe zu verschenken. Dieser neue Schluss
Schröders lautet folgendennassen:
Bassanio: Vergebt mir, Signor, dieser Ring ist ein Ge-
schenk von meiner Braut. Als sie ihn mir an den Finger steckte,
musst ich ihr geloben, dass ich ihn niemals weder verkaufen,
noch verschenken, noch verlieren wollte.
Portia: Eine sehr alltägliche Entschuldigung, um Euer Ge-
schenk zu behalten. Wenn Eure Braut keine Närrin ist, und
erfährt, wie wohl ich den Ring verdient habe, wird sie wahr-
haftig darüber keinen ewigen Unwillen auf Euch werfen, doch
ich will Euch dieser Gefahr nicht aussetzen.
Gratiano (hat heimlich mit Nerissen gesprochen): Die
Juristen von Padua sind des Henkers auf Ringe ; der Schreiber
hier will mir auch meinen abschwazen.
- Antonio: Bassanio! Lass sein Verdienst um unsre Freund-
schaft das Verbot deiner Braut überwiegen. Gieb ihm den Ring.
•) Es war die 'neue Decoration eines perspektivischen Kolonaden-
Ganges', vgl. Shakespeare- Jahrbach 11,22.
Rauffen, Schröders Kaufmann von Venedig. 95
Bassanio: Ich kann nicht.
Portia: Und ich will aufhören, länger in Euch zu dringen.
Eure Braut ist die Glücklichste ihres Geschlechts. — Aber seht
mich doch an, Bassanio! ist es möglich! dass ihr unter dem
Doktor von Padua, eure Portia nicht kennen solltet! (nimmt den
Hut ab.)
Bassanio: Ist's möglich?
Nerissa: Und du erkennst in dem kleinen Schreiber deine
Nerissa nicht?
Gratiano: Ich falle aus den Wolken!
Portia: Ihr erstaunt? Leset diesen Brief von Bellario meinem
Vetter, und Alles wird Euch klar wie der Tag sein.
Bassanio: Ach, Portia! nur der innige Antheil an dem
Schicksale meines Freundes konnte mich so blind machen.
Gratiano: Das war klug, dass wir mit den Ringen an uns
hielten, Bassanio! Lass uns das immer eine Warnung sein, unsrer
Weiber Ringe in Acht zu nehmen.
Antonio: Euch also schöne Portia dank' ich mein Leben?
0, könnte mein Dank — —
Portia: Nichts davon. — Nur das gestehet: dass die Liebe
nicht weniger thätig ist, als die wärmste Freundschaft.
Bassanio: Auf also — in die Arme der Liebe und der
Freundschaft!
Ende des Lustspiels.
Gleichzeitig mit Schröder hat F. J. Fischer in Prag
eine ganze Reihe Shakespearescher Dramen für die deutsche
Bühne bearbeitet. Für seinen Macbeth hat Schröder Fischers
ältere Bearbeitung desselben Dramas (wie Köster a. a. 0.
jetzt gezeigt hat) im Wortlaut und in der abgeänderten
Scenenfolge vielfach benutzt. Fischer hat auch den 'Kauf-
mann von Venedig' bearbeitet und diese Fassung ver-
öffentlicht: 'Der Kauffmann von Venedig oder Liebe und
Freundschaft. Ein Lustspiel von Shakespeare in dreyen Auf-
zügen. Fürs Prager Theater eingerichtet von F. J. Fischer.
Prag bei Wolfgang Gerle 1777'. Auch diese Bearbeitung
hat Schröder in Einzelheiten benutzt, so sehr er im all-
gemeinen davon abweicht. Oleich zu Beginn. Schröder
und Fischer eröffnen das Stück mit der zweiten Hälfte der
ersten Shakespeareschen Scene, mit dem Gespräch zwischen
Antonio und Bassanio. Auch Fischer vermeidet die lange
Frist von drei Monaten, ohne eine bestimmte kürzere dafür
anzugeben. Ein ähnliches Motiv, wie das des Cassirers bei
96 Häuften, Schröders Kaufmann von Venedig.
Schröder klingt schon bei Fischer an, wenn dieser (S. 11)
Antonio zu Bassanio sagen läset: 'Es ist ja hier nichts zu
besorgen ; kommen vor dem Tage meine Schiffe nicht, so
kommen doch meine Wechselbriefe ganz gewiss an'. Diese
erhofften Wechselbriefe aber werden von Shylock (S. 1 4. 29. 66)
hinterlistiger Weise unterschlagen. Endlich hat auch Fischer
den Y. Act Shakespeares gestrichen. In seinem letzten
(III.) Act folgt auf die Oerichtsscene eine Reihe kleinerer
Scenen, die in einem Gasthof zu Venedig spielen. Hier
treffen Porzia und Nerissa mit ihren Männern zusammen,
tadeln sie wegen der Verschleuderung der Ringe und geben
sich ihnen dann als Doctor und Schreiber von Padua zu
erkennen. Die Schlussworte bei Fischer sind dann wörtlich
dieselben, wie bei Schröder:
Portia: Sehet, Antonio; die Liebe ist nicht weniger thätig,
als die wärmste Freundschaft.
Bassanio: Auf also, in die Arme der Liebe, und der Freund-
schaft.
Fischers Bearbeitung ist in dem gleichen Jahre (1777)
erschienen, in welchem Schröder schon seit Beginn des
Frühlings den 'Kaufmann von Venedig9 bearbeitete. Seine
Abhängigkeit von Fischer ist nur in den äusserlich an-
gehefteten Schlussworten unzweifelhaft. Wir können darum
auch annehmen, dasp Schröder, der bekanntlich vor jeder
Aufführung an seinen Bearbeitungen gefeilt hat, jene
Schlussworte erst später angebracht hat, nachdem ihm eben
Fischers Ausgabe in die Hände gerathen war.
Im Jahre 1783 brachte der Freiherr von Dalberg den
'Kaufmann von Venedig' auf die Mannheimer Bühne. Kilian
hat jüngst (Shakespeare- Jahrbuch 26,1 — 15) ein ausfuhr-
liches Scenarium und die drei letzten Scenen dieser Be-
arbeitung nach der Handschrift des Mannheimer Theater-
archivs veröffentlicht. Ein Vergleich mit Schröders Be-
arbeitung ergiebt, dass Dalberg in vielen Punkten Schröder
benutzt hat; wahrscheinlich stand ihm dessen Bühnen -
manuscript zur Verfügung. Auch Dalberg verkürzt die Frist
zur Rückzahlung auf wenige Tage, läset den Cassirer mit
fünftausend Dukaten fliehen, giebt den Freiern die von
Schröder gewählten Namen, verwerthet den oben erwähnten
Suphan, Briefe von Goethe und Herder. 97
toleranten Ausspruch und fugt unmittelbar an die grosse
Gerichtsscene die Erkennung und den Schluss an. Im
übrigen, im Wortlaut wie in der Anordnung der Scenen ist
Dalberg von Schrödern unabhängig.
Es mag hier noch erwähnt werden, dass auch Heinrich
Laube, der im Jahre 1851 als Director des Wiener Burg-
theaters den 'Kaufmann von Venedig' für diese Bühne
bearbeitet hat, den selbständigen Y. Act vermeidet. Er
sagt darüber (in seiner Schrift: Das Burgtheater 8. 214):
'Diese Shylockaffaire ist dem Publikum das Hauptinteresse
des Stückes. Ein noch folgender ganzer Act erscheint für
den Zuschauer nebensächlich und überflüssig'. Es folge
Schwächeres auf Stärkeres, darum rüste sich das Publikum
am Schlüsse des IY. Actes zum Weggehen. Laube eröffnet
nun in seiner Bearbeitung den letzten Act mit der grossen
Gerichtsscene, ordnet dann unter Musik bei offener Scene
die Verwandlung nach Belmont an und lässt hierauf in
wenigen Minuten bei starker Kürzung des Shakespeareschen
Textes 'die spielerische Auflösung mit den Ringen an uns
vorüber gehen. So dass wir am Ende sind, ohne des
schwächern Themas bis zur Störung unseres Antheils inne
geworden zu sein'. Ob Laube Schröders Bearbeitung des
'Kaufmanns von Venedig' gekannt habe, muss bezweifelt wer-
den; wir wissen aber, dass Laube in seiner für das Burg-
theater besorgten Bearbeitung Schröder gefolgt ist und wie
jener Cordelia am Leben beliess mit der Begründung, 'dass
das Opfern der ehrlichen liebenswürdigen Cordelia bei der
Darstellung stets als Misston wirke'.10)
Prag. Adolf Hauffen.
Briefe von Goethe und Herder.
I. An die Brüder Knebel.
1. Qoethe an Karl Ludwig v. Knebel.
Ich freue mich mein Guter dass du wohl angekommen bist
und unsrer in Liebe gedenckst, möge dir dein Hin und Her-
lü) Vgl. Shakespeare -Jahrbuch 11, 17 f., vgl. aber Laube, Burg-
theater S. 213.
Vierteljahnohrift ffir Litteraturgeschichto V 7
98 Suphan, Briefe von Goethe und Herder.
wandern zwischen Freunden und Einsamkeit recht heilsam
werden.
Bald sind es zehen Jahre dass du in mein Zimmer tratst
und mich zum erstenmal begrastest, wie viele wunderbare Ver-
hältnisse haben sich an iene Stunde geknüpft. Du bist mir wie
der Morgenstern des Tags den ich hier verlebt habe. Wir rufen
keine Stunde davon zurück, lass uns zusammennehmen, was ge-
blieben was geworden ist und es nutzen und geniesen ehe der
Abend kommt.
Mein Bote bringt einen osteologischen Aufsatz an Lodern,
wenn er besser gearbeitet ist sollst du ihn auch sehen. Ich muss
mir die Idee mit der ich mich schon zu lang getragen habe ein-
mal wegschaffen.
Mögte dich doch auch die Liebe zu den natürlichen Wissen-
schafften auf eine oder die andre Weise ergreifen! Wie schön
könntest du ihr nachhängen.
Mich haben die Geister hinein wie in eine Falle geführt eine
Methode die sie mit mir öffters behebt haben.
Ich konnte den Effeckt voraussehen den die Erscheinung des
neuen Gharackters in Jena machen würde und in diesem Sinne
fand ich es auch gut. Wenn du keinen Werth und Unwerth
drein legst wirds auch gewiss gut seyn.
Der Herzog lasst Dich grüsen, er wird iezt in Strasburg seyn.
Desgl. Frau von Stein und Friz. Lebe recht wohl.
d. 30 Oktbr 1784 G
Das Original, 2 SS. 4° mit weissem Nebenblatt, befindet
sich zu Weimar in Privatbesitz. Ich entdeckte es Ende
April dieses Jahres, zu spät leider, um es als Redactor-
Gabe den Nachträgen zur IV. Abtheilung der Weimarer
Ausgabe zuführen zu können, mit denen der damals bereits
fertig gedruckte 7. Band S. 367 abschliesst. Gerade als
letzte Nachtrags-Nummer war hier ein kleines Bruchstück
'An C. v. Knebel' aufgenommen, welches der Kanzler
v. Müller in einem Hefte mit der Aufschrift 'Auszüge aus
Knebels und Goethes Briefen' gerettet hatte: die Stelle
'Du bist — Abend kommt', Zeilen, die jetzt im Zusammen-
hange doppelt schön wiederkehren. Wie wohl Eduard
von der Hellen als Herausgeber daran gethan hatte, der
Sprachgestalt jener wenigen Zeilen gegenüber alle skeptischen
Anwandlungen zu unterdrücken (a. a. 0. S. 372), dafür giebt
der nachträglich gemachte Fund die erfreulichste Bestätigung.
Am 27. October war Knebel nach Jena zurückgekehrt.
'Knebel geht morgen wieder weg', schreibt Goethe an
Suphan, Briefe von Goethe und Herder. 99
Charlotte v. Stein, 'er hat nur einmal sich etwas von mir
vorsagen lassen, das Steinreich lockt ihn nicht, er ist ein
Freund des Menschlichen Wesens, und ich kan es ihm nicht
verdencken'. Dem unruhigen, leicht erregten Freunde sen-
det er dennoch den Rath nach, seinem Beispiel zu folgen
und sich der stillen, leidenlosen Natur zu ergeben, l) Knebel,
der selbst am 29. an Goethe (und Herder) geschrieben
hatte, hat am 31. bereits die Antwort, unsern Brief, durch
besondern Boten erhalten. 'Brief von Goethe durch Götz'
ist unter letzterem Datum in seinem Schreibkalender ver-
merkt. Der Überbringer, der zugleich den osteologischen
Aufsatz, die Abhandlung vom os intermaxillare, an Loder
zu befördern hatte, ist Paul Götze, Goethes Diener und
'Zögling'.
Zwei Wochen hatte Knebel in der Nähe der Freunde
und in regem Umgang mit ihnen zugebracht. Das Hin
und Her zwischen dem stillen Tiefurt, wo er Quartier ge-
nommen, und Weimar, dies Pendeln zwischen Geselligkeit
und Einsamkeit hatte seiner 'animula vagula' wohlgethan.
Sein Tagebuch verräth uns, wie es in der Zeit vor der
Reise und noch in den ersten Tiefurter Tagen um sein
Inneres bestellt war. 'Vermischte Stimmung. . . Gespannt
und schwer in Nerven'. — 'Etwas schwer im Blut und
traurig': den 1 1 . October. — Am 13.: 'Sehr gedrückt. Loder
sagt mir der Fräulein v. Stein plötzlichen Tod. Um
9 Uhr von Jena ab nach Tiefurth'. Dieselbe Litanei noch
am 14.: ;Kalt und trüb. Sehr gedrückt in mir. Furcht vor
Kalte. Hämorrhoidalisch.' Am 16. dann: 'Etwas leichter'.
Was ihn beschwert und gedrückt und sicherlich zur Reise
getrieben hat, erfahren wir im nächsten Verfolg. 'Zu Fuss
nach der Stadt. Göthe bey Frau v. Stein. Dem Ober-
stallmeister [v. Stein] die Eröfnung wegen meiner Schulden
an seine Schwester gemacht'. . . . Die Nachricht also, die
ihm Loder am 13. gegeben, hatte ihn in eine peinliche
Lage versetzt, aus der er sich nun durch offene Erklärung
befreit. Wenn Goethe am 18. October dem Herzoge mit-
l) Zu der weiteren Erklärung über sein eigenes Verhältniss zur
Naturwissenschaft stimmen spätere briefliche Äusserungen: W. A. IV,
9, 277,«3. 297,io.
7*
33GÜG7A
100 Suphan, Briefe von Goethe und Herder.
theilte, Knebel sei aus Jena gewichen, um Schlözer aus
dem Wege zu gehen, so gab er damit jedenfalls nur einen
secundären Grund an.3) Nicht mit dieser Verlegenheit,
sondern mit einer Unannehmlichkeit andrer Art anscheinend
steht im Zusammenhang, was Goethe am 16. der Frau
y. Stein auftragt: 'Schreibe Knebeln nur einfach dass ich
die Sache nicht redressiren könnte, sag ihm aber nicht dass
ich einen Augenblick böse war'. Unter dem 14. enthält
der Schreibkalender zum Schluss die Angabe: 'Ludekus
[Schatullier und Secretär der Herzogin Amalia] sagt mir
von meinem Major-Patent'. Knebel hoffte durch eine An-
stellung im Staatsdienste seine Lage zu verbessern. Mit
dem 'neuen Charakter9 war ihm wenig gedient, er konnte
ihn zunächst kaum als ein Schmerzensgeld für die bereitete
Enttäuschung ansehen. So wird er der Frau v. Stein gegen-
über den Wunsch geäussert haben, die Patentirung möge
nicht erfolgen. Noch in seinem ersten Brief aus Jena ist
Knebel, wie Goethes gelassene Erwiderung zeigt, auf die
Angelegenheit zurückgekommen. —
Doch genug der einzelnen Anmerkungen. Es giebt
Stucke und Stellen, die man lieber in Noten gesetzt, als
mit Noten versehen haben möchte. Unser Brief gehört dazu.
Nicht bloss jene der Erinnerung an erstes Begegnen ge-
widmeten Sätze, die einst den Kanzler v. Müller anmutheten,
das ganze Schreiben ist ein Ausdruck inneren Einklangs,
Sprache, ja ic^ möchte sagen Musik eines Herzens, das
'einen tiefen Ton der Freundschaft hat9.
2. Herder an Max von Knebel.
Weimar, den 18. Sept. 89.
Als ich auf meiner Rückreise ihnen vorüber eilte, herzlicher
lieber Freund, war ich im Geist mehr bei Ihnen, als Sie mich
aus Güte erwarten konnten; aber meine Segel waren so auf-
gespannt, und durch mancherlei Umstände ward mein Schiff so
fortgetrieben, dass es nicht frühe gnug in seinen Hafen einlaufen
konnte. Verzeihen Sie also, dass ich mir selbst das Vergnügen
versagen musste, Sie wieder zu sehen u. mein ehemaliges brüder-
liches Zimmer zu bewohnen.
*) Am 10. Abends war Knebel mit Schlözer, nach Ausweis des
Tagebuchs, bei Loder zusammen.
Saphan, Briefe von Goethe und Herder. 101
Um so mehr freute es mich, da ich hörte, dass Sie mein
Nachfahr über die Alpen wurden. Der Himmel gebe Ihnen
glückliche Fahrt u. Rückfahrt; Ihre eigne Vorsicht u. Massigkeit
wird gewiss diesen guten Wunsch zur Wirkung bringen, u. dem
Himmel seine Sorge erleichtern.
Mit einem Fürsten zu reisen, hat sein Unbequemes, sobald
man für sich selbst auf einen Zweck gespannt ist; findet sich
dieses nicht, so ist die Gelegenheit, also zu reisen, sehr erwünscht
u. man kann das fremde Land mit Vortheilen sehen, die ein ein-
zelner Reisender entweder aufgeben muss, oder theuer erkaufet.
Ich kann also nicht anders, als Sie glücklich schätzen, Lieber;
3) über die Gelegenheit, die sich Ihnen darbeut, da ich Ihren
gesetzten, schlichten, guten u. männlichen Sinn kenne. Die Reise
wird Ihnen tausendfach nützlich seyn, da sie uns, auch gleichsam
wider Willen, über tausend Dinge die Augen u. Sinne öfhet. Dass
Sie dieses bei sich thun lassen, ist meine einzige Bitte u. der
vornehmste Rath, den ich Ihnen zu geben habe. Sehen Sie alles,
wozu sich Ihnen die Gelegenheit darbeut; alles aber ohne An-
strengung u. widernatürliche Spannung, die ein Deutscher seiner
Ehrlichkeit wegen, wie ich von mir selbst weiss, nur mit Mühe
ableget. Ganz Italien mit allem, was Ihnen Natur, Politik u. Kunst
darbeut, sei Ihnen wie ein Guck-Kasten, den Sie mit Müsse u. Ge-
mächlichkeit, ohne Anspannung u. innere Unruhe sehen. So sehen
Sies am besten ; das Glima u. die ganze Lebensart der Menschen
wird sie dazu einladen, u. die Wahrheit zu sagen, eines Mehreren
ist auch die ganze Reise fast nicht werth. Alles sehen kann
man doch nicht; und was hülfe es, wenn mans gesehen hätte?
Die Seele kann es doch nicht fassen ; das Gedächtniss doch nicht
alles behalten ; u. wie nun alle diese Mühe anwenden ? da Enden
aller Geschichte, aller Kunst, des ganzen Alterthums, der Gesetze,
Kirche u. f. 4) in diesem geographischen Stiefel, zumal an seiner
Wade in Florenz u. Rom zusammengehen. Also muss man hier
auch, wie Sokrates durch den Jahrmarkt fi), mit offnem 6), aber
heitern Auge gehen, sehen u. merken, so viel man kann, u. das
Beste in der Erinnerung erwarten. Diese wird Ihnen nachher
*) Davor eine durch spätere Überkritzelung unlesbar gemachte
Silbe (vielleicht nur ein Buchstab) nebst Komma.
*) u. f. = und ferner; Herder schreibt es selten aus.
*) Das sokratische Apophthegma (Diog. Laört II, 25. Cic. Tusc.
V, 32, 91) gehört zu Herders Lieblingscitaten. Ich habe den häufigen
Gebrauch desselben schon in der Zeitschrift für deutsche Philologie
6, 180 ff. (1875) nachgewiesen. Vgl. Werke 6, 523 zu 294. 29, 721 zu 46.
Im kurzen Spruchgedicht 1774 (Wandsbecker Bote) : 'Ein Sokrates im
bunten Trödel spricht: Was alles darf (= bedarf) ich nicht*.
•) Davor gestrichen: 'auf, Ansatz zu 'aufgeschlossnem'.
102 Saphan, Briefe von Goethe und Herder.
gewiss einen reichen Schatz von Bemerkungen gewähren *), deren
Sie sich selbst beim Anblick der Dinge nicht bewusst waren: Sie
werden mit genährtem u. erweitertem Geist, mit weiterer Brost,
mit geläutertem Auge über hundert u. tausend Dinge zurückkehren ;
u. eine ungewohnte neue Freude an Deutschland, einen Hang
fürs ruhige häusliche, sittliche Leben mitbringen, das Sie in Italien
sehr vermissen werden. Geschwister, Freunde, alles was Sie das
Ihre nennen, Aufklärung, Deutscher Umgang u. f. f. wird Ihnen
lieber werden : Sie werden sich unter dem schönen Himmel zum
guten Muth eines immer frohen Lebens gestärkt haben ; was kann
man mehr wünschen oder von einer Reise erbeuten ? Wie werde
ich mich freuen, wenn ich einst nach einer glücklichen Wieder-
kunft höre, dass ich ein wahrer Prophet gewesen sei, u. wenn
Sie mich selbst dessen versichern werden.
Die Reise durch die Alpen wird Ihnen ungemein angenehm
seyn; die Natur u. selbst die Menschenart ruffen dem Reisenden
zu, dass er hier die wahre Deutsche Schweiz finde. Ich wünschte,
wenn ich zum Regenten bestimmt wäre, ein Landgraf von Tirol
zu seyn, in den mittlem Zeiten. In Inspruck insonderheit z. E.
in der Hauptkirche sind schöne Denkmale vom Geist der Zeiten,
die jetzt leider nicht mehr sind, u. schwerlich wieder kommen
werden. Wenn Sie über den Alpen sind, bietet sich Ihnen die
schöne Gegend von Verona dar, wo alle nordische Völker zuerst
das Paradies sahen, das sich durch die ganze Lombardei bis nach
Mailand zu ausbreitet. Denken Sie an mich, wenn Sie oben auf
dem Amphitheater (arena genannt) oder im Hofe des Philar-
monischen Museum umhergehen, oder auf den Höhen der Justischen
Gärten die Sonne untergehen sehen u. die Stadt unter sich, die
Etsch (Adige) und einen guten Theil der Lombardie beschauen.
Sollten Sie sich von Verona nach Venedig wenden: so denken
Sie an mich im schönen Vicenza, dessen Gegend über Padua, an
der Brenta, bis nach Venedig hin, ich das Paradies des Paradieses
nennen möchte. Vicenza ist voll von Gebäuden des grossen
Palladio, das Ufer der Brenta voll der schönsten Lusthäuser: die
Menschen sind gut u. freundlich u. auf dem Gampo Marzo zu
Vicenza sehe ich noch meinen Geist, wie im schönsten Amphi-
theater zwischen Bergen wandeln. Der Anblick von Venedig wird
Ihnen auf einige Zeit sehr angenehm seyn, weil man da wie in
einer eignen Welt lebet; ich empfehle Ihnen insonderheit den
Markusplatz nebst dem was daran liegt, weil hier die Republik
zusammengedrängt ist, u. die Insel der Benedictiner, S. Giorgio
Maggiore. An Gemälden wird Ihnen aus der Venetianiscben
Schule ein solcher Reichthum entgegenkommen, dass man zu
sehen fast müde wird, u. doch ists noch nichts gegen Bologna,
Florenz, Rom u. Napel. Im volkreichen Bologna sind Schätze der
7) Davor gestrichen: 'mitgeben*.
Suphan, Briefe von Goethe und Herder. 103
Kunst von Guido Reni, Guercino, Albano u. a., bis man dann
nach Florenz als in den wahren Putzschrank von Italien kommt.
Hier ist in der Galerie, im Naturalienkabinett u. im Palast Pitti 8)
alles so gesammlet, so geordnet, dass man sich nur Augen u. Zeit
u. Müsse wünscht, Alles sehen u. wiedersehen zu können; auch
in mehreren Kirchen sind schöne Denkmale. Erfreuen Sie sich
des schönen Landanbaues in diesem Lande, u. der feinen, höf-
lichen, Geistreichen Sprache seiner Einwohner; Sie9) finden diese
letzte sonst nirgend in Italien wieder. — Rom ist ein Ocean der
Kunst u. Merkwürdigkeiten, das wohl soleicht kein Reisender er-
schöpfen wird, in welchem es aber auch gnug ist, nur so viel zu
kosten, als für uns dienet. Wenn Sie sich da aufhalten, so wer-
den Sie wahrscheinlich bald mit dem Rath Reifenstein bekannt
werden, der die fremden Forsten u. Standspersonen meistens
führet; wollen Sie ausserdem für sich . . . en10) so ist H. Hirt,
gleichfalls ein Deutscher, u. ein geschickter Mann, der ihr11) Weg-
weiser seyn kann. Ausserdem sind in Rom viel Deutsche Künstler,
u. mich dünkt, der Marggraf12) selbst unterhält einige, die Ihnen
dann ein Weiteres sagen werden. Es kommt darauf an, wie
lange Sie sich aufhalten, u. wieviel Zeit Sie dran zu verwenden
haben; so richtet sich der Führer darnach ein. Gehen Sie aber
zuerst durch Rom nur durch, u. wenden sich gleich nach Napel;
desto besser, da sind Sie 1S) wie im wahren Griechenlande. Grüssen
Sie mir ja den schönen Himmel u. das schöne Meer, u. die lieb-
lichen Inseln, die vor Ihnen liegen, den schönen Mond, die sanfte
balsamische Luft u. die helleren Sterne. Grüssen Sie mir Portici,
und das königl. Museum daselbst, wo Sie die ganze Lebensart der
Griechen aus dem herausgegrabnen u. da aufbehaltnen Herkulanum
mit Herzensfreude sehen werden. Sodann den Pausilipp u. alles
was hinter ihm liegt, Bajä, die Elisäischen Felder, den Styx u.
Acheron, das Misenische Vorgebürge; Gegenden, wo alle Fabeln
der alten Dichter über Himmel u. Hölle entstunden, oder von
Dichtern wenigstens benannt wurden. Auf der andern Seite ver-
säumen Sie nicht, das alte Pompeji, die aufgegrabne Griechische
Stadt zu sehen, wenn es seyn kann den Vesuv zu besteigen,
u. Napel sowohl von der See, als von St Elmo aus alles rings zu
betrachten: denn es ist ein einziger Anblick in der Welt, der
mich frölich macht, wenn ich an ihn gedenke. Ich habe Ihnen
nur sehr allgemeine Sachen geschrieben ; wüsste ich etwas Be-
*) 4m — Pitti* am Bande nachgetragen.
•) Hier und noch ein Mal klein geschrieben.
10) Der Anfang des Wortes (drei Buchstaben) wegen Rasur un-
leserlich. Einen?
») Von spaterer Hand T über 4\
") Über der Zeile ist von alter Hand zugesetzt 'von Ansbach*.
") 'Sie* fehlt in der Handschrift.
104 Saphan, Briefe von Goethe und Herder.
solideres, worüber Sie meine Gedanken wissen wollen, u. sobald
ichs weiss, will ichs schreiben, wenn Sie mirs nur anzeigen. An 14)
Büchern haben Sie mit dem einzigen Volk mann (Nachrichten
von Italien, neueste Ausg.) Alles, was, ja noch mehr als Sie
brauchen, u. dem Weitern hilft ein gescheuter Lohnbedienter aus.
Es ist leichter zu reisen, als man denkt, sobald man nur Geld,
Gesundheit u. guten Muth hat. Um sich die Gesundheit zu er-
hallen, hüten Sie sich vor gar zu jäher Erhitzung u. Erkältung,
vor der letzten insonderheit gegen die Nacht, an den Artikel der
Weiber ohnedem, zumal in Napel, nicht zu gedenken. Verzeihen
Sie mein Geschwätz u. leben wohl. Empfehlen Sie mich Ihrer
Fr. Mutter u. Fräul. Schwester aufs ergebenste; ich denke an Euch
Alle, Ihr herzlich lieben, mit inniger Liebe u. Theflnehmung.
Leben Sie wohl, lieber Max u. lassen noch vor Ihrer Abreise was
von sich hören. Gott mit Ihnen. Amen. Wenn Sie wieder-
kommen, werden Sie sich u. allen den Ihrigen neu geschenkt
seyn, u. wie eine alte Haut abgestreift haben. Nochmals das
beste Lebewohl u. Gott empfohlen.
Herder.
Vier Seiten in Quarto, eng beschrieben; ohne Adresse.
Im Besitz des Herrn Rudolf Brockhaus zu Leipzig.
Am 14. September 1789 schreibt Karl Ludw. v. Knebel
an seine Schwester Henriette nach Ansbach: 'Ich habe bei
Hof gespeist, wo die Herzogin Luise wieder allein ist. Herder
war mit zugegen. Er will gewiss noch an Max vor seiner
Abreise schreiben. Sei Du nur nicht auch zu besorgt, gute
Henriette!' u. s. w.1*)
So am Nachmittag. Der in der Frühe geschriebene
Haupttheil des Briefes schliesst: 'Mache nur, dass Max
innere Ruhe gewinnt, und alles sich so leicht machet als
möglich9. Die Worte 'innere Ruhe1 hat Knebel unterstrichen.
Wir haben darin einen Fingerzeig zum Yerstandniss unsres
Briefes. Der Inhalt richtet sich nach der Individualitat des
Empfangers, und diese muss als Complement in Betracht
kommen überall, wo es sich darum handelt, Briefe als
'Quellen9 zu benutzen. Das kann nicht oft genug gesagt
werden.
Die beiden älteren Geschwister hegen gemeinsame Sorge
um den Oemüthszustand des jüngeren Bruders. Sie tauschen
**) Corrigirt aus 'Von*.
*•) Karl Ludwigs v. Knebel Briefwechsel mit seiner Schwester
Henriette. Hg. ▼. H. Dttntzer S. 95. 96 f. 99.
Saphan, Briefe von Goethe und Herder. 105
diese Sorge fast in denselben Worten aus. Henriette am
9. September (worauf der Brief vom 14. antwortet): 'Ich
wünschte nur, dass er (Max) Deine Vermahnungen, leicht
und ruhig zu sein, die ihm so wohlthätig sind, auch besser
befolgen möchte, und dass er innerlich das wäre, wofür ihn
hier die andern halten. Doch hoffe ich, dass ihm der Himmel
seinen Frieden vielleicht aus dem fremden Lande mit nach
Haus geben wird'. Knebel an die Schwester, den 24. Oc-
tober (um die Zeit der Abreise des Bruders): 'Ich glaube
wohl, dass Max unruhig ist und Dich damit beunruhiget
hat. ... Es ist ein böses, abscheuliches Ding, diese Un-
ruhe, wovon selbst die beste Überlegung nicht ganz befreien
kann, wenn sie so tief wie bei uns durch Erziehung ist ein-
gedrückt worden'. Er wusste gut genug, wie viel er selbst
von diesem Erbtheil abbekommen hatte.
In diesem Gefühl hat er sich an Herder gewandt, dem
es gegeben war (wie Knebel an sich selbst früher wie später
erfahren hat) durch milde Zuspräche anderen zu dem innern
Gleichgewicht zu verhelfen, das ihm selbst nur in den besten
Zeiten eigen war. 4Er will gewiss noch an Max vor seiner
Abreise schreiben' — man merkt es diesen Worten an,
welchen Werth Knebel diesem Freundesdienste beilegt, für
den er alsbald ein Wort des Dankes nach Weimar hinüber-
sendet. 'Sie sind ein gar guter Mann, dass Sie meinem
Bruder und so bald haben schreiben mögen' (Jena 20. Sep-
tember). Die Antwort des Bruders ist, wie wahrscheinlich
auch Herders Brief an diesen, durch seine Hand gegangen.
Er sendet sie mit herzlichstem Gruss am 9. October, und
Herder erwidert sogleich am 10.: 'Mich freute Ihres Bruders
herzlicher muthiger Brief, grüssen Sie ihn aufs beste. Der
Himmel gebe ihm eine glückliche Reise. Fällt mir noch
etwas ein, was ich nach Rom oder Neapel bestellen könnte,
so solls bald zu ihm hinüber'. 16)
Herder hatte sich bei Knebels in Ansbach äusserst wohl
befunden, als er dort, auf der Fahrt nach Italien, kurze
Rast machte. Er schildert sie alle mit grosser Wärme in
den Briefen, die er von dort und von Augsburg nach Hause
lf) Von und an Herder 3,53. Knebels Litterar. Nachlass 2,248.
106 Siiphan, Briefe von Goethe und Herder.
sendet (21.23. August 1788). l7) 'Die Mutter eine so würdige,
feste, verständige, muntre Frau, als es ihrer wenige gibt. . .
Die Schwester ist ein sonderbares Wesen, gar nicht schön,
aber sie hat etwas Fremdes, Ausserweltliches in ihrem Auge,
und ist zart und eingezogen wie eine Taube. Der Bruder
ein trefflicher Mensch, ganz Herz und Familiengüte, un-
nennbar weich und doch elastisch, schnell und bieder9. Herder
hat die anderthalb Tage 'recht brüderlich mit diesen seltnen
Oeschwistern gelebt'. Besonders aber hat er den Bruder
in sein Herz geschlossen, der sich ebenso zu ihm sogleich
hingezogen fühlte. 'Er wollte mich mit Gewalt bis Donau-
werth begleiten, und begleitete mich bis Augsburg, weil es
uns beiden zusammen recht wohl war. . . Er ist, was man
sagen kann, ein liebenswürdiger, biedrer, guter, treuer, sitt-
licher Mensch, der die Knebeische Laune so hübsch ge-
dämpft und heruntergestimmt hat, dass es einem bei ihm
recht wohl wird, ob er gleich hie und da etwas zu furcht-
sam und gut ist'. Aber es war doch in dem Wesen des
jüngeren Mannes etwas, das den Seelenkenner schon da-
mals für ihn bange gemacht hat. Herder hat es damals
verschwiegen, wohl um nichts davon — denn er kannte die
mittheilsame Art seiner Frau — an den älteren Bruder, für
den jene Briefe auch bestimmt waren, gelangen zu lassen.
Er wollte die daheim Gebliebenen froh machen, wie er selbst
es auf der ersten Strecke seiner Reise war. Auf die Ein-
drücke und Beobachtungen, die er zur Zeit für sich behalten,
kommt er zurück, nachdem Max v. Knebel dem Dämon der
Unruhe erlegen war und sein Schicksal sich in erschütternder
Weise früh erfüllt hatte. 4Ich widersprach ihr (der Kunde
von seinem Selbstmord) vor der Gesellschaft9; — schreibt
er an Karl Ludwig 28. Mai 1790 l8) — 'aber es fiel mir wie
ein Schlag aufs Herz, dass ich nachher gleich zu meiner
Frau sagte: 'es ist nicht unmöglich!9 Die wenige Zeit, da
ich mit Ihrem Bruder lebte, bemerkte ich etwas so Hastiges
in ihm, eine Unzufriedenheit mit sich selbst bei seinem
ewig dienstfertigen, geschäftigen, thätigen Charakter, und eine
gewisse innerliche Zusammengebundenheit, die nicht heraus
' ") Herders Reise nach Italien S. 34. 36 f.
") Knebels Litterarischer Nachläse 2,252 f.
Suphan, Briefe von Goethe und Herder. 107
aus eich kann, und die ich mir als einen Knoten des Daseins
gedenke, den oft nur das Schicksal entwickelt; so dass ich
immer noch an die bittere Thränenfluth denke, die zwischen
Donauwörth und Augsburg aus seiner Seele so unversehens
herausbrach, dergleichen ich nie sonst aus den Augen eines
so festen, trefflichen, ganz guten Menschen hervorbrechen
sah und hoffentlich nie mehr sehen werde. Ich glaube, ich
habe Ihnen davon erzählt; wenigstens habe ich Ihnen den
Eindruck, den sowohl diese Stunde, als die ganze Bekannt-
schaft mit ihm auf mich gemacht hat, nicht verschwiegen9.
Unter diesem Eindruck ist unser Brief geschrieben,
dessen 'menschlicher' Zweck sich in dem Ton freundschaft-
lichen 'Geschwätzes' verbirgt. Was er sagt und was er
verschweigt, ist durch diesen menschlichen Zweck bedingt,
und nur von diesem Standpunkt aus ist er als ein Epilog
zu der italienischen Reise zu betrachten, von der Herder
am 9. Juli 1789 heimgekehrt war. Die Rückerinnerungen
an das Erlebte und Gesehene bedürfen keiner Erklärung;
die Geschichte der Reise giebt Haym in aller Ausführlich-
keit *•)
Auch Goethe hat dem Reisenden seinen guten Rath
zukommen lassen; was Knebel von ihm, dem Erfahrenem,
an den Bruder zu bestellen hat, klingt wie eine Bestätigung
von Herders Sätzen, ist ihnen aber vorangegangen: 'Vor
allem lässt Goethe auch diese Aisance, diese Bequemlich-
keit, von der ich vor sprach' (es sind offenbar mündliche
Äusserungen Herders, die er vorangestellt hat) 'rekomman-
diren, dass man sichs durchaus müsse wohl sein lassen, und
das nehme immer zu, je näher es gegen Neapel käme.
Übrigens empfiehlt er auch vorzüglich, mit eigenen Augen
wohl zu sehen; das wäre das Beste, was man rathen könne.' 20)
IL Zu Goethes Briefen aus Italien. 1787.
Nach dem Volksglauben 'rücken' die unterirdischen
Schätze und kommen einmal ans Licht des Tages. Das
mag auch von den Handschriften-Schätzen gelten. Nicht
alle lassen sich systematisch ausgraben (eruiren). Man
») Herder 2, 398 ff. 411. (die ansein1).
*°) Knebels Briefwechsel mit Henriette S. 96.
108 Suphan, Briefe von Goethe and Herder.
schreitet zur Veröffentlichung, wenn man sieh des Erreich-
baren vergewissert hat. Wollte man harren, ob etwa das
gute Glück noch ein hie oder da versunkenes Stück zu Tage
fordere, es käme kein Band, keine Reihe zu Stande. Um-
fassende Publicationen ziehen unumgänglich Zusätze und
Supplemente nach, ja ihr Dasein erst in abgeschlossener Samm-
lung hat die Kraft, versprengte Glieder an sich zu ziehen.
Zwei Funde zum achten Bande unserer Brief- Abtheilung.
Funde von der Art, die stets willkommen ist, nie zu spät
kommt, theile ich im Folgenden mit.
Goethe an E. A. von Hardenberg.
Hochwohlgebohrner Freyherr,
Insonders hochgeehrtester Herr Geheimderath,
Ew. Exzell. erlauben einem alten Bekannten dass er aus der
Ferne sein Andencken erneure, besonders, da ihn dazu eine An-
gelegenheit gleichsam auffordert.
Hr. Arends ein junger Mann, welcher Ihnen schon bekannt
ist, hält sich seit einiger Zeit in Rom auf und eben da ihn seine
Umstände nötigen diesen Ort zu verlassen, fühlt er nur einen
desto stärekeren Beruf zu bleiben und hofft dass Ew. Exzell. nach
denen ihm ehmals bezeigten Gesinnungen geneigt seyn könnten,
ihn noch auf eine Zeit zu unterstützen. Da er zugleich einen
Glauben hat, dass ein Zeugniss von meiner Hand ihm vortheilbaft
seyn dürfte; so kann ich es nicht versagen, ob ich gleich über-
zeugt bin dass Sie ihn selbst günstig beurtheüen werden.
Ich kann aufrichtig versichern: dass ich ihn als einen solchen
Künstler kenne, der vorbereitet genug ist Rom zu schätzen und
zu nutzen; ich bin Zeuge wie wohl er seine Zeit anwendet, wie
genau er sich durch wiederhohltes Beschauen und sorgsames Nach-
messen zu unterrichten sucht, und ich wünsche ihm auf alle Weise,
dass er sich im Stande sehen möge seinen Aufenthalt zu ver-
längern. Besonders da ich an mir selbst weiss: wie schwer es
fällt sich von einem Orte losszureissen, wo man allein für Kunst
leben und die grundlichsten Betrachtungen zu machen im Stande ist.
Sind Ew. Exzell. geneigt Hrn. Arends zu unterstützen; so
wird ein wohldenckender junger Mann Ihnen die Ausbildung seines
Talentes Zeitlebens zu dancken haben, indem Sie ihm eben in
einem Augenblicke zu Hülfe kommen, der nie wieder für ihn er-
scheinen kann.
Ew. Exzell. mir genug bekannte Gesinnungen bürgen mir für
die Vergebung der Freyheit, mit welcher ich die Wünsche eines
braven Künstlers empfehle.
Darf ich zugleich bitten der Frau Gemahlin und meinen übrigen
Braunschweigischen Gönnern und Freunden mein Andencken ehr-
Sliphan, Briefe von Goethe und Herder. 109
furchtsvoll zu erneuern und Sich selbst, der lebenslänglichen Hoch-
achtung zu überzeugen desjenigen der sich unterschreibt
Ew. Exzell. ganz gehorsamster Diener
Rom d. 3. Nov. 1787. JWvGoethe.
Der Brief befindet sich im Besitz von Frau Preusser,
geb. y. Gutschmidt, in Dresden. In der Sammlung dieser
Dame, einer Enkelin Friedrichs von Rochlitz, habe ich das
Original (3 SS. 4 °) gesehen ; zuvor aber, im Februar dieses
Jahres, war mir eine getreue Abschrift durch die Gefällig-
keit einer dortigen Goethefreundin zugekommen, die sich
mit Glück und Geschick auch sonst an den Arbeiten des
Archivs fordersam betheiligt. Sie sandte den Brief mit dem
Wunsche, er möge noch für Band 8 zu recht kommen;
dieser aber war schon 1890 abgeschlossen, und eine Samm-
lung von Supplementen zur zweiten Reihe der Briefe
(1788—1805) steht noch im weiten Felde.
Durch die Ermittelung unseres Stücks wurde eine offene
Stelle im Briefregister von 1787 gedeckt. '[Nov.] an Hrn.
Geh. [Rath] v. Hardenberg. Braunschweig.' (B. 8,421 Z. 1
wo 4Octb.' Versehen ist, vgl. Schriften der Goethe-Gesell-
schaft 2,401 Mitte.) Ohne Zweifel ist dieser Brief an Karl
August v. Hardenberg gerichtet, den 'alten Bekannten7 von
Oesers Privatstunden her (Dichtung und Wahrheit, Buch IX,
Anfang, mit v. Loepers Bemerkung, Werke Hempel 21,314
Nr. 260). Hardenberg war damals Präsident des Braun-
schweigischen Kammergerichts. Ein Brief Goethes an den-
selben vom 12. Juli 1786 (B. 7,244 Nr. 2339) sagt uns, dass
die Bekanntschaft nicht erst, wie man nach der einfuhren-
den Wendung glauben dürfte, gelegentlich dieser Empfehlung
eines Fremden angefrischt worden.
Der junge Mann aber, für welchen Goethe Fürsprache
einlegt, stand ihm schon zwei Jahre später wirksam zur Seite
bei der Vorberathung, alsbald auch als ausführender Künstler
'an dem wichtigen Werke des Schlossbaues', und entsprach
seiner Erwartung in vollem Masse. Der Name Arens21)
") Job. Aug. Arens wurde am 2. October 1757 in Hamburg ge-
boren, wo er sich 1789 oder 90 nach seinen mehrjährigen Studienreisen
etablirte. Die KgL Preuss« Akademie der Künste machte ihn zu ihrem
Mitgliede. Er starb schon 1806 in Pisa. Dies nach Redliche freund-
licher Mittheilung.
110 Saphan, Briefe von Goethe und Herder.
wird dem Leser unseres neunten Briefbandes häufig be-
gegnen in den Briefen Goethes an Carl August und an
Voigt. Eingeführt wird er da (Februar 1789) durch die
Betrachtung: 'Das beste was man für die Bache thun kann
ist für die Menschen sorgen, die das was geschehen soll
klug angeben und genau ausführen' (S. 88,27). — Im Ver-
folg dann (6. Februar 1790): 'Arens hat uns recht schön
aufs Klare geholfen . . . und sich durchaus als ein ge-
schickter, verständiger und redlicher Mann gezeigt9 (S. 173).
Und schliesslich : 'Ich habe viel Freude an ihm gehabt und
hoffe viel von ihm' (Mai 1791. S. 266). Näheres über
seinen Antheil am Bau erfahrt man aus einem von Goethe
angelegten, von Heinrich Meyer vervollständigten Acten-
stücke. Da heisst es: 'Arena Architekt aus Hamburg; von
ihm rühren besonders die Treppe bis in die obere Etage
und die Säulenhalle und Pforte des Schlosses her auf der
Seite nach der Um hin9. Den Gästen des Goethe- und
Schiller- Archivs zumal, die unter dieser Säulenhalle manch-
mal, und wohl auch durch das hintere Thor hinaus und zur
Ilmbrücke geschritten sind, wird der Name des tüchtigen
Mannes durch diese Angaben näher gebracht sein. Auch
um den Weimarer Park und dessen Anlage hat Arens sich
verdient gemacht (S. 173, 10. 267,i*).")
Goethe an C. F. Schnauss.
Das zweite Stück ist bereits gedruckt als Nummer 2610.
Allein man hat sich mit einer gedruckten Vorlage behelfen
müssen, die sich dem jetzt aufgefundenen Original gegen-
über als äusserst mangelhaft erweist. Das Original, 4 8. 4 °,
") Zusatz. Seine Weimarische Thätigkeit können wir jetzt in den
Acten des Grossherzogl. Haupt- und Staatsarchive verfolgen, die znr
Zeit im G.-Sch.-Archiv nach Goethischen Documenten durchforacht
werden. In einem Schreiben an die Schlosabau-Commission vom 5. Juni
1791 befürwortet Goethe die Ertheilnng des Charakters als Baurath
an Arens (die auch alsbald erfolgt ist). 'Was seine Remuneration be-
trifft, so wünschte ich dass sie seiner Bemühung einigermassen gleich-
käme da er nicht nur den ausgearbeiteten Plan der Haupt Etage ge-
liefert und in mehreren andern Dingen beyr&thig gewesen, sondern
auch mit Serenissimo die ganzen Gartenanlagen durchgegangen, vieles
schöne und nützliche angegeben und nun zu Hause auch noch manches
nachzuarbeiten haben wird*.
Saphan, Briefe von Goethe und Herder. 111
hat sich nicht, wie Gutzkows sensationelle Bemerkung vor
dem ersten Abdruck lautet (Unterhaltungen am häuslichen
Herd, Jahrgang 1854 S. 810) 'wahrscheinlich unter jenen,
bekanntlich vor zehn Jahren so beklagenswerth als Ma-
culatur an einen Seifensieder und Lichtzieher in Weimar
verzettelten Briefen Goethes9 befunden. Es stammt viel-
mehr aus dem Besitz des Ministers v. Voigt und hat sich
in der Familie seiner Schwiegertochter vererbt, wo es noch
heute, wie der mir gleichfalls von dieser Seite anvertraute
Brief Goethes an Knebel (oben S.97 f.) als ein theuresEigen-
thum gehütet wird.
Aus jenem Besitzstand nun erklärt es sich wohl auch,
dass Adolf Scholl, als er für Gutzkow Bemerkungen zu der
'italienischen Epistel' zusammenstellte, 'mit Sicherheit9 als
Adressaten v. Voigt bezeichnet hat. Erich Schmidt hat mit
Bedacht 'An C. F. Schnauss?' über Nummer 2610 gesetzt,
und mit Recht hat er dann das hyperkritische Fragezeichen
bereut. Kein anderer als Schnauss ist der Empfänger ge-
wesen. Wenn das schöne Stück in Voigts Hände gerieth,
so hat dieser es sich zum Lesen erbeten ; wenn es in seinen
Händen verblieb, so hat eben 'der gute Alte' versäumt, sein
Eigenthum einzufordern, und Voigt hat das Zurückgeben —
vergessen. Das geschieht ja manchmal, selbst wenn der
Besitzer vorsichtig ein 'sub lege retraditionis' aufgeschrie-
ben hat.
Ich reproducire nun den ganzen Wortlaut. Zwar finden
sich wortliche Fehler mehrfach nur in den ersten und letzten
Abschnitten; doch man mag auch die Besonderheiten der
Schreibung und Eommatisirung bei einem solchen Werth-
stück nicht entbehren, die sich dann an und mit dem Ganzen
besser darstellen als in vereinzelten Noten.
Fraskati d. 1 Oktbr 87.
Nun kann man endlich, nach überstandner Sommerhitze,
wieder Athem hohlen! Ich habe mich aus dem tiefen Rom auf
die heitern Gebürge gemacht, und hier bester Hr. Collega sollen
Sie auch so gleich ein Briefchen haben, mit dem besten Danck
für Ihr fortdaurendes Andencken. Zwar ist auch hier nicht gut
Brief schreiben, man mag gerne den ganzen Tag spazieren und
zeichnen und hat Morgends und Abends so viel zu thun die Blätter
in Ordnung zu bringen, die Gontoure zu laviren, oder mit der
112 Saphan, Briefe von Goethe und Herder.
Feder zu umreisen, man pfuscht auch wohl einmal mit Farben
und so geht die Zeit hin, eben als wenn es so seyn müsste.
Die Zeit der Villegiatur ist nun da und alles macht sich aus
Rom heraus, was nur irgend kann und weiss. Mädchen, Weiber,
Bücher, Gemälde, und alle Arten von Hausrath2*) sind jetzt wohl-
feiler zu haben, weil alles Geld braucht. Man lebt und macht
sich lustig, um als dann biss zum Carneval wieder eingezogen zu
bleiben24).
Rom hab ich diese Zeit her soviel möglich war genutzt. Die
zwey Sommermonate durfte man kaum aus dem Hause, ich habe
indess an meinen Schriften gearbeitet, vier Bände werden ihre
Aufwartung gemacht haben die übrigen sollen folgen. Die
Hauptstadt der Welt ist übrigens still genug. Eben setzt sich der
ObeÜsk in Bewegung der auf Trinita del Monte soll aufgerichtet
werden, er lag bissher bey St. Giov. in Laterano. Der grosse,
aber sehr beschädigte Obelisk, der noch im Campo Marzo liegt,
soll, sagt man auch aufgerichtet werden. Es ist zwar nicht der
grösste, der bey Giov in Lateran steht und der an der Porta del
Popolo sind höher, aber mir kommen die Hieroglyphen viel ein-
facher und besser gearbeitet vor. Auch ist es ein recht altes
Monument, er ward dem Sesostris zu Ehren errichtet und nach-
her dem August gewidmet. Er stand im Marsfelde als Sonnen-
zeiger der grossen Sonnen Uhr, und liegt jezt in einem Hofe, zer-
brochen, an einer Seite durch den Brand beschädigt und auf
römische Art besudelt.
Dass ich jede Gelegenheit ergreife die besten Sachen wieder
und wieder zu sehen, können Sie leicht dencken. Je mehr man
sie sieht, desto mehr wird man an ihnen gewahr und desto mehr
möchte man sie sehen.
Und was machen denn Sie bester Hr. Gollega? Sie sind
fleissig, beschäftigt und tragen die Last des Staates. Unser
gnädigster Herr ist wahrscheinlich wieder zurück, ich hoffe er
wird wohl und vergnügt seyn. Er hat mir, auf eine gar edle
Weise, meinen Urlaub verlängert. Ich binn überzeugt dass auch
Sie und meine andern Hrn. Collegen mir diese Stunden und Tage
gönnen die man nur einmal in seinem Leben gemessen kann.
Ich werde meinen Aufenthalt hier so zu nutzen suchen, dass ich
mir und andern zur Freude bereichert zurückkehre. Es vergeht
kein Tag an dem ich nicht eine neue Kenntniss erwerbe, oder
irgend eine Fähigkeit ausbilde.
Behalten Sie mich im freundschaftlichen Andencken und seyn
Sie versichert dass ich mich Ihrer oft zur guten Stunde erinnre,
auch Sie nur gar zu oft an diesen und jenen Platz wünsche, da-
mit Sie mancher schönen Aussicht, manches unbeschreiblich reizen-
") Zuerst: 'aller Art Hausrath1.
*4) Corrigirt aus: 'leben*.
Haraack, Trimeter bei Goethe. 1 1 3
den Anblicks und war' es nur auf kurze Zeit geniessen könnten.
Denn man hat gar keine Idee wie schön das Land ist, und wir
sind den Landschaftsmalern viel schuldig, dass sie uns ein Bild
davon über die Alpen schicken.
Leben Sie recht wohl, empfehlen mich den werthen Ihrigen
und allen guten Freunden und gedencken
Ew. Hochwohlgebohrnen
gehorsamsten Dieners
und treuen Freundes
Goethe
Weimar. Bernhard Suphan.
Über den Gebrauch des Trlmeters bei Goethe.
Unter den charakteristischen Versmassen des Alterthums
hat der Trimeter sich am wenigsten in der deutschen Dich-
tung einzubürgern vermocht, — so wenig, dass er etwas
Fremdartiges für unser Ohr behalten hat und dass die eigen-
tümliche Form, in der sich etwa die deutsche Sprache ihm
anschmiegen konnte, bis heute nicht gefunden ist. Auch
Goethe, der den fünffussigen Iambus und den Hexameter
gleichsam deutsch reden gelehrt hat, ist an den Trimeter
erst spät herangegangen, ihm nicht dauernd treu geblieben
und hat in der Behandlung mit sichtlicher Unsicherheit ge-
schwankt.
Als Goethe sich in den achtziger Jahren in Elegien und
Epigrammen 'antiker Form näherte9, als er anfangs der
neunziger Jahre im Reineke Fuchs den epischen Hexameter
aufnahm, zeigte er noch nicht die geringste Neigung, auch
im Drama das antike Mass sich zuzueignen. Wir haben
kein Zeugniss, dass er etwa Iphigenie oder Tasso aus der
Prosaform in den Trimeter hätte umsetzen wollen, und wenn
sich im Tasso trotzdem eine nicht unbeträchtliche Anzahl
von sechsfüssigen Iamben findet, so hat das um so weniger
zu bedeuten, als diese Verse öfters weiblichen Ausgang
zeigen und sich schon dadurch als blosse incorrecte Blank-
verse, nicht als Trimeter erweisen. Eine Anwendung des
letzteren Verses mochte wohl mit Rücksicht auf seine Ahn-
Vierteljahrechrift für Litteratnxgeschichte V 8
114 Harnack, Trimeter bei Goethe.
lichkeit mit dem unmodern gewordenen Alexandriner be-
denklich scheinen, und um ihn von diesem scharf zu scheiden,
bedurfte es einer Einsicht in metrische Verhältnisse, wie
sie Goethe nicht zu Gebote stand. Es scheint, dass Goethe
durch Wilhelm v. Humboldt zuerst genaue Eenntniss des
Trimeters vermittelt worden ist. Humboldt war schon während
seiner beiden Aufenthalte in Jena in den neunziger Jahren
mit der Übersetzung des Äschyleischen Agamemnon be-
schäftigt, die freilich erst 1816 erschien. Mit unermüdlicher
Ausdauer hat er gerade an der Wiedergabe des Original-
versmasses gearbeitet. Er hat damals Goethe einen be-
sonderen Aufsatz über den Trimeter überreicht, von dem
dieser sich eine Abschrift zurückbehielt (an Schiller 30. Sep-
tember 1800). Ob dieser Aufsatz in seinem Inhalt schon
mit dem übereinstimmte, was Humboldt später in der Ein-
leitung zum Agamemnon ausführte, ist nicht festzustellen;
zu Tage gekommen ist der Aufsatz nicht.1) Am 18. März
1799 übersandte dann Humboldt aus Paris Goethe einige
Scenen der Übersetzung.
Goethe selbst wandte den Trimeter zuerst 2) in den He-
lena-Scenen an, welche er im Jahre 1800 für den Faust dichtete
und die durch Erich Schmidt jetzt in der Weimarer Aus-
gabe veröffentlicht worden sind. Die 182 Iamben dieses
Fragments sind im ganzen correct gebaut; doch finden sich
darunter zwei Siebenfüssler (V. 105 und 222) und ein Fünf-
fussler. Der bedenkliche Einschnitt nach dem dritten Fusse
ist meist vermieden oder doch durch andere Einschnitte un-
merklich gemacht. Verse wie der 17.: 'In Bräutigams Ge-
stalt entgegenleuohtete' sind selten. Dagegen fallt die grosse
Einförmigkeit der Verse auf. Von den Abwechslung schaffen-
den Licenzen des antiken Trimeters, der im ersten, dritten
und fünften Fusse die Länge statt der Kürze zulässt, der
durch Auflösung der Längen in zwei Kürzen auch den
Tribrachys und Daktylus ermöglicht, der sich auch gerne
*) In dem Convolut 'Rhythmik1, welches das Goethe-Jahrbuch 8,65
N. 1 erwähnt, findet der Aufsatz (nach Mittheilung Bernhard Suphans)
sich nicht.
*) Zwei Zeilen des Prometheus-Fragments von 1795 sind hierbei
nicht in Anschlag gebracht.
Harnack, Trimeter bei Goethe. 115
statt des Iambus der Anapäste bedient, hat Goethe fast gar
keinen Gebrauch gemacht. Anapäste finden sich im ganzen
acht, und zwar niemals im ersten und im letzten Fusse.
Durch Goethes Vorgang wurde nun unmittelbar auch
Schiller zur Anwendung des Verses angeregt und fügte der
Jungfrau von Orleans die bekannten Montgomery-Seenen
ein.3) Goethe schickt ihm zu dem Behufe den Aufsatz
Humboldts und die Äschylos-Übersetzung zu. Schillers
Verse unterscheiden sich von denen Goethes hauptsächlich
durch die auch von Humboldt öfters angewandten Anapäste
im ersten Fuss, die dem Rhythmus etwas Leidenschaft-
liches geben.4)
Goethe selbst dichtete noch im selben Jahre das Fest-
spiel Paläophron und Neoterpe in dem neu angeeigneten
Masse. Entsprechend der eiligen Entstehung ist der Vers
hier ziemlich nachlässig behandelt; es finden sich recht viele
Fünffussler, einmal sogar drei nach einander (26. 27. 28);
auch ein Siebenfüssler drängt sich ein. Anapäste sind gar
nicht vertreten ; dagegen ein einziges Mal sehr auffällig der
Daktylus : 'Könnte man auch fördern, d&ss ich sägte, wör
ich s6i\
Das Jahr 1802 brachte darauf zwei Anwendungen unseres
Verses, zunächst in den pathetischen Partien des Vorspieles
Was wir bringen, und dann in dem Prologe vom 25. Sep-
tember (Hempel 11,234). In dem Vorspiel ist der Vers,
der im 16. 17. 18. Auftritt neben anderen angewandt wird,
sehr sorglos hingeschrieben; einmal hat er weiblichen Aus-
gang: 'So füllet weihend nun das Haus, Ihr Erdengötter';
») Früher hatte Schiller bekanntlich selbst Euripides in funff&ssigen
lamben übersetzt ; später wandte er den Trimeter noch in einer Scene
der Braut von Messina an. — Man könnte sich wundern, dass Goethe
and Schiller bei ihren Übersetzungen französischer Tragödien nicht
daran gedacht haben, den Alexandriner durch den Trimeter wieder-
zugeben; allein Schiller hatte bei der Phädra schon das Vorbild des
Mahomet und Tankred vor Augen, und von diesen hatte Qoethe den
ersteren schon längst vollendet, den letzteren bereits begonnen, als er
sich an die Helena machte.
*) Schiller folgt hierin speciell griechischem Vorbilde, welches
den Anapäst nur im ersten Fusse zulässt, während die lateinischen
Dichter ihn überall ausser im letzten Fusse anwenden.
8*
116 Harnack, Trimeter bei Goethe.
im 18. Auftritt folgen zwei Siebenfüssler unmittelbar auf
einander. Anders in dem Prolog: hier haben wir den sechs -
füssigen Iambus in correctester, aber auch in hölzernster
Form, wenn dieser Superlativ gestattet ist; kein falscher Vera,
aber auch nicht die geringste erlaubte Abwechslung. Auch
erhebt sich die Diction wenig über die Prosa; das Ganze
macht mehr den Eindruck einer bloss äusserlich versificirten
Anrede.
Es folgten nun einige für die Poesie Goethes überhaupt
unergiebige Jahre; doch schon 1807 bei Wiederaufnahme
der dichterischen Production hielt sich Goethe wiederum an
den Trimeter. Es waren das in diesem Jahr gedichtete
Vorspiel politischen Inhalts und die den Dichter längere
Zeit beschäftigende Pandora, in welchen beiden neben dem
Reichthum verschiedenster Versmasse doch der Trimeter
als das eigentliche Grundmass erscheint. In diesen Dich-
tungen ist die ganze Kraft und Fülle Goethischer Sprache
in die antiken Rhythmen gegossen worden; geradezu un-
begreiflich ist es, wie man wegen einzelner allzu kühner
Sprachgewaltthaten hier die Redeweise eines Greises hat
wahrnehmen wollen ! In dem Vorspiel ist die Wirkung —
man möchte sagen trotz des Versmasses erreicht ; denn dieses
ist durchaus einfach, auch in den erregtesten Partien gleich-
massig behandelt; nur zweimal findet sich ein Anapäst
eingeschoben. Anders in der Pandora; hier ist der Vers
offenbar mit bewusster Kunst wechselnd behandelt. Schon
in die Anfangsrede des Epimetheus sind Anapäste eingewebt;
mit entschiedener Absichtlichkeit aber treten sie später in
dem Dialog auf, der Pandorens Äusseres schildert; selbst
zwei in einem Verse sind anzutreffen.
. . . Wie Kriegsgefährte den Schützen deckt
Mit dem Schild, so sie der Augen treffende Pfeilgewalt.
Verse von unregelmässiger Zahl der Metra finden sich
unter den Trimetern der Pandora nicht; dagegen ist ein-
mal statt eines Anapäst sogar ein Päon eingeschoben;. 'Von
Fülle zu Entbehren, von Entzücken zu Verdruss'.
Mit diesem antik - phantastischen Werke erreicht die
Anwendung des sechsfüssigen Iambus bei Goethe zunächst
ihr Ende; es sind von 1800 an also nur acht Jahre, in denen
Harnack, Trimeter bei Goethe. 117
er sich dieses Verses oft und gerne bedient hat. Mit dem
Ende der specifisch antikisirenden Periode verschwindet der-
selbe, um sogar in dem der Pandora stilistisch so ähnlichen
Epimenides nicht wiederzukehren, obgleich Epimenides' eigne
gewichtig-pathetische Reden fast dazu aufzufordern schienen.
Erst sehr viel später als sich Goethe im höchsten Alter an
die Vollendung des Helena-Actes machte, wandte er sich
wieder dem Yersmass zu, in welchem er ihn begonnen
hatte. Hier ist es nun höchst interessant zu beobachten,
dass er es absichtlich nach anderen Grundsätzen als früher
behandelte. Dass in der That hier Grundsätze vorliegen,
kann nicht zweifelhaft sein, wenn wir die Umwandelung be-
trachten, die er mit dem früher Entstandenen vornahm.
Wenn er schon in der Pandora nach grösserer Abwechslung
des Verses gestrebt hatte, so ist dies Streben hier aufs
consequenteste durchgeführt. Während in jenem Helena-
fragment nur acht Verse sich fanden, die Anapäste ent-
hielten, sind es in dem entsprechenden Abschnitt hier neun-
unddreissig; einunddreissig Verse sind also in dieser Absicht
umgeformt. Ich gebe einige Vergleiche, indem ich die ältere
und die jüngere Form mit A und B bezeichne.
A. Noch immer trunken von der Woge schaukelndem
Bewegen, die vom phrygischen GefilcT uns her,
Auf straubig hohem Rücken mit Poseidons Gunst
Und Euros Krafft, an heimisches Gestade trug.
JB. Noch immer trunken von des Gewoges regsamem
Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her
Auf sträubig hohem Rücken durch Poseidon's Gunst
Und Euros Kraft, in vaterländische Buchten trug.
Hier könnte nun vielleicht jemand von Zufall reden und
andere Absichten für die Umgestaltung annehmen; es giebt
jedoch Fälle, welche die Sache ausser Zweifel setzen.
A. Denn Ruf und Schicksal gaben die Unsterblichen.
B. Denn Ruf und Schicksal bestimmten fürwahr die
Unsterblichen.
A. Denn schon im hohen Schiffe blickte der Gemahl
Mich selten an und redete kein freundlich Wort
B. Denn schon im hohen Schiffe blickte mich der Gemahl
Nur selten an, auch sprach er kein erquicklich Wort.
Öfters wird nur durch Veränderung einer Wortform der
Effect erreicht; so 'heiliger' statt 'heiiger', 'mustere' statt
1 1 g Haraack, Trimeter bei Goethe.
'mustre'. Indess noch anschaulicher wird uns Goethes Ver-
fahren, wenn wir sehen, wie er auch in den erst in den
zwanziger Jahren entstandenen Partien während des Arbeitend
bemüht ist, die Anapäste in den Vers einzuführen. Unter
den damals gedichteten Trimetern der Helena finden sich
fünfundfünfzig, welche Anapäste enthalten. Dem Apparat
der Weimarer Ausgabe lässt sich nur entnehmen, dass ein-
unddreissig dieser Verse umgebildet sind aus ursprünglichen
Entwürfen, die keinen Anapäst aufzeigten. Ausserdem ist
in einem Falle noch ein zweiter Anapäst einem Verse ein-
gefügt worden, der schon einen enthielt. Auch hier sind
die Veränderungen manchmal sehr geringfügiger Art.
Aus (8954—8956):
Ist leicht zu sagen. Von der Königin hängt es ab
Sich zu erhalten, euch Zugaben auch mit ihr.
Entschlossenheit ist nöthig die behendeste —
wurde schliesslich:
Ist leicht gesagt: Von der Königin hängt allein es ab
Sich selbst zu erhalten, euch Zugaben auch mit ihr.
Entschlossenheit ist nöthig und die behendeste.
An anderen Stellen freilich benutzte Goethe diesen Anlass
auch zu Einschiebungen höchst charakteristischer Art; so 9063:
Wie der Trompete Schmettern Ohr und Eingeweid9
Zerreissend anfasst,
Diese Worte wurden gesteigert durch den Zusatz :
Wie scharf der Trompete Schmettern Ohr und Eingeweid'
Zerreissend anfasst . . .
Wir finden endlich im zweiten Theile des Faust ausser
dem Helena- Acte den Trimeter noch zweimal angewandt;
in Fausts Monolog im Anfang des IV. Actes und in der
Rede der Erichtho zu Beginn der Classischen Walpurgis-
nacht. Beide Stücke sind erst nach Vollendung der Helena
yerfasst. Im IV. Acte, wo der Monolog nur siebenund-
zwanzig Verse umfasst, findet sich nur einmal (im dritten
Verse) ein Anapäst; jedoch ist gleich der erste Vers ein
Siebenfässler, in überraschendem Gegensatz zu dem Helena-
Act, wo die grösste Sorgfalt gewaltet hat und weder Sieben-
noch Fünffüssler haben passircn dürfen. Die Rede der
Erichtho dagegen zeigt unter fünfunddreissig Versen sieben
anapästische; und bei einem ist wiederum zu beobachten,
Harnack, Trimeter bei Goethe. 119
dass er erst nachträglich diese Gestalt erhielt: V. 7019
schrieb Goethe zuerst nach iambischem Rhythmus 'Gewal-
tigem' und 'Gewaltigstem'; schliesslich aber anapästisch
'Gewaltigerem'.
Auf die Anwendung der im Griechischen vorkommen-
den eigentlichen Daktylen im Trimeter hat Goethe wohl mit
Recht auch in dieser Periode gänzlich verzichtet. Das
deutsche Ohr ist offenbar nicht so feinhörig wie das griechische
und würde aus dem scheinbaren Entgegenarbeiten des Dak-
tylus nicht den Fortgang des iambischen Rhythmus heraus-
zuhören wissen. 5)
Diese Übersicht hat gezeigt, dass Goethe nur in zwei
abgeschlossenen kurzen Zeitabschnitten (1800— 1808 und
1825—1830) sich des Trimeters bedient hat, und dass er
auf zweierlei Art bemüht gewesen ist, ihn der deutschen
Sprache anzupassen. Mir scheint es, dass es auch seiner
Kraft nicht gelungen ist, diesen Vers mit dem natürlichen
Tonfall des Deutschen zu vereinigen. Rein iambisch scheint
er einförmig und trocken, durch die eingelegten Anapäste
erhält er eher etwas Stossendes und Mühsames, als lebhaftere
Beweglichkeit. Und so dürfte es wohl gerechtfertigt sein,
wenn das Beispiel Goethes nur vereinzelt Nachahmung ge-
funden, und wenn im ganzen der Gebrauch des Trimeters
auf die Übersetzungen beschränkt geblieben ist, wo er freilich
für die charakteristische Wiedergabe des antiken Dramas
unentbehrlich scheint, während der Blankvers eine lästige
Modernisirung mit sich bringt.
Rom. Otto Harnack.
*) Die geringe Stange Goethes in der Abmessung der Silben, die
hier ebenso wie in seinen Hexametern zu bemerken ist, fahrt freilich
dazu, dass manchmal geradezu Trochäen entstanden sind, wenn z. B.
ein Vers mit 'Phöbus1 beginnt. Doch liegt hier eine metrische Ab-
sichtlichkeit keinesfalls vor, ebenso wenig auch bei den streng ge-
nommen spondeischen Versfftssen (Vollbracht1), die Goethe nicht auf
die erste, dritte und fünfte Stelle des Verses beschränkt, sondern überall
sich sorglos gestattet.
120 Francke, Falks Goetheerinnerungen.
Zur Kritik von Falks Goetheerinneruiigen.
In der abfalligen Kritik, welche Riemer (Mittheilungen
1, 19 ff.) Falks Goetheerinnerungen zu Theil werden lägst,
nimmt er bekanntlich wenigstens zwei Partien des Buches
von seinem Yerdammungsurtheil aus: den Bericht über
Eotzebues Intrigen gegen das Goethische Kränzchen und
die Wiedergabe von Goethes Urtheil über den König Ludwig
von Holland. Es sei mir gestattet auf eine dritte Stelle
der Falkschen Memoiren hinzuweisen, welche sich ebenfalls
als im wesentlichen unanfechtbar und authentisch erweisen
lässt und somit eine weitere Einschränkung der gegen Falk
gerichteten Vorwürfe der Unzuverlässigkeit und subjectiver
Willkür erforderlich macht. Sie findet sich in der leiden-
schaftlichen Auslassung Goethes vom 29. Februar 1 809 über
die Erbärmlichkeit und Enge der deutschen Schulgelehr-
samkeit, und lautet : 'übrigens lasst es euch nicht kümmern,
wenn sie euch anfeinden! Auch uns ist es, weil wir lebten,
nicht besser gegangen. In der Mitte von Thüringen, auf
dem festen Lande, haben wir unser Schiff gezimmert; nun
sind die Fluthen gekommen und haben es von dannen ge-
tragen. Noch jetzt wird Mancher, der die flache Gegend
kennt, worin wir uns bewegten, nicht glauben, dass die
Fluthen wirklich den Berg hinangestiegen sind; und doch
sind sie da.' (Falk, Goethe aus näherm persönlichen Um-
gange dargestellt 3 S. 31.) Ich denke zeigen zu können,
dass diese Worte in der That echt Goethisch sind und da-
her, als Selbstcharakterisirung des Dichters, grössere Be-
achtung verdienen als ihnen bisher geschenkt worden ist.
Zunächst besitzen wir einen anderen Bericht über eine
fast gleichlautende Äusserung Goethes. In einem seiner
Gespräche mit Benjamin Constant im Frühjahr 1804 soll er
auf eine ziemlich platte Schmeichelei seines Gastes über
die Grösse seiner Schöpfungen und das Ansehn seines
Namens geantwortet haben: 'Ich weiss; ich weiss all das;
ich weiss auch dass die Welt mich ansieht als einen Schiffs-
zimmermann, der auf einem Berge, tausende von Meilen von
Francke, Falks Goetheerinnerungen. 12 t
der See entfernt, ein prächtiges Kriegsschiff gebaut hat.
Aber das Wasser wird steigen, mein Schiff wird flott werden,
und seinen Erbauer im Triumph zu Küsten tragen, die der
menschliche Geist nie zuvor gesehen.'1) Allerdings, der
Wortlaut dieses Berichtes ist keineswegs besser verbürgt
als der von Falks Mittheilung. Wir verdanken ihn nicht
Constant selbst s), sondern dem Amerikaner J. G. Cogswell,
der während seines Aufenthaltes zu Göttingen im J. 1817
diese Geschichte von dem Besuche Constants bei Goethe
als eine in den Professorenkreisen der Stadt cursirende
Anekdote erzählen hörte und sie in einem Briefe in die
Heimat weiter erzählte. Die wesentliche Authenticität der-
selben zu bezweifeln ist jedoch kein Grund vorhanden.
Constant selbst war erst vier Jahre vor Cogswell in Göttingen
gewesen9), und wird sicherlich seine Weimarer Erinnerungen
gern zum besten gegeben haben.
Es liegen uns hier also zwei Äusserungen Goethes vor,
zurückgehend auf den Bericht zwei verschiedener Männer,
durch einen Zeitraum von fünf Jahren von einander getrennt,
und dennoch in der Grundidee mit einander übereinstimmend.
Dies allein würde uns schon berechtigen die Echtheit beider
Äusserungen anzunehmen und zu constatiren, dass Goethe
eine längere Reihe von Jahren hindurch (und zwar sind
dies die Jahre seiner lebhaftesten Beschäftigung mit natur-
wissenschaftlichen Untersuchungen) seine eigene Thätigkeit
unter dem Bilde eines einsamen Mannes aufgefasst hat, der
') 'I know it, 1 know all that ; I know too that the world regards
meaea carpenter who has built a ship of war, of the firat rate, upon
a mountain thousands of miles from the ocean. But the water will
rise, my ship will float, and bear her builder in triumph where human
genius never reached before'. Brief J. G. Cogswells vom 16. März 1817
in: Life of J. G. Cogswell, by Anna E. Picknor, Cambridge, Mass.,
1874, p. 55. Jetzt auch bei Biedermann, Goethes Gespräche VIII
Nr. 1471, mit der unrichtigen Datirung 1803 statt 1804.
*) Die einzige Äusserung Constants, die man als eine Andeutung
auf Goethes Worte ansehen könnte, ist die folgende Bemerkung in
seinem Journal Intime: 'Pris congä de Goethe! Singulier Systeme que
celui de ne compter le public pour rien et de dire a tous les de'fauts
d'une piece: (I1 sy fera.' Revue Internationale 13,102.
*) cf. Revue Internationale 14,602.
122 Francke, Falks Goetheerinnemngen.
auf Bergeshöhe mitten im Binnenlande ein Schiff baut, dann
von der rings um den Berg ansteigenden Meeresfluth er-
griffen, und endlich zu neuen, verheissungsvollen Ufern hin-
getragen wird. Wir können aber noch weitere Beweise für
die Echtheit dieses Bildes beibringen, indem wir einige
mm
andere Äusserungen Goethes anführen, welche wenigstens
einzelne Bestandtheile jenes Gesammtbildes in sich enthalten.
1. Die Vorstellung von dem einsamen Mann auf seiner
binnenländischen Höhe erinnert an Goethes Bemerkung
gegenüber Eckermann, bei Gelegenheit ihres Gesprächs über
den V ortheil des grosstädtischen Lebens, 3. Mai 1827
(Gespräche 3,111): 'Ihnen in Ihrer Haide ist es freilich
nicht so leicht geworden ; und auch wir andern im mittleren
Deutschland haben unser bischen Weisheit schwer genug
erkaufen müssen. Denn wir führen doch im Grunde alle
ein isolirtes armseliges Leben.' (Zahlreicher anderer ähn-
licher Äusserungen gegenüber dem Kanzler v. Müller, Jacobi,
Zelter u. a. nicht zu gedenken.)
2. Das Bild von der um den Berg ansteigenden Wasser-
fluth hat eine fast wörtliche Parallele in zwei Stellen in
Dichtung und Wahrheit ; obwohl die Anwendung des Bildes
dort durchaus verschieden ist. B. 6 (Werke, Weimar. Ausg.
27,63): 'Das Gottschedische Gewässer hatte die deutsche
Welt mit einer wahren Sündfluth überschwemmt, welche
sogar über die höchsten Berge hinaufzusteigen drohte/ B. 7
(27, 93) : 'Bodmers Noachide war ein vollkommenes Symbol
der um den deutschen Parnass angeschwollenen Wasserfluth
die sich nur langsam verlief.7
3. Dass die Möglichkeit einer künftigen Fluth Goethe
wiederholt beschäftigt hat, bezeugt u. a. Eckermann 21. März
1824 (1,95): 'Er (Goethe) sprach über das Ein- und Aub-
athmen der Erde nach ewigen Gesetzen, über eine mögliche
Sündfluth bei fortwährender Wasserbejahung.' Und 26. Sep-
tember 1827, bei Gelegenheit eines Ausfluges auf den Ettere-
berg (3,127): Immer die alte Geschichte, sagte Goethe:
immer der alte Meeresboden! Wenn man von dieser Höhe
auf Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer um-
her, so kommt es einem vor wie ein Wunder, wenn man
sich sagt, dass es eine Zeit gegeben, wo in dem weiten
Francke, Falks Goetheerinnerungen. 123
Thale dort unten die Walfische ihr Spiel getrieben. Und
doch ist es so, wenigstens höchst wahrscheinlich. Die Möve
aber, die damals über dem Meere flog, das diesen Berg
bedeckte, hat sicher nicht daran gedacht, dass wir beide
heute hier fahren würden. Und wer weiss, ob nach vielen
Jahrtausenden die Möve nicht abermals über diesen Berg
fliegt.' Dass der Übergang von der Annahme einer zu-
künftigen Naturkatastrophe zu der Verwendung dieser Ka-
tastrophe als eines Symbols für eine zukünftige Geistes-
revolution sich in der Phantasie des Dichters leicht und
natürlich vollziehen konnte, braucht kaum bemerkt zu werden.
4. Von den fast unzähligen Fällen, in welchen Goethe
das menschliche Leben mit einer Seefahrt vergleicht, will
ich nur drei hervorheben, die einen directen Bezug auf
Goethe selbst enthalten. An Lavater schreibt er unterm
6. März 1776 (Briefe hg. v. Hirzel S. 19): 'Ich bin nun
ganz eingeschifft auf der Woge der Welt — voll entschlossen :
zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit
aller Ladung in die Luft zu sprengen.9 In einem Gespräch
mit Riemer am 31. März 1818 (a. a. 0. 2,719 f.) über den
Lauf seines eigenen Lebens weist er darauf hin, wie er 'bei
entschiedenen, von der Natur aufgedrungenen Anlagen, erst
dem Genius indulgirt, durchs Ungeschick sich durchgehalten,
dann dem Geschick nachgeholfen, und auf der wilden Woge
des Lebens doch noch, ohne gerade zu stranden, sich in
[irgend] eine heilsame Bucht geworfen'. Soret gegenüber
(Eckermanns Gespräche 3,201) bemerkt er am 10. Februar
1830: 'Ich komme mir oft vor wie ein Mann in einem Schiff-
bruch, der ein Bret ergreift das nur einen Einzigen zu tragen
im Stande ist. Dieser Eine rettet sich, während alle übrigen
jämmerlich ersaufen9.
Fassen wir nun alle diese Zeugnisse zusammen , so kann
es wohl keinem Zweifel mehr unterliegen, dass Falks Be-
richt über Goethes Bild von dem einsamen Schiffszimmer-
mann der Form wie dem Inhalte nach authentisch ist. Ob
Goethe bei der Wahl dieses Bildes irgend eine Heldenfigur
der Sage oder Dichtung vor Augen hatte? Möglicherweise
dachte er an Odysseus oder Robinson Crusoe, die er Riemer
gegenüber (a. a. O. S. 720) als Repräsentanten einer 4Thätig-
124 Fries, Schillers Fragment Die Flibastiers.
keifc die sich mit der Welt misst' bezeichnete. Möglicher-
weise an Noah, den Yater aller menschlichen Civilisation.
Eckermann zufolge (2, 1 38) beschäftigte sich Goethe im
J. 1830 mit der Conception einer Reihe colossaler biblischer
Statuen; und unter diesen befand sich Noah, gedacht als
'eine Art Erlöder, der, als erster Pfleger des Weinstocks,
die Menschheit von der Qual der Sorgen und Bedrängnisse
frei machte.'
Cambridge, Massachusetts. Euno Francke.
Schillers Fragment 'Die Flibustiers'.
Schiller trug sich zu verschiedenen Zeiten mit dem Plan
eines Dramas, das auf einer fernen Insel oder dem Ver-
deck eines Schiffes spielen und die ganze bunte Bewegung
des Seemannslebens entfalten sollte. Briefliche Äusserungen
weisen darauf, und durch Skizzen und Fragmente im Nach-
lass ist seitdem genau bezeugt, dass Schiller diesem Stoff-
gebiete zwei Vorwürfe abgewann, deren einer, 'das Schiff",
die Colonisten eines aussereuropäischen Eilands friedlich
darstellte, während der andre, wie schon sein Titel 'die
Flibustiers' besagt, ein kriegerisches Gegenstück bieten sollte.
Für 'das Schiff' hat Max Dessoir, Vierteljahrschrift 2,562 ff.,
eine Untersuchung des Plans und der Quellen angestellt
wie sie (die Flibustiers' noch nicht gefunden haben. Hier
soll nun die Aufklärung einiger Fragen der Filiation ver-
sucht werden.
Die Correspondenz gewährt auch in diesem Fall nur
spärliche Winke, und das Dunkel, das über der Entstehungs-
zeit liegt, haben die Herausgeber und Interpreten bisher
nicht gelüftet. Boxberger, im Archiv f. Litteraturgesch. 2,200.
erwähnte allerdings, dass die Bibliothek des Dichters die
'Geschichte der Flibustier' von Archenholz als
Autorgeschenk enthält und Schiller sich diesen Gegenstand
als dramatisches Sujet im Kalender (S. 192) notirte, zog
aber das Buch für seinen Neudruck (Spemanns National-
litteratur Bd. 125) nicht heran; Erich Schmidt, Charakte-
Fries, Schillers Fragment Die Flibustiers. 125
ristiken S. 343, bezeichnete es kurz als Schillers Vorlage.
Damit wäre ein terminus a quo gewonnen.
Zunächst ein Wort über 'Historische Schriften von
J. W. von Archenholz, vormals Hauptmann in Königl. Preussi-
sehen Diensten. Zweyter Band, Tübingen . . 1803. Die
Geschichte der Flibustier'. Zwölf Abschnitte schildern ohne
strenge chronologische Folge und gelehrtes Gepräge die
merkwürdigsten Unternehmungen jener Raubgenossen, die
vom 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in Central-
amerika unter dem Namen Flibustier (d. i. Freibeuter) all-
gemein gefürchtet waren. Diese aus dem verworfensten
Gesindel sich recrutirenden Seeräuberschaaren verstanden
es, sich durch eiserne Disciplin und eine eigene streng durch-
geführte Verfassung zu einer Machthöhe emporzuschwingen,
die sie befähigte, in den Händeln der europäischen Gross-
staaten eine bedeutende Rolle zu spielen. Das lebhafte
Interesse, das Archenholz an dem Schicksal dieser Rauf-
banden nahm und sich beim Publicum versprach, wird mit
seinem, auch in der Zeitschrift 'Minerva' bezeugten Studium
der französischen Revolution zusammenhängen. Daher finden
sich auch in dem Buche viele Hindeutungen auf jene Er-
eignisse der jüngsten Vergangenheit, die demselben eine
eigene, fast tendenziöse Färbung geben ; besonders im dritten
Abschnitt, der die Verfassung und Sitten der Flibustier be-
schreibt.
In der Darstellung ist französischer Einfluss unverkenn-
bar, zuweilen bis zu wörtlicher Übertragung. Viele der
Reden, die nach der Art antiker Historiker den handelnden
Personen in besonders wichtigen Momenten in den Mund
gelegt werden, sind Wort für Wort aus Raynals Histoire
philosophique et politique des Etablissements et du commerce
des Europ6ens dans les deux Indes (Haag 1774, 7 Bände)
entlehnt, wie eine Gegenüberstellung von Raynal 4, 76 f. und
Archenholz S. 372 f. am besten beweist (vgl. auch R. 100
= A. 55, R. 318 = A. 65, R. 370 = A. 76 und mehr).
Der Stil ist oft unklar, holprig und sogar von grammatischen
Verstössen nicht frei. — Und nun zu Schiller.
Die Verfassung der Flibustier beruht nach Schiller auf
der 'Gleichheit' aller Genossen (Boxbergers Ausgabe 258, 8),
126 Fries, Schillers Fragment Die Flibnstiers.
wie Archenholz (S. 100) sagt, dass 'an der Spitze
Raubreglements die Gleichheit9 stand. Ein anderes Gesetz
ist bei Schiller (259, 1) so gefasst: 'Theilung der Beute, jeder
muss schwören, dass er nichts beiseite gebracht hat9; Archen-
holz berichtet
S. 104: 'In Betreff der Beutevertheilung bestimmte eine jede
Genossenschaft das Nöthige. Ein jeder Flibustier machte einen
schriftlichen Vertrag mit seinem Anführer, worin er ihm Gehorsam
angelobte und im Verweigerungsfall sich aller Ansprüche auf die
nach vollendeter Reise zu theilende Beute begab. Auch musste
er ihm diesen Gehorsam durch einen förmlichen Eid zusichern.
Mit den Eidschwuren war man überhaupt nicht sparsam und
mussten auch die Anführer nach jeder Expedition schwören, nichts
von der Beute für sich entwandt zu haben9. S. 107: 'Alle
Flibustier mussten sich mit den grössten Eidschwüren, die Hand
auf Bibel oder Crucifix gelegt, verbinden, nicht das Mindeste von
der Beute zu verheimlichen, was den Werth von fünf Sols oder
anderthalb Groschen überstieg. Wer den Schwur brach, wurde
sogleich aus der Gesellschaft verbannt9. S. 322: 'Auf dem halben
Wege nach dem Gastell Ghager wurde Halt gemacht Hier musste
ein jeder schwören, dass er nicht das Geringste von der Beule
verheimlicht hätte1.
Den Gesetzen des Flibustierstaates entnimmt Archen-
holz sodann folgenden Artikel:
S. 100: 'Keine Frauensperson . . . wurde auf den Schiffen
geduldet, um Eifersucht und Zänkereyen vorzubeugen. Wagte es
jemand, ein Mädchen, oder eine Frau verkleidet auf ein Schiff zu
bringen, so wurde er bei der Entdeckung mit dem Tode bestraft'.
(S. 476) : 'Auch zwey Weibspersonen, . . . gesellten sich zu diesen
Seeräubern; nicht als Lustdirnen, auch nicht verkleidet, sondern
als wirkliche Raubgenossen in weiblichem Anzüge und in Matrosen-
Hosen mit fliegenden Haaren, dabey mit Schwerdtern umgürtet;
auch führten sie Pistolen vor der Brust und ein . . . Mordbeü
vollendete ihre Rüstung1.
Schiller sagt 258,12: 'Ein weibliches Geschöpf steckt
auch darunter, die als Mann verkleidet und einer der tapfersten
ist', und 258,35: 'Das Frauenzimmer ein Seeräuber'.
Als einen hervorstehenden Charakterzug der Seeräuber
bezeichnet Schiller (259,5) ihre 'Unmenschlichkeit'. Ar6hen-
holz führt hiervon viele Beispiele an.
'Man dachte gewöhnlich nur durch schleunige Ergebung die
Barmherzigkeit dieser Freybeuter rege zu machen, die bey einem
Pries, Schillers Fragment Die Flibustiera. 127
gereizten Unwillen, oft den Process der Überwundenen kurz en-
digten, indem sie solche alle ins Meer warfen' (S. 97).
Die Qualen, welche die Flibustier nach der Eroberung
von Gibraltar (S. 245), Panama (320), Queaquilla (425) über
die gefangenen Einwohner dieser Städte verhängten, werden
in den grellsten Farben geschildert.
Die 'rohe Güte9, die Schiller (257,9; 258,31) an den
Flibustiera hervorhebt, erscheint mehrfach bei Archenholz z.B.
S. 93: 'Diess gehörte zu den Grundsätzen der Flibustier, so-
wie auch eine grosse Treue gegen einander ihnen eigen war'.
S. 97: 'Bevor es zum Gefecht ging, waren sie andächtig, beteten
ernstlich und schlugen sich dabey als reuige Sünder mit geballten
Fäusten auf die Brust; sodann söhnten sie sich alle unter ein-
ander aus, baten sich gegenseitig die angethanen Beleidigungen ab
und umarmten sich zum Zeichen der brüderlichen Versöhnung.'
S. 321 : 'Dieses verräterische Betragen, das bekannt wurde, ver-
mehrte das Mitleid der Flibustier — — , und selbst Morgan be-
kam einen Anfall von Gutmüthigkeit'.
Ferner charakterisirt der Dichter seine Helden folgen-
dennassen (259,3 ff.): 'Alles Gewonnene wird gleich ver-
schwelgt. Ungeheure Yerschwendung und grösster Mangel
wechseln schnell aufeinander7. Archenholz erzählt ent-
sprechend
S. 109: 'Die Flibustier wussten nicht, wie sie ihre Beute
geschwind genug verschwelgen konnten, und überliessen sich da-
her, wenn sie ans Land kamen, ihren Phantasien . . . Bey solchen
Grundsätzen hatten die Schwelgereyen dieser Menschen weder
Mass noch Ziel. Alles trieben sie bis zur grössten Ausschweifung1.
S. 41 : 'Der Rest ihres Gewinnes aber wurde verschweigt'. S. 358:
'Die Langeweile trieb auch diese Räuber oft zum Spiel, da denn
viele von ihnen in Kurzem Alles, was sie hatten, die ganze Frucht
ihrer Mühseligkeiten und Gefahren, verloren'. S. 423: 'Hier lebten
die Flibustier dreyssig Tage lang in Freude und Herrlichkeit, . . .
den ganzen Tag wurde Musik gemacht, . . . man tanzte und sang
Tag und Nacht. Aller Kummer wurde vergessen1.
Bei solcher Unbesonnenheit und inneren Haltlosigkeit
der Flibustier musste die Stellung eines Anführers unter
ihnen eine bedenkliche sein. Darum vermerkt Schiller auch
in seinem Plan die 'Unsicherheit eines solchen Räuberchefs
vor seiner eigenen Mannschaft' (259,9). Archenholz erzählt
S. 165: 'L'Olonois entwarf nun einen Plan, . . . allein alle
seine Räuber empörten sich gegen diesen Vorschlag, den sie . . .
als unausführbar bezeichneten. . . . Der Anführer hatte also den
128 Fries, Schillers Fragment Die Flibuatiers.
Verdruss, abermals seinen Entwurf von seinen . . Raubkaroeraden
verworfen zu sehen.1 S. 325: 'Die Flibustier murrten . . . laut
und sagten Morgan ins Gesicht, dass er die grössten Kostbarkeiten
nicht in Anschlag gebracht, sondern sich allein zugeeignet hatte;
. . . noch andre Klagen wurden mit diesen verbunden und es war
eine Empörung zu fürchten. Der treulose Anfuhrer . . . ging
heimlich an Bord seines Schiffes und segelte ab. . . . Die andern
Flibustier, die sich so schändlich verlassen sahen, wurden wüthend;
sie wollten Morgan nacheilen und ihn angreifen'. S. 351: 'Hier
brach die unter den Flibustiern lang geherrschte Unzufriedenheit
in einen Tumult aus. Sie kündigten ihrem Anführer Sharp den
Gehorsam auf und erwählten einen Namens Watling zu ihrem
Befehlshaber9.
Aus der Kriegskunst der Flibustier erwähnt Schiller an
mehreren Stellen das 'Entern7 (256, 11; 257,15), womit
Folgendes bei Archenholz zu vergleichen ist:
S. 96 : 'Sie wollten und mussten siegen, und siegten. Diess
geschah immer durchs Entern, worin sie sehr geschickt waren.
Von allen Seiten erkletterten sie in der Geschwindigkeit die zum
Gefecht ganz unvorbereiteten Schiffe, die bey der Annäherung
eines offenen Bootes nicht einmal die Möglichkeit einer Gefahr
ahneten. Hatten sie einmal auf dem Verdeck festen Fuss gefasst,
so war das Schiff ihre'.
An einer andern Stelle (S. 167) wird erzählt, wie die
Flibustier ein reiches spanisches Schiff anfallen:
'L'Olonois . . . griff es sogleich mit seinem abgesonderten Schiff
an ... ; die Spanier wehrten sich tapfer, schlugen die Freybeuter
zurück und zwangen diese, mit ihrem Schiffe abzuziehen. Die
Flibustier waren jedoch weit entfernt, ihr Vorhaben aufzugeben:
ein fallender, dicker Nebel begünstigte sie; unter dessen Schutz
füllte L'Olonois vier Bote mit seinen Leuten an, und erkletterte
nun mit ihnen das Spanische Schiff, das in kurzem erobert war\
Aber auch bestimmte Personen sind beiden gemein.
Wenn Schiller von seinem Helden sagt (258,1): 'Wüthende
Rachsucht gegen eine bestimmte Nation, gegen einen be-
sonderen Stand (die Mönche) und Neid gegen die ganze
civilisirte Gesellschaft beseelt ihn1, so erinnert das lebhaft
an folgende Worte bei Archenholz (S. 113):
'Zu dem Neid der Nationen über die gold- und silberreichen
Länder der Spanier in America kam der Abscheu wegen ihrer in
jenem Welttheil verübten Grausamkeiten . . . ; daher viele junge
Leute, sowie auch Männer von gesetzten Jahren nicht aus Liebe,
noch durch Armuth, noch durch Raubsucht, sondern bloss aus
Hass gegen die Spanier vermocht wurden, sich zu den Flibustiern
Fries, Schillers Fragment Die Flibustiers. 129
zu gesellen, und mit diesen Freybeutern gemeinschaftlich wider
jene Nationen zu kämpfen. . . . Diess war unter andern der Fall
mit einem jungen Edelmann . . ., der . . . dieser Nation einen
unversöhnlichen Hass geschworen hatte. . . . Kaum war er voll-
jährig, so verwandte er seine ganze Haabe auf die Ausrüstung
eines Schiffes, womit er zu den Flibustiern stiess, und sich
unter ihnen bald ... als einen ihrer kühnsten und ge-
schicktesten Anführer auszeichnete. Der Raub und das zügel-
lose Leben hatten für ihn keinen Reiz, sondern allein die
Rache'.
Ein derartiger Charakter musste Schillers Aufmerksam-
keit um so stärker anziehen, als er eine unverkennbare
Ähnlichkeit mit Karl Moor aufwies. Überhaupt musste dieser
Stoff den Dichter wie ein Nachklang aus der Periode der
'Räuber' anmuthen und vielleicht lässt sich von hier aus
eine Brücke zu dem chronologisch noch nicht bestimmten
Entwurf 'Die Braut in Trauer7, einer Fortsetzung der 'Räuber1,
schlagen. Der Charakter des Flibustierhelden, wie er im
Fragment geschildert wird, erinnert offenbar an den edlen
Räuber.
Was die Erwähnung der Mönche in der oben angeführten
Stelle anbetrifft (258,1), so spielen dieselben auch bei
Archenholz eine ziemlich bedeutende Rolle. S. 226 wird
erzählt, wie Morgan bei der Erstürmung von Porto Bello
zuerst gefangene Mönche und Nonnen die Sturmleitern er-
steigen Hess, damit die Einwohner, aus Furcht, die Diener
der Kirche zu verletzen, von einer regelrechten Verteidigung
Abstand nähmen.
S. 306: 'Man fand einige Franciscaner unter den Gefangenen,
die . . . zur Absolution der Sterbenden sich der grössten Gefahr
ausgesetzt hatten und jetzt vor Morgan geführt wurden, der über
sie sogleich das Todesurtheil aussprach. Vergebens flehten diese
armen schuldlosen Mönche um Barmherzigkeit; sie wurden alle
mit Pistolen niedergeschossen'.
Von seinem Helden sagt Schiller (258, 22) : 'Ein Korsar
Jones rettet eine Schöne aus der Gewalt seiner wüthenden
Kameraden und imponirt diesen durch seinen Muth und
Anstand. Er wird von der Liebe gerührt und flösst
Liebe ein. Diese Person ist von dem ersten Adel und
findet Rächer. Man verfolgt den Korsaren, der sie weg-
Viertoljahnchrift ffir Literaturgeschichte V 9
130 Fries, Schillers Fragment Die Flibustiers.
geraubt9.1) Archenholz sagt über die Behandlung weiblicher
Gefangener (8. 108):
'Alle Personen weiblichen Geschlechts von jugendlichem Alter
und guter Bildung, ohne Rücksicht auf Stand und eheliche Ver-
bindungen wurden von diesen Unmenschen wie thierische Beute
betrachtet; wobey nur allein der Selbstmord ein solches armes
Geschöpf gegen viehische Unterwürfigkeit sichern konnte. Die
Ausnahmen, wo man die Unschuld und Sittsamkeit respektierte,
waren höchst selten*.
Hier muss auch die Erzählung von Morgans Benehmen
gegen eine gefangene, edle Spanierin erwähnt werden, welche
er zuerst, als sie seinen Werbungen widerstand, auf das
grausamste verfolgte, dann aber, durch ihr Unglück gerührt,
aus der Gefangenschaft entliess (317 — 22).
Schliesslich sind noch einige Einzelheiten zu erwähnen,
in welchen die Ähnlichkeit zwischen Schiller und Archen-
holz besonders hervortritt.
Schiller verzeichnet eine Reihe von Namen für seine
Seeräuber (258,32): 'Philipps. Martel. Anna Bonni. Marie
Read. Mönbars, Eisenarm, Jones". Alle diese Namen, ausser
dem letzten, finden sich auch bei Archenholz:
S. 114: 'Diess war . . . der Fall mit einem jungen Edelmann
aus Languedoc, Namens Monbars'.3) S. 127: 'Ein anderer
Anführer der Flibustier war ein Französischer Edelmann, den man
nicht anders als bey seinem Vornamen Alexander kannte, wozu
man wegen seiner ausserordentlichen Leibesstärke das Beywort
Eisenarm gefügt hatte1. S. 476: 'Ihre Häupter, die sich aus-
zeichneten, waren: Misson, Bowen, Kidd, Avery, Teach, Martel,
England, Vane, Bonet, Nackam Davis, Anstis, Roberts, Worley,
') vgl. Braut von Messina 11,4:
'Mit dem Schwerte springt der Korsar an die Küste
In dem nächtlich ergreifenden Überfall,
Männer fahrt er davon und Frauen
Und ersättigt die wilde Begier.
Nor die schönste Gestalt darf er nicht berühren,
Die ist des Königes Gut*.
In demselben Stück wird das Verschwinden der Beatrice durch
plötzliche Landung von Seeräubern erklärt und der nach ihr ausge-
schickte Bote kehrt zurück mit dem Ruf:
'Sie ist geraubt! Gestohlen von Korsaren !*
*) Bei Raynal (a. a. 0. S. 56) wird dieser Name Montbars ge-
schrieben.
Fries, Schillers Fragment Die Flibustiers. 131
Lowther, Evans, Phillips, Low, Spriggs und Smith. Auch zwey
Weibspersonen, Mary Read und Anne Bonny, gesellten sich
zu diesen Seeräubern'.3)
Schiller spricht (256, 18) von einem 'Brand im Wasser9.
Archenbolz erzählt S. 106:
'Dafür hatten sie (die Schiffsjungen) . . . noch die Obliegenheit,
die Schiffe, die man auf offener See weder verkaufen, noch aus
Mangel an Mannschaft mitnehmen konnte, in Brand zu stecken'.
Einen grossen Theil des siebenten Abschnittes füllt die
Erzählung von dem Kampf der Flibustier gegen die Flotte
des Admirals Don Alfonso del Campo im Jahre 1669 aus.
Es wird beschrieben, wie die Flibustier einen Brander aus-
rüsteten und gegen das feindliche Admiralsschiff trieben;
8. 257:
'Der Admiral verlor jedoch seine Besonnenheit nicht; er liess
eine Menge Spanier in den Brander springen, um die Masten zu
kappen und wo möglich den Ausbruch der Flammen zu hindern ;
allein seine thätigen Feinde waren ihm zuvorgekommen, und
hatten bey ihrer Entfernung bereits den Brander angezündet. Auch
das Admiralsschiff fing nun Feuer, das sich schnell ausbreitete,
und in kurzer Zeit sank es mit dem grössten Theil der Mann-
schaft in Abgrund des Meeres*.
Auch folgende Stelle gebort hierher S. 350:
'Die Spanier hatten den Entwurf gemacht, das Raubschiff zu
verbrennen. Ein Mann schwamm auf einer ausgestopften Pferde-
haut in der Nacht ans Schiff, zwängte sowohl in die Fugen, als
zwischen dem Steuerruder Schwefel und andre brennbare Materien,
und zündete sie an. Das Schiff war bald voller Rauch; das
Steuerruder brannte schon, als die am Bord befindlichen Flibustier
endlich den Ursprung entdeckten und glücklich das Feuer dämpften'.
Ferner spricht Schiller von einem 'Befehl des Anführers,
mit brennender Lunte an der Pulverkammer zu warten'
(258,16) und Archenholz berichtet S. 185:
'Um diese Stimmung zu erhalten, rief Laurent einen der
Entschlossensten zu sich, befahl ihm eine brennende Lunte zu
holen, und nun wiess er ihm seinen Posten zwey Schritte von
der Pulverkammer an; hier sollteer, nach Verlust aller Hoffnung,
das von ihm zu gebende Signal zum Zünden erwarten1.
*) Die Namen werden bei Schiller durch die Interpunction in
zwei Gruppen getheilt, deren eine durch Puncte, die andre durch
Kommata geschieden wird. Die Namen der einen Gruppe stehen bei
Archenholz an einer Stelle zusammen, die der andern an verschiedenen
Orten verstreut.
9*
132 Fries, Schillers Fragment Die Flibustiera.
Sodann notirt Schiller folgendes Motiv (257,14): 'Ein
Schiffer sprengt sich in die Luft'; vgl. Archenholz 8. 380:
'Der durch dies grausame Schicksal zur Verzweiflung ge-
triebene Englische Befehlshaber glaubte die Schmach nicht über-
leben zu müssen, und sprengte sein Schiff in die Luft; auch das
andre flog mit auf ; S. 239 : 'Mitten unter diesem Jubel flog das
Schiff in die Luft, und dreyhundert und fünfzig Engländer nebst
den gefangenen Franzosen wurden in den Wellen begraben';
S. 337: 'die Schiffe wurden von allen Seiten mit Musketen . . .
beschossen. Es währte nicht lange, so flog eine Pulvertonne in
die Luft, wodurch viele Neger ins Meer geschleudert, andere ver-
brannt wurden, .... es entzündeten sich noch mehrere Pulver-
tonnen, und richteten auf dem Negerschiff eine schreckliche Ver-
wirrung an'.4)
Wenn endlich Schiller sagt (259,7): 'Einer von den
Seeräubern fallt den Karaiben in die Hände und wird ge-
fressen-, so erinnert das sehr an den Tod des Anfuhrers
L'Olonois bei Archenholz S. 172:
'Bey einer Landung fielen die Indianer von Darien, eine der
wildesten Völkerschaften in America, über ihn her, machten ihn
zum Gefangenen, rissen ihn lebendig in Stücken, rösteten seine
Glieder, und frassen sie. Die meisten seiner mit ans Land ge-
stiegenen Gameraden hatten ein ähnliches Schicksal, und wurden
zum Theil lebendig verbrannt9.
Durch alle diese Übereinstimmungen wird das Archen -
holzsche Buch als Hauptquelle, das Jahr 1803 als Anfangs-
termin des Schillerschen Entwurfes festgestellt.
Nur noch ein Bedenken muss aus dem Wege geräumt
werden. Das Fragment 'Das Schiff' ist in der Periode des
4 Wallenstein' entstanden, wie Hoffmeister (Nachlese zu
Schillers Werken 1858 3,240) aus dem 'überwiegenden
Ideengehalt' desselben schliesst und Boxberger und Dessoir
ihm zugeben. Noch ein weiteres Moment könnte für die
Sicherung dieses Ansatzes geltend gemacht werden. Es
4) Übrigens könnte Schiller diesen Zag auch ans anderer Quelle
übernommen haben, z. B. aus Le Vaillant, bei dem wir (Reise in das
Innere von Afrika, in Forsters Magazin von merkwürdigen Reise-
beschreibungen 2,40) Folgendes lesen: 'Alle nnsre Kapitäne waren
kassiert worden, aasgenommen van Gennep, der einzige, der sein Schiff
in die Luft gesprengt . . . hatte. Bei der Abfahrt nach der Bay war
nehmlich allen befohlen worden, falls sie so angegriffen würden, dass
sie sich nicht vertheidigen könnten, ihre Schiffe auffliegen zu lassen*.
Fries, Schillere Fragment Die Flibnstiers.
133
findet sich nämlich folgende Stelle im 'Schiff' (Goedeke
XV 1 , 299, 1 2) : 'Ein Akt, der lezte, kann in Europa spielen,
wenn vorher in einem Zwischenakt der Oceanus aufgetreten
und diesen ungeheuren Sprung launigt entschuldigt hat7.
Ein derartiges unmotivirtes Eingreifen des humoristischen
Prologs in den ernsten Gang der Handlung würde bei einem
Dichter wie Schiller ganz unerklärlich sein, wenn nicht ein
Brief desselben an Goethe (vom 28. November 1797) uns
belehrte, dass er eben um diese Zeit dem Studium der
Shakespeareschen Königsdramen oblag. In diesen aber ist
es nichts Ungewöhnliches, dass ein Prologus auftritt und
die Zuhörer bittet, dem Dichter in Gedanken über das Meer
folgen zu wollen, z. B. vor dem III. und Y. Aufzug von
'König Heinrich der Fünfte'.
Nun bestehen zwischen dem 'Schiff' und den 'FlibuBtiern'
einige Ähnlichkeiten, welche nur darin ihre Erklärung finden
können, dass beide Entwürfe einer und derselben Zeit an-
gehören, ein Umstand, der unsere früheren Ergebnisse über
den Haufen werfen würde, indem wir die 'Flibustier' weit
über das Erscheinungsjahr des Buches von Archenholz
hinaufrücken müssten. Betrachten wir zunächst die er-
wähnten Couicidenzen :
Das Schiff (Boxberger):
96, 1 : Die Aufgabe ist ein
Drama, worin alle interessanten
Motive der Seereisen verbunden
werden.
96,8: Schiffsregierung.
96,8: Charakter des See-
manns.
96, 1 1 : Landen und Absegeln.
96,21: Wegsegeln und Dablei-
ben. 99,29: Ankommende und
Abgehende. 100,21: Die An-
kunft, der Abschied.
96,11: Seetreffen.
96, 1 1 : Meuterei auf dem
Schiff.
96,12: Schiffsjustiz.
96,14: Handel.
Die Flibustier:
256,15: Alle Hauptmotive,
die in diesem Stoff liegen, müssen
herbeigebracht werden.
256,14: Schiffsregierung.
256,24: Charakter eines
grossen Seemanns.
257,3: Abschied eines See-
mannes von seinen Gefährten,
oder doch sonst ein höchst rühren-
der Abschied. Eine rührende
Ankunft.
256,10: Die Anstalten zu
einem Seetreffen.
256,17: Auch eine Meuterei
auf dem Schiff.
256,8: Die Schiffsstrafe.
256,21: Tauschhandel mit
Wilden.
134 Fries, Schillers Fragment Die Flibustiere.
96,14: Seekarten, Kompass, 256,22: Mitreisende Gelehrte,
Längenuhr. Geographische Entdeckungen.
100,19: Matrosengesang. 256,13: Chor der Matrosen.
Ein Schiffslied.
[98, 24: Ein Kapitän, der von [257,22: Ein Befehlshaber
einer rebellischen Mannschaft wird ausgesetzt, wenn das Schiff
ausgesetzt wird oder geworden rebellirt hat. 257,27: Am Lande
ist.] setzen sie den Kapitän, und wer
ihm sonst noch folgen will, aus
und segeln nun als Corsaren
nach einem andern Welttheil.]
Die innere Zusammengehörigkeit beider Fragmente
scheint hiernach ausser Frage gestellt. Nun zeigt sieh
aber bei näherer Beobachtung, dass in der obigen Über-
sicht 8ämmtliche Stellen aus den 'Flibustiern' mit Aus-
nahme der zwei letzten (die deshalb eingeklammert sind)
den ersten beiden Abschnitten dieses Fragments entnommen
sind. Diese Abschnitte aber (256, 1 — 257, 7) haben mit den
'Flibustiern' überhaupt nichts zu thun, müssen vielmehr dem
Fragmentcomplexe des 'Schiffs' einverleibt werden, was un-
schwer zu erweisen sein wird.
Zu Anfang lesen wir nämlich (256, 15 — 17) : 'Alle Haupt-
motive, die in diesem Stoff liegen, müssen herbeigebracht
werden. — Auch eine Meuterey auf dem Schiff'. In unserm
Fragment ist aber die Meuterei der Kern und der eigent-
liche Mittelpunkt des Stoffs, sie kann also unmöglich als
ein in dem Stoff liegendes Motiv herbeigezogen werden.
Überhaupt spricht die nebensächliche Erwähnung 'auch
eine Meuterei' gegen die Zugehörigkeit dieser Stelle zu
unserem Fragment. Dagegen ist sie im 'Schiff' ganz am
Platze, besonders weil dort schon einmal eine 'Meuterei auf
dem Schiff' erwähnt wird (96,11). Die Wiederholung der-
selben Motive kurz hinter einander findet sich öfter und ist
kein Hinderniss. 5)
Sodann finden wir an jener Stelle: 'Charakter eines
grossen Seemanns, der auf dem Meer alt geworden, die
Welt durchsegelt und alles erlebt hat. — Der Held des
Stückes ein junger werdender Seeheld' (256,24 — 26). Diese
Charakteristik passt nun schlechterdings nicht in unser
•) vgl. 256,10 u. 256,20; 256,12 u. 256,19 u. a. m.
Englert, Ein zeitgenössisches Urtheil über Hans Sachs. 135
Bruchstück, ein Flibustieranführer kann unmöglich ein 'junger
werdender Seeheld' genannt werden, und auch der andere
Charakter passt nicht in diesen Rahmen. An späteren
Stellen spricht Schiller ganz anders von seinem Helden.
Vortrefflich passt jene Charakteristik aber in den Zusammen-
hang des 'Schiffes', in welchem auch von einem 'Seemann,
der überall und nirgends zu Hause ist und auf dem Meere
wohnt' (97,7), die Rede ist. Auch lässt sich die Parallele
zwischen dem alten, erfahrenen und dem jungen, aufstreben-
den Seefahrer und zwischen Wallenstein und Max leicht
ziehen, was Erwähnung verdient, weil das ' Schiff', wie wir
sahen, in die Zeit des 'Wallenstein' fallt. Demnach scheint
der Schlus8 erlaubt, dass die Stellen, in welchen hiervon
die Rede ist, nicht zu den 'Flibustiern', sondern zum 'Schiff'
gehören, womit das letzte Bedenken, das sich unserer obigen
Annahme entgegenstellen konnte, schwindet.
Mit dem Erweis, dass Archenholz der treulich benutzte
Gewährsmann Schillers war, ist die Quellenfrage nicht er-
ledigt. Auf französische Vorlagen deutet die Form (Flibustiers'
im Titel, 4Plibüstires' (Goedeke XV t, 306,31) am Ende;
letztere ändert Boxberger willkürlich in 'Flibustiers' um
und für diese empfiehlt er ein dem Französischen fremdes,
also auch bei Schiller unmögliches 'flibustiens' (S. 256 Anm.).
Planmässige Lektüre der unserm Dichter zugänglich gewesenen
Reisebeschreibungen oder ein zufalliger Fund mag einmal
weiter führen.
Berlin. Carl Fries.
Ein zeitgenössisches Urtheil über Hans Sachs.
Dem 'Commentarius de cancellariis et procancellariis
Bipontinis9, Frf. et Lps. 1768, von dem Gelehrten G. Chr.
Crollius l) ist ein 4Fasciculus Epistolarum SitzingerianarumXXI
*) G. Chr. Crollius, geb. 1728, gest. 1790 als Bector des Zwei-
brücker Gymnasiums, Vorstand der Bibliothek und Historiograph des
herzoglichen Hauses. Vgl. Molitor, Vollst Gesch. der ehem. pfalz-bayr.
Residenzstadt Zweibrücken, Zweibr. 1885, Generalregister. Auch Ailg.
Deutsche Biographie.
136 Englert, Ein zeitgenössisches Urtheil über Hans Sachs.
ex scriniis Georgii Christiani Joannis nunc primum
als Appendix beigegeben. In der Einleitung zu diesen
Briefen sagt Crolüus, daes sein Grossvater G. Chr. Joannis a)
dieselben einst im Neuburger Archiv abgeschrieben habe.
Es sind zumeist Briefe von Ulr. Sitzinger *) an verschiedene
Gelehrte wie Ph. Melanchthon, C. Peucer, C. Cruciger. Ein
vom 28. April 1565 aus Sulzbach datirter Brief von Sitzinger
an Peter Agricola4) enthält nachfolgende interessante Stelle
über Hans Sachs:
Ineptus nuper fui, quod, cum Norimbergensem poetam no-
minares, non intellexerim. Sed paulo post, cum nondum a te
monitus essem, succurrebat Saxo noster; quem ego non rhytmo-
graphum, sed celebrem et facundum nostrae linguae poetam dicere
non dubito, et propter ingenii elegantiam et propter rerum varie-
tatem, quas descripsit. Et profecto ipsius libri, quorum jam ex-
tant tria justa volumina, plus doctrinae et sapientiae in se conti-
nent quam multa hujus temporis scripta, eüara eorum, qui se
inter sapientes numerari existimant. Fratri uxoris meaes) familia-
*) G. Chr. Joannis, p rötest Geistlicher und Geschichtsforscher,
geb. 1658 zu Marktbreit, 1702 bis 1717 Professor der Geschichte u. der
schönen Wissenschaften in Zweibrücken, gest. daselbst 1735. Vgl. Jöcher;
Molitor, a. a. 0. S. 420 f. und Allg. Deutsche Biographie.
*) Ulr. Sitzinger, Rechtsgelehrter, geb. zu Worms 1525, genoss
seine Jugendbildung in Nürnberg, ging 1544 nach Wittenberg, wo er
noch zwei Jahre Luther hörte und in freundschaftliche Beziehungen zn
Melanchthon trat. Im J. 1548 heiratete er Anna Münster, Tochter
der Schwester von Melanchthons Gemahlin und des Rechtsgelehrten
Sebaldus Münster aus Nürnberg, Professors an der Hochschule zu Witten-
berg. Nach vorübergehender Thätigkeit in Nürnberg und in Worms
kam Sitzinger 1551 als Regierungsrath nach Zweibrücken. Um diese
Zeit wurde er von Karl V. in den Adelsstand erhoben. Im J. 1555 er-
nannte ihn Herzog Wolfgang zum Kanzler in Zweibrücken. Von 1558
bis 1561 war er Kanzler im Herzogthum Neuburg. 1561 übernahm er
das Amt eines sulzbachischen Landrichters. Er starb 1574 auf seiner
Burg Holestein bei Sulzbach. Vgl. Adami; Zedier; G. Chr. Crollius,
a. a. 0. S. 65 ff.; Molitor, a. a. 0. S. 201 f.
4) Petrus Agricola ward 1561 auf Sitzingers Empfehlung Erzieher
der Söhne Wolfgangs, später Erzieher am Neuburger Hofe und zuletzt
Neuburgischer Rath. — In dem oben genannten Fasciculus sind mehrere
Briefe von ihm an Sitzinger roitgetheilt.
') Sebald Münsters gleichnam. Sohn. S. Jöcher u. Rotermund,
sowie Will u. Nopitsch, Nürnb. Gel. Lex. — Sitzinger erwähnt seinen
Schwager auch in einem Briefe S. 189 a. a. 0.
Werner, Zur Faustsage. 137
riter notus est. Per euin si quid contra Esauitas6) cudendum est,
facile praestabimus, modo tu argumentum suppedites.
München. Anton Englert.
Zur Faustsage.
1. Bild der Ewigkeit.
In einem kleinen katholischen Gebetbuch, das im Jahre
1603 auf Pergament geschrieben ist und u. a. den Anfang
des Evang. Johannis enthält, steht S. 74 ff. 'Die Erbärm-
liche Clag der verdampten von Immerwerender straff vnd
Pein der höllen'.
0 Jamer vnnd noth 0 Höll vnnd Todt, 0 Sterben ohn Sterben,
Alle stund sterben, vnnd Nimermer sterben, 0 Schaiden von Gott
wie thust du so weh, 0 Hendt schigen [!] vnnd grissgramen
seuffzen vnnd wainen, 0 Immer heulen vnnd Rieffen, vnnd Nimmer-
mer erhert werden, Vnsere Augen mögen Nimmer änderst sehen,
Dann angst [75] vnnd noth, Vnnsere Ohren nicht annderst hören,
dann ach vnnd weh, 0 Ir Berg vnnd thal, was beittet Ir, was
halt so lang auf, warum bedeckt ir vnns nit, für dem Jämerlichen
anplick, 0 leyden diser vnnd Jener weit, 0 Gegenwertige freudt,
wie blendestu, wie treugst du, Ach vnnd weh das wir von Gott
ohn allen trost vnnd zuuersicht miessen Ewig geschaiden sein. Wir
begerten nicht liebers, Dann wann ein Milstain so braidt were,
als Das ganntze Erdreich, vnd so gross das er den Himel [76]
Allenthalben beruret, vnd kam ein klaines Vögelein, vber Zehen
Tausent Jar nur ainmal, vnnd holet von Dem grossen stain, Nur
so gros als ein Senffkörle, vnnd vber Zechen Tausent Jar aber
mal 1- vnnd fortan biss das der grosse Stain, Durch das Vögele
weck getragen wurde, nicht liebers begerten wir verdampte, Dann
das vnnser, Ewige Marter als dann ein endt möcht haben, Aber
das kan nit sein, Darumb Schreyen wir ach vnnd weh bis in
Ewigkait.
Dieser Klage wird im Spiessischen Faustbuch Kap. 16
(Neudruck S. 39) gedacht:
Darumb soltu, mein Herr Fauste wissen, dass die Verdampten
auff kein Ziel oder Zeit zuhoffen haben, darinnen sie auss dieser
Quaal erlösst werden möchten, Ja wann sie nur eine solche Hoff-
•) Vermuthlich sind speciell die Jesuiten in Dillingen gemeint, wo
der Orden 1563 eine Filiale gestiftet hatte, um dem Protestantismus
im Herzogthum Neuburg entgegenzuarbeiten.
138 Werner, Zur Faustsage.
nung haben köndten ... da ein Sandhauff so gross were biss
an Himmel, vnd ein Vögelein alle Jahr nur ein Körnlein einer
Bonen gross darvon hinweg trüge, dass alsdann nach verzehrung
desselbigen, sie erlösst werden möchten, so würden sie sich dessen
erfreuen . . .
Ganz genau mit unserem Gebetbuche von 1603 stimmt
Widmann-Pfitzers Faustbuch 1674 (Keller, Stuttg. litt. Verein
146, 610), in welchem sich die Klage nur etwas ausführ-
licher findet:
Sie werden ihre Hände über dem Kopff zusammen schlagen,
ruffen und schreyen: 0 Jammer und Noth! 0 Höll und Tod!
0 Elend ohne Ende! 0 Sterben ohne Sterben, O alle Stunde
sterben, und doch nimmermehr sterben! O Scheiden wie thust
du so wehe, 0 Hände-schlagen, 0 Grissgramen, Seufflzen und
Weinen! 0 immer Heulen und Ruffen, und doch nimmermehr
erhöret werden! Unsere Augen mögen nimmer anders sehen denn
Angst und Noth: unsere Ohren mögen nichts anders hören denn
Angst und Wehe! 0 ihr Hügel fallet über uns, 0 ihr Berge
decket uns! Ach was verweilet ihr? was haltet ihr so lang
auf? warum überwerffl ihr uns nicht für dem jämmerlichen und
greulichen Anblick? 0 Leiden dieser und jener Welt wie bist
du so ungleich? 0 gegenwertige Pein, wie bist du so
ungleich gegen der Freud und Wollust, die wir ehe-
dessen genossen haben? Ach wehe und aber wehe, dass
wirMosen und die Propheten nicht haben wollen hören,
dass wir anjetzo von Gott ohn allen Trost und Hoffnung ewig
ewig müssen gescheiden seyn! Wir begehrten nichts liebers, denn
wenn ein Berg wäre so breit als der gantze Erdboden, und
um sich so gross, dass er allenthalben den Himmel berührte,
und käme ein Vögelein je über hundert Jahr einmal, und holete
von dem Berg so gross als ein Senffkörnlein, und so fortan, bis
der grosse Berg durch soviel unaussprechliche Zeiten
von dem Vögelein hinweg getragen würde, dass alsdenn auch
unsere Marter ein Ende haben möchte! aber das kan nit seyn,
darum bleiben wir ewiglich in der Pein, und können nichts
als Ach und Wehe schreyen.
In dem Märchen 'Das Hirtenbüblein' (bei den Brüdern
Grimm Nr. 152) lautet die dritte Frage des Königs an das
weise Hirtenbübchen:
Wie viel Secunden hat die Ewigkeit? Da sagte das Hirten-
büblein: in Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine
Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde
in die Tiefe; dahin kommt alle hundert Jahre ein Vögelein und
wetzt sein Schnäbelein daran, und wenn der ganze Berg abgewetzt
ist, dann ist die erste Secunde von der Ewigkeit vorbei.
Tille, Zur Faustsage. 139
Vgl. noch Beinhold Köhler in der Germania 8, 305 ff.
und A. Musafia ebenda 9,457 f.
2. Der Weintraubenzauber.
'Der Wathafftige [!] Sack der Künsten, auss Lateinischen
vnnd Italiänischen Sprachen verteutschet vnnd zusammen
gebracht, vnnd mit etlichen natürlichen Künsten, auch mit
der schimpff Medicin geziert, kurtzweilich zu lesen vnd gantz
nützlich zu wissen. Jetzt auffs newe gemehret und gebessert,
auch mit schönen Künsten, die vor nie dergestalt gedruckt
seind, vermehret. Gedruckt zu Collen bey Arnold Schlendter,
Im Jahr 1650' enthält S. B 4 f. folgendes Recept 'Einen
Weingarten zu machen vber einen Tisch, oder wo man will' :
Nimb ein Kottorff oder Vrinal, vnd bindt den an ein Wein-
stock, wenn die Trauben geblühet haben, vnnd stecke einen
Trauben in das Glass ohn quetschung dess Traubens, vnd mache
dann das Glass gedieht zu mit Wachs, vnnd lass den Trauben
reift werden in dem Glass, wann er dann roht wil werden, so
schneide jbn ab, vnd fülle das Glass mit Baumöl, vnd menge das
vnder einander: Dieses öl in einer Lampe gebrant ohn zuthun
andern Liechter, machet scheinen einen Weingarten mit reiffen
Trauben in der Stuben oder Kammer, da die Lampe in brennet.
Vgl. auch Abraham k Sta. Clara, Passauer Ausgabe
6,128 f. Schönbach, Vierteljahrschrift 1,470.
Lemberg. Richard Maria Werner.
3. Fauste Weintrauben.
Bei Prätorius, Saturnalia, das ist eine Compagnie Weih-
nachtsfratzen, Leipzig 1663, S. 5 ist von den Wundern der
Weihnachtsnacht die Rede; Prätorius stellt sie in Abrede:
Aber solcher Wein lasset sich nicht bey uns umb Weinachten
im Felde finden : Es möchte denn anders verstanden werden : als
in Zonä Torridä (wiewohl da nicht allenthalben der Bachus zu
Hause oder da heime ist:) Wannen hero D. Faustus seine Wein-
trauben bekommen durch seinen geschwinden spiritum fami-
liärem: Wie wohl solche auch vom Teuffei können aus dem
Keller vornehmer und herrlicher Leute gestohlen worden; als in
welchen sie Uvas, auff besondere Arten eine lange Zeit, im Winter
hinein, können frisch und gut erhalten.
4. Fausts Heilkunde.
Im Jahre 1799 erschien 'bey dem Hofbuchdrucker
Meinhold in Dresden, auch käuflich bey C P Dürr und Sohn
140 Holstein, Baggesen and (Heim.
in Leipzig9, das Stück zu 4 Pfennige eine 'Noth- und Hülfs-
Tafel zur Verhütung der Rindviehpest oder Viehseuche',
welche unter diesem Titel den Spruch aufweist: 'Der Ge-
rechte erbarmet sich seines Viehes. Sal. Spr. XII, 10'. Sie
ist 51 Centimeter lang und 42 breit und war offenbar dazu
bestimmt, in den Häusern angeschlagen zu werden. Sie
enthält eine grosse Zahl von Rathschlägen zur Verhütung
des Eindringens der Rinderpest, welche meist auf Absperrung,
grösste Reinlichkeit und sonstige Vorsichtsmassregeln hinaus-
laufen. Ein Fachmann versichert mir, dass dieselben Mittel
auch heute noch fast genau so angewendet würden. Von
Aberglauben und Zauberei findet sich nichts auf dem Bogen.
Es trägt jedoch in der rechten Ecke die gedruckte Be-
merkung '(Entworfen vom Doctor Faust zu Bückeburg.)
1799', — ein Beweis, wie man selbst am Ausgang des
18. Jahrhunderts Fauste Namen noch benutzen konnte, um
etwas durchaus Vernünftigem und Heilsamem bei der Land-
bevölkerung Eingang zu verschaffen. Ich erhielt das Blatt
von H. Referendar Felix Clausa in Dresden.
Leipzig. Alexander Tille.
Briefwechsel zwischen Baggesen und Oleini.
Im Jahre 1793 unternahm Jens Baggesen mit seiner
Frau, einer Enkelin Hallers, mit der er sich in Bern auf
seiner ersten Reise vermählt hatte, eine zweite grossere
Reise, die ihn nach der Schweiz, Österreich und Italien
führte. Auf dieser besuchte er auch den alten Gleim in
Halberstadt, der den aufstrebenden Dichter mit offenen
Armen aufnahm. Am 14. Juni waren sie zusammen ge-
wesen. Schon am nächsten Tage schrieb Baggesen von
Blankenburg aus einen schwärmerischen Brief, den Gleim
am 19. Juni beantwortete. Gleims Brief erreichte den
Adressaten in Weimar, wo Baggesen alle Freunde der Litte-
ratur aufsuchen wollte. Der Originalbrief Baggesens und
das Concept von Gleims Brief befinden sich im Gleimstift zu
Halberstadt.
Holstein, Baggesen und Gleim. 141
1. Baggesen an Gleim. Blankenburg 15. Juni 1793.
Liebster, theuerster, bester Vater im Lichte, in der Wahrheit, in
Apoll, in allem guten und schönen!
Wir denken an den Handschlag, wir fühlen ihn noch in den
bebenden Händen! Wir sprechen von nichts als von Gleim, wir
sind noch im Tempel der Musen, wir sehen noch Ihre Nichten —
wir hören noch Worte der sprechendsten Menschenliebe, Töne
der singendsten Sympathie!
Glucklich waren wir schon oft an den Füssen liebender Väter,
in den Armen liebender Brüder, glückseelig im Kreise der edleren
Geister, der schöneren Herzen — glückseeliger nie als an Gleims
Seite, Gleim gegenüber, knieend, den Huth des Einzigen auf den
Kopf zu Vater Gleims Füssen.
'Und die Erinnerung blieb — o Gott! bewahre
Uns diese immer, immer, ewiglich!1
Und die Hoffnung dereinst mit geweihten Lippen, mit noch reineren
Herzen, in einer schöneren, der hesperischen Natur, den Alpen-
fluren und Griechenlands Trümmern und noch blühenden Rosen
abgelernten Sprache für jene Seeligkeit und diese Erinnerung
denken zu können.
Der Himmel ist trübe, der Harz benebelt, aber in unsren
Seelen, in unsren Herzen ist Licht, Licht, das keine Usurpation
und keine Revolution nie erlöschen wird.
Ich überraschte meine Sophie mit dem Ringe, wovon sie
nichts, und sie mich mit der Dose, wovon ich nichts wusstel
Ich danke für diese unaussprechlich theure Geschenke nur mit
Schweigen; denn ich kann nichts mehr; aber auch das glaube
ich mit der tiefsten Empfindung der Dankbarkeit zu können.
Leben Sie wohl, theuerster, innigstgeliebter Vater ! leben Sie
lange! länger! ewig! Sie vergessen mich gewiss nicht; denn ein
Herz wie das Deinige, mein Vater! vergisst nichts herzliches.
Grüsse noch die grosse und die kleine, die zehnte und die
ei lfte Nichte, wie man Musen grüsst — Empfehle uns noch ein-
mal den braven deutschen Ritter (der um alles nicht Hofmann,
nicht eines Hofmanns Vater seyn möchte) dem Grafen von Stol-
berg-Wernigerode. Auch Er hat unsre Herzen erobert, ein kleiner
zwar aber wenigstens alle Dumouriers Siege übertreffender Sieg.
Erfreue die herrliche Gräfin Stolberg, die Mutter meines
Geistes, bald mit einem Brief und mit der Nachricht, dass der
beste Mann uns gut geworden ist!
Treu dem Lichte, dem Handschlag, den Musen und der
Menschheit
Grüssen Sie auch herzinnig- Ewig
liehst den lieben lieben Klamer fünfundsiebzigjähriger Vater!
Schmidt von mir und meiner der Deinige
Sophie. Jens Baggesen.
142 Holstein, Baggesen und Gleim.
2. Gleim an Baggesen. Halberstadt 19. Juni 1793.
Ich kann mich, mein bester Baggesen, noch nicht zufrieden geben,
dass ich nicht schon am Abend Ihrer Ankunft den 13., obs gleich
schon spät war, Sie aufsuchte; wir hätten uns den Abend noch
kennen gelernt, und wären den andern Tag schon offenherziger
gegen einander gewesen, wiewohl ich glaube, dass wirs genug
schon waren. Auch mach ich mir Vorwürfe darüber, dass ich
nur ein paar Tage noch Sie bey mir zu behalten nicht vor-
geschlagen habe, nach Jena sogleich einen Bothen zu schicken
und ihr Ankommen abbestellen zu lassen
Gestern Abend halt' ich meinen Nachbar Schmid bey mir;
ey ! wie wurde da geschwatzt von Ihnen ! wie gewünscht Sie wieder-
zusehen, wie wiederholt, was wir wüsten von Ihnen! Ach ihre
Reisebeschreibung, dass wir die nicht haben, ihre Lebensgeschichte
bis ins 23. Jahr, dass wir die, wie Sie sie erzählten, mit den
eignen Worten nicht haben ! Sie müssen, bester Baggesen, müssen
mit den eignen Worten sie aufschreiben! oder sie dictiren! Ihre
liebe Schweizerin schreibt ja gern ihre Worte! Diesen Morgen
hatt ich einen schönen Morgen, ich bekam von meinem beynah
ältesten Freunde Hirzel ein Schreiben, ein liebevolles und sonst
interessantes! Ich lass es meinen Nichten vor, und gleich waren
wir wieder bey unsern lieben Baggesens! Nun sind sie bey Wie-
land! Nein! Noch sind sie bey Reinhold! So begleiten Euch
unsre Gedanken! In diesem Augenblick seh ich Euch bey meinem
einzigen Herder und bey meiner einzigen Herderin, und wäre so
gern wie Petrarch bey Laura mitten unter Euch ! Nach Weimar
aber komme ich nicht, da wären der Freuden zu viel, sie wären
dem alten Fünfundsiebziger nicht zum Ausstehen. Über Nacht
lass ich in den Briefen über die Humanität! 0 dass es mit dem
Plane derselben keine Dichtung wäre! Dass sich viele den
Handschlag gegeben hätten, der einbrechenden Finsterniss entgegen
zu arbeiten! Herder, der Mann des Lichts, wäre ihnen zur An-
führung der rechte Mann. Tausend mahl tausend Empfehlungen
an ihn und an sie! Gottfried Herdern haben Sie, hoff ich, in
Jena gesehen!
Nach Tremsbüttel hab' ich geschrieben! Ihren Brief aus
Blankenburg haben wir auswendig gelernt! Er passte zu unsern
Empfindungen, wie Sonnen auf Sonnen passen würden. Nun aber
verlangt uns zu erfahren, wie's in dem bösen Wetter Euch er-
gangen ist; die Sonne habt Ihr nicht gesehn, so wolkigt wars!
Reinhold aber und Schiller heiterten wie Sonnen Euch auf,
vermuth ich, und Ihr seyd zu Weimar glücklich angekommen, zu
Weimar im deutschen Athen. Wäre der Herzog zu Hause und
Hess er Euch [nicht] vor sich, so wäre er der Herzog von Weimar, den
ich immer mir denke, nicht, und Bertuch wäre Bertuch nicht;
besuchen Sie doch ja den lieben Mann, den ich wegen seiner
Auerbach, Schiller und Moritz. 143
Thätigkeit und seiner Kunstkenntnisse und seines braven Herzens
sehr hoch schätze, bey Ihrem Dortseyn, und nicht zuletzt 1 Karsten
und Boden auch nicht zuletzt! Ich umarme Euch wie meine
lieben Kinder und bin von Euch von Allen Freund
Der alte Gleim.
Wilhelmshaven. Hugo Holstein.
Schiller und Moritz.
Bekanntlich war 'Anton Reiser' ein viel und gern ge-
lesenes Buch in dem Familienkreise Schillers. Vielleicht
ist die Stelle der 'Kassandra' 'Weinend um das eigne Leiden
in des Reiches Untergang9 eine Spur dieser Lektüre. Im
'Reiser', Neudruck S. 375, heisst es: 'Es traf bei ihm zu,
was Homer von den Mägden sagt, die um den erschlagenen
Patroklus weinten, sie beweinten zugleich ihr eigenes Schick-
sal'. In der offenbar von Moritz gemeinten Stelle Ilias
XVII, 30 steht indessen nicht das, was Moritz sagt.
Wenn es ferner im 'Reiser' S. 48 heisst: 'Seine immer
geschäftige Einbildungskraft belebte das Leblose um ihn
her, und machte es zu wirklichen Wesen, mit denen er
umging und sprach', so könnte man damit in Zusammen-
hang bringen die Stelle:
Da lebte mir der Baum, die Rose,
Mir sang der Quellen Silberfall,
Es fühlte selbst das Seelenlose
Von meines Lebens Wiederhall.
Freilich kommt dieselbe Schilderung der Jünglingsseele
auch schon in dem 1781 erschienenen Gedicht 'Die Freund-
schaft9 vor:
Stund im Air der Schöpfung ich alleine,
Seelen träumt ich in die Felsensteine.
Die Übereinstimmung würde nur zeigen, wie typisch dieser
Zug ist, den Kuno Fischer, Schillerschriften 1, 41 u. 46
unter Hinweis auf die letzte Gedichtstelle besonder^ charak-
teristisch für Schillers Geistesentwickelung findet.
Leipzig. Sigmund Auerbach.
1 44 Kettner, Schillers Graf von Qabsbnrg.
Zu Schillers 4Graf von Habsborg'.
Im Januarheft des Merkur von 1776 hatte Wieland in
der Epistel 'An Psyche' Goethes Ankunft in Weimar ge-
feiert und die Gewalt des Dichters über die Herzen in fol-
genden Versen geschildert:
[Wer kann] aus der Seele innersten Tiefen
Mit solch entzückendem Ungestüm
Gefühle erwecken, die ohne ihm
Uns selbst verborgen im Dunkeln schliefen?
Als Schiller Ende April 1803 den 'Grafen von Habs-
burg' dichtete, Hess er den Kaiser die Macht des Sängers
in Worten preisen, die eine unverkennbare Beziehung auf
jene Verse enthalten:
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen,
So des Sängers Lied aus dem Innern schalt
Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen.
Ein Weimarer Leser jener Zeit, vor allen Goethe und
Wieland selbst, musste fast mit Notwendigkeit die viel-
fachen deutlichen Anklänge an das ältere, gewiss noch wohl-
bekannte Gedicht heraushören. Ob Schiller sich nur durch
eine unwillkürliche Reminiscenz leiten Hess oder eine be-
wusste Anspielung in die Verse hineinlegen wollte, will ich
nicht entscheiden. Der Gedanke kehrt auch sonst bei ihm
wieder z. B. in der 'Macht des Gesanges', er führt ihn dort
ähnlich und doch ganz selbständig aus. Anderseits sind
Reminiscenzen aus Wieland bei ihm bekanntlich nichts
Seltenes. Ich füge bei dieser Gelegenheit ein paar auf-
fallende, soviel ich weiss noch nicht beachtete Beispiele
hinzu.
In das Stammbuch seiner Lotte schrieb er am 3. April 1788:
Ein blühend Kind, von Grazien und Scherzen
Um hüpft — so, Lotte, spielt um dich die Welt;
offenbar summte ihm dabei der Anfang der 'Musarion' im Ohr :
[Phanias] Der kürzlich noch von Grazien und Scherzen
Umflattert war, der Sieger aller Herzen —
natürlich reimt nachher auch Schiller auf 'Scherzen7: 'Herzen7.
E. Müller, Fragment zu Schillers Teil. 145
Die viel citirte Schilderung der aufkeimenden Liebe in
der 'Glocke':
Da fasst ein namenloses Sehnen
Des Jünglings Herz, er irrt allein,
Aus seinen Augen brechen Thränen,
zeigt, wie tief sieh dem Dichter Wielands Apostrophe in
4Sixt und Elärchen' (im Märzheft des Merkur von 1775)
eingeprägt hatte:
Des Busens wollustreiches Dehnen,
Dies dunkle namenlose Sehnen,
Wird unvermerkt zum stumpfen Schmerz.
Euch presst, Ihr wisst nicht was, das Herz,
Im trüben Auge schwimmen Thränen.
Dass Schiller gerade damals, als er den 'Grafen von
Habsburg' schrieb, die ersten Jahrgänge des Merkur durch-
blättert haben mag, mochte ich daraus schliessen, dass in
das unmittelbar darauf, im Mai 1803, abgeschlossene 'Sieges-
fest' eine Beminiscenz aus dem das Juniheft eröffnenden
Gedicht 'Lotte bei Werthers Grabe' sich eindrängte. Der
Anfang desselben:
Ausgelitten hast du — ausgerungen
Armer Jüngling, deinen Todesstreit,
hat unzweifelhaft Schiller 4m Ohre gelegen', als er die
Verse schrieb:
Ausgestritten, ausgerungen
Ist der lange, schwere Streit.
Das Beispiel ist besonders charakteristisch, weil es zeigt,
wie der blosse Klang, ganz unabhängig vom Sinn, also rein
mechanisch beim Dichten noch fortwirkte.
Schulpforta. Gustav Kettnej*.
Fragment zu Schillers Teil.
Im Februar 1 838 schenkte Schillers Sohn Karl, damals
Oberförster in Rottweil, dem Präceptor Knoll in Balingen,
den er in Gesellschaft als Yerehrer des Dichters kennen
gelernt hatte, eine 'Handschrifft Schillers', wie die eigen-
händige Aufschrift des Oberförsters bezeugt. Diese Auf-
ViertelJAhischrift für Littemtuige«chiohte V 10
146 K. Müller, Fragment zu Schillers Teil.
Bchrift steht auf einem andern Papier, auf dem das Frag-
ment aufgeklebt ist. Das Ganze befindet sich, unter Glas
und Rahmen wohl aufbewahrt, gegenwärtig im Besitz der
Tochter des Präceptors Knoll, der Frau Stadtpfarrer Roller
in Tübingen.
Der Inhalt des Fragments, das weder bei Goedeke noch
bei Boxberger veröffentlicht ist, ist folgender:
Milchweisses Firnwasser ist das kräftigste.
Grat, zacken, spitze.
Wirth und Gast zugleich
Bergfirsten d. i. höchste Bergkoppen.
Es wird frühe Morgen auf den Bergfirsten.
Berge sind Erdwogen.
Hinter dem Beiswind (Nordwind)
Komlichkeit.
Über die Bedeutung und Beziehung dieses Bruchstücks
wird man sich klar, wenn man liest, was Goedeke (hist-
krit. Ausg. von Schillers Werken 14, VII) über den Teil
schreibt. Dort heisst es, Schiller habe sich beim Teil, wie
bei allen seinen dramatischen Arbeiten, um Localfarbe zu
gewinnen, aus den benützten Quellen J. v. Müller, TschudL,
Scheuchzer, Fäsi u. a. kurze Notizen gemacht. Darnach
enthält also daß Fragment Notizen zum Teil und in der
That lässt sich ihre Entlehnung und ihre Benutzung im
Drama fast Zeile für Zeile nachweisen. Die erste Zeile
weist auf Scheuchzer, Naturgeschichte 2. Auflage von Sulcer;
dort heisst es 2,165 also: 'Unsere Alpenbewohner trinken
herzhaft allen fremden Gästen milchweisse Gletscher-
wasser zu, versichern auch aus langer Erfahrung, dass
dies die gesündesten Wasser von allen9 u. s. w. (bei
Joachim Meyer, Schillers Teil, Nürnberg 1839/40 S. 31).
Die Ausdrücke 'Grat, zacken, spitze' erinnern an die Ex-
cerpte aus Fäsi (bei Goedeke a. a. O. S. X ff.). Die übrigen
Notizen lassen sich zunächst zwar nicht nach ihrem Ur-
sprung, aber zumeist wenigstens im Schauspiel Teil selbst
nachweisen, wie auch die erste Zeile. In II, 2 Y. 1004 f.
sagt Melchthal:
Den Durst mir stillend mit der Gletscher Milch,
Die in den Runsen schäumend niederquillt.
E. Müller, Fragment zu Schillers Teil. 147
Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf die bei-
den nächsten Verse 1006 f.:
In den einsamen Sennhütten kehrt1 ich ein,
Mein eigner Wirth und Gast . . .
In demselben Act und derselben Scene V. 1439 ff. ist
der Text zu den nächsten Zeilen:
Doch seht, indess wir nächtlich hier noch tagen,
Stellt auf den höchsten Bergen schon der Morgen
Die glühende Hochwacht l) aus . . .
Das folgende 'Berge sind Erdwogen' hat, wie es scheint,
keine Verwendung gefunden, obwohl es dichterisch am be-
deutendsten ist. Dagegen der Schluss wieder in IV, 1
V. 2127 f.; dort sagt der Knabe zum Fischer:
Es hagelt schwer. Kommt in die Hütte, Vater,
Es ist nicht kommlich*) hier im Freien hausen.
So haben also diese zum Theil ziemlich unbedeutenden
Notizen unter des Dichters Hand Geist und Leben gewonnen.
Das Bruchstück, gut 6 Centimeter hoch und etwa 21 breit,
mus8 aus einem grosseren Notizenbogen herausgeschnitten
sein. Das zeigt der obere und der untere Rand desselben.
Oben nämlich befinden sich über den beiden ersten Wörtern
die unteren Theile von drei langen s oder f (q) und das
'F' in 'Firnwasser' ist oben abgeschnitten. Unten ist der
unterste Theil des 'h' in 'Komlichkeit' weggeschnitten und
dagegen der oberste Theil eines andern 'h' und zwei Punkte
als Reste zweier Buchstaben unter dem 'ml' in 'Komlich-
keit' zurückgeblieben. Vielleicht fuhren diese Angaben zur
Entdeckung der andern Stücke, die, wie mir scheint, auch
nicht veröffentlicht sind. Denn der Inhalt dieses Bruch-
stücks passt zu keinem der bei Goedeke veröffentlichten
recht.
Das Bruchstück, in deutscher Schrift deutlich geschrieben,
zeigt keine Spur von Flüchtigkeit.
Tübingen. Ernst Müller.
') Die Stelle ist also doch wohl wörtlich zu nehmen and nicht
bildlich zu fassen, wie Düntzer in seinen Erläuterungen zu Teil S. 203
Anm. thut.
*) komlich =: bequem, angenehm: J. Meyer S. 40.
10»
148 Steig, Arnim über Herders Cid. — Schöne, Goethe-Text
Achim von Arnim über Herders Cid.
Achim von Arnim schrieb in einem ungedruckten Briefe
vom 12. März 1806 an Clemens Brentano:
Hast Du den Cid gelesen von Herder? Er steht in der
ersten Lieferung seiner Werke und wird Dir viel Freude machen,
hin und wieder hat ihm Herder wohl Mantel und Kragen um-
gehangen, oft ist die Dikzion gar zu nachlässig und unbequem im
Lesen, die liebste Romanze ist mir wie er sich zur Hochzeit aus-
putzt, und dann wie er die Kisten mit Sand zum Juden schickt,
ferner wie er todt gegen den Feind reitet, die Spanier haben ein
eigen Talent, jedes Ding mit seinem eigentümlichen Gerüche zu
bewahren und einzumachen, und darin bin ich ganz mit ihnen
einverstanden, dass ich lieber Schweis als Seife riechen mag.
Berlin. Beinhold Steig.
Zur Kritik des Goethe-Textes.1)
W.Meisters Wanderjahre, B. t,Eap. 4 (Hempel 18,57).
Nach ihrem unverhofften Zusammentreffen steigen Wil-
helm Meister und Jarno -Montan mit den beiden Knaben
vom Felsen hinab ins Thal und rasten bei einem Kohlen-
meiler. Zwischen den beiden Freunden entspinnt sich ein
Gespräch, das auch die Erziehungsfrage berührt, für welche
der realistische Jarno den Kohlenmeiler zum Vergleiche
benutzt. Da Wilhelm ihn nicht sogleich versteht, sucht
er ihn mit katechetischer Methode durch Fragen auf die
Deutung seines Vergleichs hinzufuhren. Aber bei der vierten
Frage verliert Wilhelm die Geduld und sagt: 4Wie mir
scheint, willst Du auf Sokratische Weise mir die Ehre an-
thun, mir begreiflich zu machen, mich bekennen zu lassen,
dass ich äusserst absurd und dickstirnig sei9.
Liest man den Satz aufmerksam, so wird man erkennen,
dass in den Worten: 'mir begreiflich zu machen' und
'mich bekennen zu lassen' zwei Versionen vorliegen,
von denen nur die eine beibehalten werden und an die
Stelle der anderen treten sollte. Auch lässt sich mit Wahr-
*) vgl. Wochenschrift f. klass. Philologie 1891 Nr. 18 S. 1311.
Hauffen, A. v. Kotzebue. 149
scheinlichkeit vermuthen, welche von beiden Goethe be-
vorzugen wollte. Das Einfachste an sich war ja: 'mir be-
greiflich zu machen'. Aber da unmittelbar voranging: 'mir
die Ehre anthun', so wählte sein feines Ohr an Stelle der
Phrase, welche das mir unliebsam wiederholt hätte, eine
Wendung mit dem Accusativ. Ich denke also, dass Goethes
Text letzter Hand: 'willst du auf Sokratische Weise mir
die Ehre anthun, mich bekennen zu lassen, dass' u. s. w.
gelautet haben wird.
Königsberg i. Pr. Alfred Schöne.
A. y. Kotzebne.
1. Die 'Selbstbiographie'.
Goedeke sagt im Grundriss 1\ 1064, 255 b: 'Selbst-
biographie von A. v. Kotzebue Wien 1811. 8° (unter-
geschoben).' Hierzu bemerkt Max Koch in seinem Ar-
tikel Kotzebue der Ersch und Gruberschen Encyklopädie,
2. Section, 39,186: 'Wilhelm von Kotzebue nimmt ohne
Weiteres ihre Echtheit (nämlich die der 'Selbstbiographie')
als erwiesen an und so darf sie wohl bestimmt als Kotzebues
eigene Arbeit von nun an bezeichnet werden'. Dies ist
nicht richtig. Ein Blick in die nun schon ziemlich selten
gewordene 'Selbstbiographie' belehrt uns sofort, dass diese
Schrift nur eine kunstlose Zusammenstellung der sechs von
Kotzebue verfassten autobiographischen Werke ist und zwar
abgesehen von starken Streichungen: ein wörtlicher Ab-
druck. Der Verfasser der 'Selbstbiographie' beginnt mit
den Worten: 'Hervor ihr Zauberbilder meiner Kindheit!'
u. s. w., also mit einem der ersten Abschnitte von Kotzebues
Schrift : 'Mein litterarischer Lebenslauf 1 796 (zugleich einer
Schilderung seiner Jugendzeit), und druckt diese wörtlich
ab, schiebt aber S. 48 f. u. S. 54 — 114, an der Stelle wo
der Tod der ersten Gattin Kotzebues und dessen erste Reise
nach Paris erwähnt wird, Kotzebues ältere Schrift: 'Meine
Flucht nach Paris im Winter 1790', Leipzig 1791 sammt
Vorrede und Nachwort ein, ein Werk, das eben die er-
wähnten Ereignisse breit behandelt. Auf den Schluss des
150 Hauffen, A. v. Kotzebue.
litterarischen Lebenslaufes folgt S. 122—132 der Abdruck
der Verteidigungsschrift : 'Über meinen Aufenthalt in Wien
und meine erbetne Dienstentlassung', Leipzig 1799, natürlich
ohne die Beilagen, dann 8. 132—274 der Abdruck des Buches
'Das merkwürdigste Jahr meines Lebens' 1 . u. 2. Theil Berlin
1801 f. Daran schliessen sich einige ganz zufallig aus-
gewählte Kapitel der 'Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804*,
2 Abtheilungen Berlin 1804, und der 'Erinnerungen von
einer Reise aus Liefland nach Rom und Neapel' Berlin 1805.
Mit dem Abschluss dieser Reise ist auch die 'Selbstbiographie'
zu Ende.
Dass Kotzebue diese Zusammenstellung nicht selbst
besorgt hat, ergiebt sich schon daraus, dass die Texte der
genannten autobiographischen Schriften einfach neben ein-
ander abgedruckt sind, ohne äusserlichen Abschnitt, aber
auch ohne innerliche Verzahnung, ohne einen Versuch die
dazwischen liegenden Ereignisse flüchtig zu schildern. Auch
lässt der neue Redactor alle Reflexionen und die persön-
lichen Erwägungen, die großsprecherischen Verteidigungen
weg, die dem eitlen Dichter gerade die Hauptsache waren.
Endlich entbehrt diese 'Selbstbiographie' einer Vorrede, die
sonst bei Kotzebue niemals fehlt.
Meine Vermuthung, dass der Verleger selbst, Franz
Gräffer, der Besitzer der auf dem Titelblatt genannten
Verlagsfirma: 'Chatarina Gräffer und Compagnie' diese Ar-
beit unternommen habe, findet ihre Bestätigung in den
'Wiener Dosenstücken von Franz Gräffer' (2. Ausgabe,
2. Theil Wien 1852, S. 175) in einer Stelle, auf die mich
August Sauer freundlichst aufmerksam gemacht hat. Gräffer
erzählt hier selbst: 'und so verfiel ich auf eine andere bio-
graphische Speculation. — Das Individuum des Buches ist
Kotzebue. Der Titel 'August von Kotzebues Selbstbiographie- .
In dieses Autors zerstreuten Schriften, finden sich fast über
alle seine Lebensmomente Nachrichten; diese aneinander
gereiht geben seine Biographie und zwar buchstäblich ge-
nommen, seine Selbstbiographie. Von dieser Idee ging ich
aus. Das Buch trat 1811 ans Licht und machte Glück.
Herr von Kotzebue, das kann man denken, war höchlich
überrascht, aber nichts weniger, als böse. Ich erhielt ein
G. Wilhelm, A. v. Kotzebne. 151
recht artiges Schreiben von ihm, in welchem er mir nur
vorwarf, dass ich ihn nicht vorerst in Kenntnis gesetzt. Im
Morgenblatt aber änderte er die Sprache, worauf jedoch
alsbaldige Verständigung folgte9.
Wilhelm von Eotzebue nennt an der von Koch a. a. O.
herangezogenen Stelle ein Ereigniss aus dem 'litterarischen
Lebenslauf', also aus einer echten Schrift seines Vaters.
Schliesslich sei erwähnt, dass ähnliche Versuche, wie der
vorliegende: aus Eotzebues eigenen Schriften eine neue
Biographie zusammenzustöppeln, in jener Zeit nicht selten
waren, vgl z. B. Goedeke, a. a. 0. 255 m.
Prag. Adolf Hauffen.
2. Ein Streit mit Ärzten.
Als bei der Neige des Jahres 1799 auch in Weimar
die Frage um den Beginn des Jahrhunderts erörtert wurde,
gab Eotzebue seine Meinung in einer Posse 'Das neue
Jahrhundert' (erschienen 1801) ab. Er benützte diesen
Einacter nebenher zur Verspottung der John Brownechen
Lehre vom Einflüsse der äusseren und inneren Reize auf
die Organe des menschlichen Körpers. Der Schotte hatte
in Deutschland viele Anhänger, die sich aber selbst unter
einander befehdeten. Durch das Auftreten zweier Gegner
sucht Eotzebue die Brownianer lächerlich zu machen.
Diese gaben die Antwort auf den Angriff des unberufenen
Laien in ihrem Hauptorgan, Röschlaubs Magazin zur Ver-
vollkommnung der theoretischen und praktischen Heilkunde,
Frankfort a/M. Ein 'X' übernimmt die Verteidigung in
Briefen an Röschlaub 4,182 ff.1), indem er die 'Geschichte
eines Hypochondristen E.' erzählt, der nach neunjähriger
falscher Behandlung durch einen Brownianer geheilt worden
sei. Zum Schlüsse giebt X. auf, den Hypochondristen zu
errathen: wer könne es anders sein, als der Poet Eotzebue,
der die bewusste Eomödie geschrieben habe?
Eotzebue wehrte sich im Hamburger Correspondenten
gegen diese Blosstellung und, nachdem er die Briefe des
Dr. X gelesen hatte, umständlich in Hufelands Journal der
*) 1800 erschienen. Darnach giebt es wohl einen älteren Druck
der am 1. Januar 1800 in Wien aufgeführten Posse, oder der bekannte
ist yordatirt.
1 52 G. Wilhelm, A. ▼. Kotzebue.
praktischen Heilkunde 12, 1 49— 169, obwohl er nicht recht
sicher war, ob er sie für Spass oder Ernst nehmen solle.
35 wohlgezählte Lügen in der Krankengeschichte des Hy-
pochondristen unternimmt er nachzuweisen. Es sei eine
Lüge, dass er sich je durch Studiren angegriffen habe, dass
er sich je bei irgend guter Witterung zu Hause gehalten,
dass er Cichorienkaffee getrunken habe u. s. w. Wir er-
fahren aber, dass er ein Tagebuch über sein Befinden ge-
führt, die Recepte seiner Ärzte aufbewahrt habe, also doch
etwas vom Hypochondristen an sich hatte. Ja er entwirft
S. 161 ff. seine Krankengeschichte und führt ihren Anfang
auf den taglichen Genuss einer grossen Quantität dick-
gekochter grüner Erbsen zurück u. s. f.
Diese Geständnisse des 'Russisch-Kayserlichen Kol-
legien-Käthes9 vom Mai 1801 forderten neuen Spott bei
Röschlaubs Freunden heraus. Im Magazin 5, 451 ward, wohl
dem Hamburgischen Correspondenten, erwidert: auf Kotzebue,
'das grosse Licht des allbeliebten Theaterwesens', dieses
'ganz geistige und geistreiche Wesen9 wirkten auflösende
Einflüsse, darum sei sein Genie unsichtbar geworden. Den
Artikel in Hufelands Journal beantwortet Röschlaub selbst
6,435 ff. Er redet Kotzebue als den 'allbeliebten Lieb-
lingsdichter der Gemeinheit1 an und erklärt, dieser habe
einen überschwenglichen Beweis der Albernheit und des
Stumpfsinnes gegeben, indem er die Geschichte des Hypo-
chondristen auf sich bezogen habe, da X. ihn doch nur
nebenher zum Schlüsse für seinen elenden Wisch 'Das neue
Jahrhundert9 habe strafen wollen. Auch Dr. X. bekundet
S. 443, er habe Kotzebue nicht als körperliches Individuum
treffen wollen, sondern nur als Verfasser der Komödie, er
wisse überhaupt nichts von ihm, als was der verhallende
Ruhm seiner Muse mit sich bringe. Und auch er höhnt
gröblich über den Unverstand Kotzebues, der eine erfundene
Satire ernst genommen habe.
Dieser lächerliche Kampf ist ein Zeugniss, in wie weiten
Kreisen Kotzebue verachtet war. Seine Yertheidigung hätte
einen köstlichen Beitrag zur Gräfferschen Selbstbiographie
des Dichters gegeben.
Graz. Gustav Wilhelm«
y. Weilen, Eine dramatische Skizze Grillparzers. 153
Eine dramatische Skizze Grillparzers.
Die nachfolgende kleine Satire, die in einer neuen Grill-
parzer- Ausgabe im Band 1 1 einzureihen wäre, stammt aus dem
Besitze meines Vaters. Sie ist ganz von Grillparzers Hand,
sehr nachlässig geschrieben und trägt die Jahreszahl 1822,
die Zeit, wo der Freischütz seine ersten Aufführungen er-
lebt hatte und Weber selbst in Wien verweilte. Wie freund-
schaftlich er Grillparzer entgegen kam, zeigt der vom 19. März
1822 datirte Brief, den ich hier nach dem in meinem Be-
sitze befindlichen Originale folgen lasse.
Mein Besuch bei Ihnen hochverehrter und mir wahrhaft theurer
Herr und Freund sollte ein recht ordentlicher sein, und keine von
den gewöhnlichen Visiten, durch die man schon glaubt einen Achtungs-
beweiss abgelegt zu haben, wenn man nur allenfalls seine Karte
angebracht hat. Meine Krankheit hat mich um diese Freude ge-
bracht; und ich werde so sehr nach meinem Konzert nach Hause
eilen, dass ich mich nur mit meinem Wiederkommen trösten
kann. Verschmähen Sie den Gebrauch beikommender Karte nicht,
und erlauben Sie mir Ihnen wenigstens noch auszusprechen, dass
wenn es möglich war meine innige Achtung und herzliche Zu-
neigung zu Ihnen noch zu steigern, es gewiss durch das anziehende
Ihrer persönlichen Bekanntschaft noch bei mir geschehen ist. Ich
musste Sie als einen alten Freund begrüssen, ich konnte nicht
anders, und meinem Gefühl nach lag eben darin der beste Be-
weiss, den ich geben kann, wie nahe und lieb Sie meinem Wesen
sind, und wie unveränderlich ich stets mit wahrhafter Verehrung
sein werde «
M. v. Weber.
Wie Grillparzer über die Tonmalerei des Freischütz
dachte, hat er 1826 in den Ästhetischen Studien (12,214
vgl. 11,182) ausgesprochen. Der kleine Scherz, der wahr-
scheinlich wie die Briefe über den Ottokar für die Ludlams-
höhle bestimmt war, scheint Grillparzer noch 1830 vorzu-
schweben, wenn er unter 'Büchertitel7 notirt: 'Der Scharf-
schütz, eine poetische Kleinigkeit9 (11,194).
1822. Der wilde Jäger.
romantische Oper.
Waldschlucht. Finsterniss, dass man seine Hand nicht
sehen kann. Unaufhörlich Donnern. Misstöne aller Art.
154 Behaghel, Hebel und Wieland.
Vier Teufel mit feurigen Augen hängen als Laternen
in den Kulissen.
[Monomispontopos] l) Sirono, der wilde Jfiger tritt unter Donner
und Blitz auf; er bleckt die Zähne und brummt grässlich.
Mon. Uh — üh — üh — Uh — üh.
(Donner)
Sirono (fährt fort) Mord, Tod, Gift, Dolch, Hölle, Teufel
(verstärkter Donner)
Mon. Abracadebra. Hocuspocus. Gott sey bey uns Erscheine.
(vierzig Violons streichen in Unisono unaufhörlich)
Erscheine !
(Zwanzig Pauken sekundiren)
Erscheine
Entsetzlicher Donnerstreich
Er kommt nicht?
(er erblickt den getreuen Ekart der auf der Erde liegt)
Ha. Du bist Schuld, dass mein Herr und Meister nicht er-
scheint!
(er schlägt ihn mit einem Prügel sehr stark auf den
Kopf. Ekart schreit entsetzlich.
Doch ich rieche seine Annährung.
(ein unerträglicher Gestank verbreitet sich im Theater)
Höre mich Schrecklicher
(zehn wilde Stiere laufen übers Theater)
Entsetzlich! Uh!
Fünfzig Grenadiere treten auf, laden ihre Gewehre
mit Kugeln, zielen damit auf das Publikum und setzen
dadurch diejenigen, die sich noch nicht fürchten, iu
wirkliche Furcht. NB. vorher werden alle Ausgänge versperrt.
Hiemit lästere ich Gott, verfluche mich selbst, ermorde mich,
verdamme mich, alle, alles.
Die letzte Gallerie fällt unter schrecklichem Gekrach
ein, die Gequetschten schreien entsetzlich.
Es ist vollbracht.
Hinter der Kulisse bricht Feuer aus. Donnerschlag.
Der Vorhang fällt.
Wien. Alexander von Weilen.
Hebel und Wieland.
In Hebels bekannter Erzählung 4der geheilte Patient'
(8. 1 74 meiner Ausgabe) wird von einem reichen Mann be-
f) ausgestrichen.
Behaghel, Hebel and Wieland. 155
richtet, der wegen seines Wohllebens und Faulenzens allerlei
Lasten und Krankheiten auszustehen hat. Den Vormittag
sitzt er im Lehnstuhl und raucht Tabak; er isst wie ein
Drescher zu Mittag; den ganzen Nachmittag isst er und
trinkt er, nach dem Nachtessen legt er sich todmüde zu
Bett. So wird er zuletzt dick und unbeholfen wie ein
Maltersack und hat jeden Tag eine andere Krankheit. Alle
möglichen Medicinen werden vergebens an ihm versucht.
Da hört er von einem fremden Arzt, der äusserst geschickt
sein soll, und klagt ihm sein Leid. Der erkennt sofort,
was ihm fehlt; er heisst ihn zu sich kommen, aber auf
Schusters Bappen, damit der Lindwurm, den er im Bauch habe,
ihm nicht die Gedärme abbeisse. Den ersten Tag geht es
so langsam wie bei einer Schnecke ; aber schon am zweiten
und dritten Morgen kommt es ihm vor, als ob die Vögel schon
lange nimmer so lieblich gesungen hätten; am Ziele seiner
Wanderung angelangt, fühlt er sich völlig gesund. Er er-
reicht ein hohes Alter und zeigt sich zeitlebens als dank-
barer Patient.
Die Quelle der ergötzlichen Erzählung scheint mir keine
andere zu sein als Wielands Schach Lolo (Sämmtl. Werke
Bd. 10). Schach Lolo fuhrt das echte Quasi-Leben der Götter
Epikurs. Des Vormittags sitzt er auf seinem Thron und
vertreibt sich die Zeit mit Betelkauen. Drei üppige Mahl-
zeiten füllen die Zeit vom Mittag bis zur Nacht ; um Mitter-
nacht wird er schwer berauscht zu Bett gebracht. Bei
solcher Lebensart befällt ihn schliesslich die Plage des Aus-
satzes. Zwei Jahre erschöpfen die Ärzte vergebens ihr
Gehirn und alle ihre Büchsen, um ihm Linderung zu ver-
schaffen. Da kommt ein Fremdling aus fernem Land, der,
nachdem er kaum von dem Leiden gehört, sich zu seiner
Heilung bereit erklärt. Ein Talisman soll das Wunder voll-
bringen; er steckt in dem Ballschlägel, den Duban, der
Fremdling, überreicht. Lolo muss mit dem Schlägel den
schweren Ball schlagen, dass ihm der Schweiss aus allen
Poren bricht. Am zweiten Tag dünkt ihm der Schlägel
schon minder schwer und lustiger das Spiel als Tags vor-
her. Nach sieben Tagen ist er blühend uncL frisch, der Aus-
satz verschwunden. Duban wird der Favorit des dankbaren
156 E.M.Meyer, Heines Achtes Traumbild.
Schach. Was weiter folgt, die Verleumdung Dubans durch
den Grosswessier, die Hinrichtung des vermeintlichen Hoch-
verrathers und seine Rache, hat bei Hebel keine Verwen-
dung mehr gefunden.
Hebel hat das Romantisch-Orientalische ins Bürgerlich-
Abendländische übertragen und zwar in wahrhaft ausge-
zeichneter Weise. So ist der 'geheilte Patient' ein genaues
Seitenstück zu seinem 'Statthalter von Schopfheim' (meine
Ausgabe der Gedichte S. 57), in dem er die Geschichte
von David und Abigail ins Heimisch -Alemannische über-
setzt hat.
Giessen. Otto BehagheL
Heines Achtes Traumbild.
Heine, der den grössten seiner lyrischen Erfolge dem
Loreley-Motiv Achims von Arnim verdankt, hat auch in
einem andern oft citirten und recitirten Gedichte sich eine
Erfindung des märkischen Romantikers angeeignet. In jener
seltsamen Parade der Gestalten, welche starben als sie
liebten (8. Traumbild, Elsters Ausgabe 1,23), tritt auch ein
König der Bretter auf, der als Mortimer sich ersticht, nach-
dem er verzweifelnd gerufen : 'Maria, du Heilige !' Bei Leb-
zeiten war dieser Komödiant der Held von Arnims fast
vergessenem Jugendroman Hollins Liebeleben. Dieser hoff-
nungsvolle Jüngling, wie Novalis beim Bergwesen thatig,
glaubt in Folge seltsamer Missverständnisse sich von der
Untreue seiner Geliebten überzeugt zu haben. Mit ihr
soll er in einer Liebhabervorstellung der Maria Stuart auf-
treten. Wie der vermummte Darsteller des Geistes in der
Hamlet- Aufführung des Wilhelm Meister erscheint er zu-
nächst verkleidet auf der Bühne, nachdem man ihn angst-
voll erwartet hat (vgl. Minor vor seiner Ausgabe des
Hollin S. XXH); er spielt dann die ihm aufgegebene Rolle
des Mortimer und Spiel und Wirklichkeit vermischen sich
grausig, wie so gern bei den Romantikern. Nach den Schluss-
worten seiner Rolle: 'Maria, heiige, bitt' für mich! Und
R. M. Meyer, Heines Achtes Traumbild. 157
nimm mich zu dir in dein himmlisch Leben!9 erdolcht er
sich und stirbt auf der Bühne.
Es ist wohl kein Zweifel, dass dem Gedicht Heines von
1816 diese Erzählung Arnims von 1802 vorschwebt. Immer-
hin hat er den Stoff in bezeichnenderweise umgewandelt:
der Dilettant ward Berufsschauspieler, die treue Liebe Hollins
und der Maria wird zu einem neuen Fall unglücklicher
Liebe, und die Schlussworte werfen ein ironisches Licht auf
den Unglücklich-Ungeschickten. —
Heines Gedicht, mit welchem er am 7. Mai 1821 seine
'Poetischen Ausstellungen9 wirkungsvoll eröffnete (Strodt-
mann, Heines Leben 1, 193), schließet, wie bekannt, mit
einer deutlichen Reminiscenz. Goethes 1815 zuerst "ge-
druckter 'Todtentanz' endet mit den Yersen:
Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
Und unten zerschellt das Gerippe,
Heines Todtentanz mit den Yersen:
Da scholl vom Kirchthurm 'Eins9 herab
Da stürzten die Geister sich heulend ins Grab.
Es wäre unter solchen Umstanden sehr wohl möglich,
dass unter Heines Gespenstern sich noch andere litterarische
'revenants' fanden. Besonders machen der Schneidergeselle
und der Student mir den Eindruck, als könnten auch sie
bestimmten von Heine halbparodisch citirten Dichtungen an-
gehört haben. Seinerseits hat das Lied vom unglücklich
liebenden Schneider wohl die Liebesepisode in Gaudys
reizendem Tagebuch eines wandernden Schneidergesellen
mit veranlasst. Das ganze Gedicht gewänne ein anderes
Gesicht, wäre es eine Parade von Helden unglücklicher Liebe
in den Modedichtungen jener Zeit — etwa wie Grabbe in
'Scherz Satire und Ironie' die Idealfiguren Schillers, Hou-
walds und anderer im Jenseits versammelt, etwas deutlicher
zwar, so dass Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mysti-
fizinsky den Schulmeister Wallenstein, der es lieber doch
nicht thun will, ihm entlehnen konnte (Grabbes Werke
hg. v. Gottschall, Leipzig 1875, 2,237 — Faust Der Tra-
gödie Dritter Theil, Tübingen 1886 S. 25).
Berlin. Bichard M. Meyer.
158 Poppenberg, Wildfeaera Ursprung.
'Wildfeuers' Ursprung.
Die vierte Geschichte in Wielands Hexameron yon
Rosenhain, 'Die Novelle ohne Titel1, erzählt, dass die Mos-
kovos von Altariva, eine verarmte galizische Adelsfamilie,
plötzlich durch das Testament eines reichen Verwandten
Don Jago, Aussicht auf ein grosses Vermögen erhalten
haben, jedoch unter der Bedingung, dass, wenn der Gross-
neffe Manuel ohne Leibeserben stürbe, die Stammgüter
einem unbemittelten Seitenverwandten, Don Antonio Mos-
kovo zufallen sollten. Bald nach dem Tode des Oheims
werden Manuel und seine Zwillingsschwester Galora von
den Pocken befallen ; der Knabe stirbt, das Mädchen bleibt
am Leben. Um nun das Besitzthum ihrer Familie zu er-
halten, fasst die Mutter den verzweifelten Entschluss, zu
verkünden, Manuel lebe und Galora sei gestorben. Das
Mädchen wird nun als Knabe erzogen. Die Natur hat ihr
dazu alle Anlage gegeben ; sie war stark von Knochen und
Muskeln, in allen Leibesübungen gewandt; die Augen be-
sassen etwas Wildes, Trotziges. Zur besseren Unterweisung
in Lebensart und Weltkenntniss sollte nun für den 'jungen
Grafen9 ein Mentor angenommen werden. Für diesen Posten
meldet sich jener 'unbemittelte Seitenverwandte', der rechte
Erbe, Don Antonio Moskovo, der von dem Betrug nichts
weiss und nur durch seine Noth zu der Bewerbung ver-
anlasst wird. Er nimmt, um sich nicht als Verwandter ein-
zuführen, den Namen Don Alonzo Noya an. Nicht lange
ist er im Haus, da verliebt sich sein 'Herr' in ihn; diese
Leidenschaft wächst so, dass schliesslich Galora sich Alonzo
entdeckt. Dieser enthüllt sich ihr wiederum als Antonio,
den Erben. Galora ist gebrochen und zieht sich ins Kloster
zurück. Antonio heiratet, was für uns hier nicht weiter
in Betracht kommt, seine alte Liebe, Rosa, und übernimmt
seine Güter.
Denselben Stoff behandelt Friedrich Halms 'Wildfeuer'.
Die gräfliche Familie Dommartin befindet sich in der-
selben Lage wie die Moskovos nach dem Tode Manuels.
Der Familiensitz erbt nur in männlicher Linie fort Die
Poppenberg, Wildfeuers Ursprung. 159
Gräfin Adele hat aber keinen Sohn, sondern nur eine
Tochter. Damit nun nicht der nächste männliche Anver-
wandte Gerard v. Lomentä, der übrigens halb verschollen
ist, Ansprüche erheben kann, erzieht die Gräfin das Mädchen
von früh auf als Knaben Ren6. Und wie bei Galora, so
wird auch hier der Betrug durch die Natur unterstützt. Alle
Eigenschaften eines frischen Jungen hat Ren6, ja so toll
treibt es der Pseudojüngling, dass er den Namen Wildfeuer
erhält. Um die Überkraft Ren6s in strengere Zucht zu
bringen, erhält er einen Waffenmeister Marcel de Prie. Dieser
ist natürlich der wahre Erbe, Gerard von Lomentä, Wie-
lands Antonio, der seinen Ursprung nicht kennt und von
treuen Freunden seines Vaters in sein Recht wieder ein-
gesetzt werden soll. Sie haben ihn aus der Fremde, nach
dem Tode seines Vaters, hierhergeholt und entdecken ihm
zur geeigneten Zeit das Geheimnies seiner Abstammung und
den Verdacht gegen das Geschlecht Wildfeuers.
Halm geht jetzt seinen eigenen Weg.
Wieland hob ganz richtig hervor, dass Galora durch
die jahrelang gespielte Rolle als Mann weibliche Anmuth
und weiblichen Reiz verloren habe und nicht mehr im Stande
gewesen sei, Liebe zu erwecken. Die Resignation der Un-
glücklichen ist ein sehr angemessener Abschluss.
Dies war nichts für Halm, er brauchte für sein Pub-
likum etwas Pikanteres, Gewürzteres, und wenn zwei sich
heiraten konnten, so war es auch kein Fehler. Auf ein
paar UnWahrscheinlichkeiten kam es ihm weiter nicht an.
Unwahrscheinlich ist es doch, dass Ren6 so lange sein
wahres Gesohlecht verborgen bleiben konnte. Unwahr-
scheinlich im höchsten Grade auch, dass Wildfeuer, der
Wolfstödter, der auf Bäume klettert und von Bailustraden
herunterspringt, dessen unbewusst aufblühende ' Weiblichkeit'
uns doch mit Bertrand de Brienne wenig anmuthig erscheint,
so schnell wie die Kleider auch die Charaktereigenschaften
der Geschlechter wechselt, als im letzten Act ihm das Ge-
heimni88 des eignen Geschlechts entdeckt wird. Aber des
erwünschten Schlusses wegen wird Ren6 mit einem Mal
ein ganz sanftes Lämmchen, alles Wilde, Feurige ist wie
weggeblasen.
160 Landau, Das Master der Ehen.
An das herbe Mannweib Wielands konnten wir glauben,
die bezähmte Widerspenstige Halms flösst uns Misstrauen
ein. —
Recht gut wusste Halm übrigens, was er that, als er
Ren6 sein Geschlecht nicht kennen Hess. Er gewann da-
durch für seine Zuschauer die prickelndsten Scenen. 80,
als Gerard, um seinen Zögling zu prüfen, ihn zum Baden
auffordert. Ferner als Gerard in berechneter Absicht, mit
seinem Zögling schäkert, ihn umarmt und einen langen Knss
auf die bebenden Lippen des weiblichen Junkers drückt
Man bedenke, wie Ren6 in seiner Männerkleidung — er
darf doch gewiss nichts Theaterpagenmässiges trotz seines
eigentlichen Geschlechts haben — 'zitternd' einem Manne
4m Arme liegt9. Man bedenke, wie Wildfeuer, der sich
immer noch für einen Jüngling hält, um Marcel zu retten,
Frauenkleidung anlegt und sich dann der 'garstigen Röcke'
schämt. Dadurch erhält die Figur des Ren6 etwas unaus-
stehlich Süssliches, Gurlihaftes noch zuletzt.
Aber das muss wohl dem Publikum sehr gefallen haben,
denn Wildfeuer hat seinen Triumphzug über viele Bühnen
gehalten. Und so ist auch dieses Stück ein Beweis dafür,
wie geschickt der österreichische Dramenschreiber auf den
platten Geschmack seiner Zuschauer zu speculiren verstand,
und dafür, wie er einen an sich ernsten, jeder Frivolität
baren Stoff sich für seine Zwecke zurecht zu machen wusste.
Berlin. Felix Poppenberg.
Nachtrag.
4Das Muster der Ehen/
Vierteljahrschrift 1,492 ff. 2, 275 ff.
Dr. Marcus Landau in Wien verweist für das Thema
von LessingB 'Muster der Ehen9 auf Terenz Andria III, 1 :
'Utinam aut hie surdus aut haec muta facta sit9, auf das
südslavische Sprichwort: 'Das Ehepaar lebt am glücklichsten
wenn der Mann blind und die Frau taub ist9 (Fr. Krause.
Sitte und Brauch der Südslaven S. 507) und auf Rabelais,
Pantagruel III eh. 33.
Kawerau, Sommers Ethographia. 161
Johann Sommers Ethographia Mundi.
'Eyn nuwer heylig beisst Grobian, Den will yetzt fyren
yederman' — so heisst es in Sebastian Brants Narren-
schiff. *) Der gelehrte Basler Jurist hatte für die unge-
schlachten Grobianer einen eignen Orden erfunden, ihnen
den S. Grobian als Patron gegeben und ihr Wappen mit
einem gekrönten die Sauglocke am Halse tragenden Schwein
ausstaffirt. Er machte sie dadurch litteraturfähig und schuf
in dem neuen Heiligen Grobianus den Typus einer litterari-
schen Periode, die zunächst ebenso die f&eaction der ma-
nierirt idealisirenden Romantik wie der gelehrten Renaissance
dank ihrer zähen Lebenskraft überdauerte. Thomas Murner
und andere Nachahmer des Narrenschiffs halfen Namen und
Zeichen verbreiten und mehr und mehr fanden nun die
rüden Zeitsitten in der Litteratur ihren Niederschlag. Auch
die Reformation vermochte das S,chönheitselement nicht zur
Geltung zu bringen, vielmehr folgte dem gewaltigen geisti-
gen Aufschwünge mit verdoppelter Wucht die Tendenz zum
krassen Realismus, womit der wüsteste Aber- und Angst-
glaube, Teufels- und Hexenfurcht, Zauberei und Stern-
deuterei unbefangen Hand in Hand gingen. Die Streit-
schriften jener streitlustigen Tage leisteten dem Hange zum
Derben und Grobianischen wirksamen Vorschub, so dass
nun vollends der rohe Ton des Kneiptisches in die Litteratur
eindrang und selbst gottesfürchtige Pastoren, von der Cul-
tur unbeleckt, den wuchtigsten Dreschflegelstil nicht ver-
schmähten. Höchstes und Niedrigstes war in dieser wunder-
bar zwiespältigen Zeit eng benachbart. Während humanisti-
sche und protestantische Bildung an den höchsten Problemen
sich abmühte, schien gleichzeitig der grossen Masse des
Volkes das Derbe, Brutale und Zotige als das einzig Ergötz-
liche; Lügengeschichten und zwar launige aber gründlich
schmutzige Anekdoten bildeten seine Lieblingslektüre, und
wer nur amüsant zu erzählen wusste, durfte ungescheut
*) Zarncke, Seb. Brants Narrenschiff. Leipzig 1854 S. 70.
Vierteljahrschrift für Litteratmgoschichte V 11
162 Kawerau, Sommers Ethographia.
selbst das Ausserste wagen und dabei sogar des Beifalls der
Frauen versichert sein.
Ein Gegenschlag gegen diesen Grobianismus in Leben und
Litteratur konnte natürlich nicht ausbleiben. Zwar die vorhan-
dene realistische Lust und Kraft zu idealisiren und künst-
lerisch emporzubilden war dem 16. Jahrhundert versagt, aber
wenigstens regte sich die Satire, um das unflätige Wesen
der Zeit, ihre wüste Rohheit, ihr behagliches Schwelgen im
Schmutz durchzuhecheln. Schon 1 538 war in einem Schrift -
chen 'Grobianus Tischzucht bin ich genant, den Brüdern
im Sew orden wol bekant' der launige Versuch gemacht
worden, durch eine Art Regelbuch die Roheiten und Fle-
geleien der Grobianer dem Gelächter preiszugeben; dasselbe
versuchte 1549 der junge Student Friedrich Dedekind,
später Superintendent an der St. Michaeliskirche in Lüne-
burg, in seinem lateinischen Grobianus, dem sowohl im
Original wie in der freien Verdeutschung des Wormser
Schulmeisters Easpar Scheidt (1551) ein ungeheurer Er-
folg zutheil werden sollte. Scheidt, den sein Schüler Fischart
als den besten Reimisten seiner Zeit bezeichnete, hatte in
seiner Übersetzung die Dedekindsche Vorlage aufs glück-
lichste noch zu überbieten und in ihrer Wirkung zu ver-
stärken gewusst, so dass dieser deutsche Grobianus wirk-
lich, um mit Gervinus2) zu reden, ein abschreckendes Spiegel-
bild der Zeit darbot, weil darin ganz eigentlich 'der all-
gemeine und abstracte Charakter des ganzen Zeitalters aus
den vielen besonderen und einzelnen Repräsentanten seiner
grobschrötigen Cultur' entworfen wird. Es ist ein lehr-
reicher, aber freilich nichts weniger als erquicklicher Ein-
blick in das Treiben jener Tage, der uns darin eröffnet
wird. Indem der Verfasser mit den Wölfen mitheult, d. h.
sich selbst als waschechten Grobianer einführt, mit ihnen
die Saumette singt, mit ihnen säuft, flucht und flunkert, in-
dem er die rüdesten Unflätereien grob ironisch anpreist und
sie fein säuberlich in Regeln und Vorschriften bringt, wandelt
sich das 'aus dem Humor der Verzweiflung9 geborne Buch
ganz unmerklich in die bitterste Satire, deren Wirkung
*) Geschichte der Deutschen Dichtung »3,201.
Kawerau. Sommers Ethographia. 163
nicht mit Unrecht mit der der Dunkelmännerbriefe ver-
glichen worden ist.3) Das Pathos der Bussprediger ver-
hallte wirkungslos ; lachend aber Hessen sich die Leute auch
die Wahrheit gefallen. Denn das Zeitalter stand nicht nur
unter dem Zeichen des Grobianus, sondern auch unter dem
des Eulenspiegels.
Zwei Jahrzehnte später (1575) schlug Johann Fischart
in seiner Übersetzung von Rabelais' Gargantua einen ähn-
lichen Ton an. Waren jedoch Dedekind und Scheidt rein
didaktisch verfahren und im Grunde ganz in der Manier der
Brant und Murner stecken geblieben, so fand Fischart in
des Rabelais berühmtem Buche ein Vorbild, das seiner ge-
waltigen Begabung weit besser entsprach, als das jener un-
künstlerisch lehrhaften Satiriker. Ausgerüstet mit um-
fassender humanistischer Gelehrsamkeit und gründlich be-
wandert in den neueren Sprachen, war er zugleich ein
Patriot reinsten Wassers; er war ein eminentes satirisches
Talent voll sprudelnder Phantasie, ein Meister in Wortspiel
und Wortverdrehungen, unerschöpflich in sprachlichen Vir-
tuosenstückchen, nur dass er sich selbst um die besten
dauernden Wirkungen betrog, weil er weder Mass zu halten
noch seine Schöpfungen architektonisch zu gliedern im-
stande war. Gleichwohl überragt er alle seine Vorgänger
sowohl durch den Adel seiner Gesinnung, wie durch die
schier unerschöpfliche Fülle seiner Anschauungen und die
Voll8aftigkeit und Bildlichkeit seiner Rede. Wohl ist auch
sein Witz nicht selten grobianisch, immer aber ruht er auf
dem Untergrunde bürgerlicher Tüchtigkeit, sittlichen Ernstes
und gemüthlicher Herzenswärme. Wie vordem sein ge-
sunder Menschenverstand in der Satire 'Aller Praktik Gross-
mutter' (1572) gegen Sterndeuterei und Wahrsagerei sich
aufgelehnt hatte, so hielt er nun im Gargantua den rohen
Sitten der Grobianer einen Spiegel vor: die gigantischen
Helden des Buches sind in riesenhafte Dimensionen ver-
zerrte Fresser und Säufer und zumal die Trunksucht jener
vom Saufteufel besessenen Zeit findet in der bacchantischen
Trunkenlitanei eine sonst nirgend erreichte derb drastische
*) Q. Milchsack im Neudruck des Grobianus, Halle 1882 S. VI.
11*
164 Kawerau, Sommers Ethographia.
Schilderung; ergötzlich wird die derzeit gang und gäbe
Lügenlitteratur karikirt und das Modeunwesen der Zeit in
grotesken Bildern verspottet.
Auf den Schultern Scheidts und Fischarts steht der
schreiblustige Pastorin Osterweddingen Johannes Sommer,
der fast sechs Jahrzehnte nach dem Grobianus, mehr als
dreissig Jahre nach Fischart abermals den Grobianern einen
Sittenspiegel vor Augen hielt. Anlass dazu war im Jahre
1607 nicht weniger vorhanden als damals. Allerdings fehlte
es an der Schwelle des neuen Jahrhunderts nicht an An-
sätzen einer neuen kräftigen Entwicklung; der Wohlstand
war im Wachsen, Ordnung und Sicherheit im Lande waren
grösser geworden. Auch war die Sittenlosigkeit schwerlich
viel ärger als vordem, freilich ganz gewiss auch nicht
wesentlich geringer. Yon oben herab drang der Hang zu
Luxus und Wohlleben in immer weitere Kreise; Mode-,
Sauf- und Spielteufel gingen nach wie vor um und forderten
in allen Ständen zahlreiche Opfer ; das Geschlecht der Gro-
bianer war noch keineswegs ausgestorben. Aus derVolks-
litteratur weht uns noch immer die Luft der Kneipe entgegen,
aber seltsam genug mischt sich zugleich in das wilde Johlen
und Lärmen ein elegischer Ton der Trauer, des Missbehagens
und der Verzweiflung. Immer lauter werden die Klagen
über die Yerderbtheit der Zeit, immer häufiger die Unglücks-
propheten, die das nahe Weltende verkündigen.
Johannes Sommer4) war, als er im Jahre 1607 unter
dem Namen Olorinus Variscus als Ethicus der neuen Welt-
kinder seine Ethographia Mundi herausgab, ein Mann von
62 Jahren, der sich als Übersetzer und Sammler mehrfach
litterarisch bethätigt hatte. Er stammte aus Zwickau, wo
er 1 545 ein Jahr vor Luthers Tode, fünf Jahre vor Johann
Fischart geboren war. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts
finden wir ihn unter dem Abt Clemens Strathusen s), dem
Nachfolger Peter Ulners, als Conventual und Lehrer zu
Kloster Berge, worauf ihm 1598 nach dem Tode des Pastors
4) Vgl. H. Holstein im Beiblatt der Magdeb. Zeitnng 1880 S. 411 f.
und 1881 S. 2 f.
*) H. Holstein, Geschichte der ehemaligen Schule zu Kloster Berge.
Leipzig 1886 S. 7.
Kawerau, Sommers Ethographia. 165
Georg Hasenstab die unter dem Patronat des Klosters
stehende Pfarre zu Osterweddingen verliehen wurde. Hier
starb er, nachdem er 24 Jahre lang sein Amt verwaltet
hatte, als siebenundsiebzigjähriger Greis am 16. October 1622.
Der Schriftsteller, der sich bald Cycnaeus als Zwickauer,
bald Olorinus Yariscus, gelegentlich auch Huldrich Therander
nannte, war zuerst als Übersetzer lateinischer Dramen auf-
getreten. Im Jahre 1 602 erschien in Magdeburg seine Ver-
deutschung der lateinischen Komödie Areteugenia °) des
Stettin er Predigers Daniel Cramer, der darin den der ita-
lienischen Novelle entlehnten romantischen Stoff von der
Rettung des Ritters Aretinus und seiner Schwester Eugenia
behandelt hatte; drei Jahre später folgte desselben Ver-
fassers Plagium 7), worin die Entführung der beiden Prinzen
Albert und Ernst von Sachsen durch Kunz von Kaufungen
dramatisch gestaltet ist. Er übersetzte ferner Albert Wich-
grevs Komödie vom Studentenleben, den Cornelius relegatus 8),
und versificirte endlich die Prosa in des Herzogs Heinrich
Julius von Braunschweig Komödie Von einer Ehebrecherin '),
der der gleiche Schwank wie den Lustigen Weibern von
"Windsor zu Grunde liegt. Er gab ausserdem eine Sammlung
von Leberreimen heraus, veröffentlichte ein Räthselbuch und
eine Sprichwörtersammlung und folgte den Spuren Fi schart 8
in seiner Martinsgans. Diese ganze vielseitige litterarische
Thätigkeit drängt sich, merkwürdig genug, in ein Jahrzehnt
seines Lebens zusammen, und zwar war er nahezu ein
Sechziger, als er, soviel wir wissen, zum ersten Male als
Schriftsteller an die Öffentlichkeit trat, die er dann freilich
als flinker Vielschreiber unermüdlich in Athem hielt. Na-
türlich aber war diese Massenproduction nur möglich durch
sein unselbständiges An- und Entlehnen, durch das reich-
liche Ab- und Ausschreiben andrer. Zumeist beschränkt er
•) Goedeke, Grundriss »2,372 und Holstein, Die Reformation im
Spiegelbilde der dramatischen Litteratur des 16. Jahrh. Halle 1886
S. 259.
, 7) Goedeke, Grundriss * 2, 372 nnd Holstein, Die Reformation S.260.
•) Vgl. Erich Schmidt, Komödien vom Stndentenleben, Leipzig
1880 S. 11 f.
•) Der Titel bei Goedeke » 2, 373. Vgl. auch Gervinus » 3, 159.
166 Kawerau, Sommers Ethographia.
eich, wie gesagt, aufs Übersetzen und Sammeln; wo er je-
doch wirklich Originale zu bieten vorgiebt, da sind auf
Schritt und Tritt die fleissig benutzten Vorbilder wahrnehm-
bar. Und niemand wirkte starker und nachhaltiger auf den
Oster weddinger Pfarrherrn als Johann Fischart, dessen
Hauptwerke zwischen 1575 und 81 erschienen sind, sodass
Sommer sie sicherlich im ersten Mannesalter kennen lernte.
Sie vor allem bestimmten seine litterarische Richtung, sie
beeinflussten seinen Stil, sie benutzte er aufs ausgiebigste,
ohne freilich darüber die älteren Schriftsteller, insbesondere
Brant, Murner und Scheidt zu vernachlässigen. Der sinn-
lichen Lebensfulle der Fischartschen Dichtungen verdankte
der gern mit seiner Gelehrsamkeit prunkende Theologe zu-
gleich das Interesse an den Sitten und an der Spruchweis-
heit des Volkes, ein Interesse, das er selbst dann nicht ver-
leugnete, wenn er, wie beispielsweise in seinem Räthsel-
buche ausdrücklich vorgab, es 'auss den berümbtesten vnnd
vortrefflichsten Alten vnd Newen Lateinischen Scribenten
mit fleiss zusam gezogen9 zu haben. Denn die Hauptquelle
dafür floss ihm, wie schon Wilhelm Wackernagel10) mit
Recht bemerkt hat, doch aus dem Boden Deutschlands.
Vor allem ist natürlich der Satiriker OlorinusVariscus
ein Nachtreter Fischarte, den zu copiren er eifrig beflissen
ist. Nur dass seine geringe schöpferische Kraft mit diesem
Vorbilde nicht viel anzufangen wusste, so dass er doch im
wesentlichen nur Äusserlichkeiten ihm abguckte. Denn
Fischarts Stil wirklich nachzubilden konnte nur einer ihm
congenialen sprachschöpferischen Natur gelingen und die
durchschlagende Wirkung seines Witzes beruhte doch zu-
letzt auf einem sittlichen Ernst und einer Gemüthswärme,
die dem vierschrötigen Pastor zu Osterweddingen mangelten.
Dort ursprüngliche aus dem Inneren einer kraftvollen Per-
sönlichkeit sprudelnde Fülle, hier ein Durcheinanderklang
erborgter Motive und Stilarten ; dort eine eminente natür-
liche Begabung, hier unselbständige Nachahmung; dort
Patriotismus, Leidenschaft, Herzenswärme, hier ein trockener,
meist ungeschlachter Witz, der aus dem Kopf, nicht aus
") Johann Fiechart von Strasburg. Basel 1870 S. 119.
Kawerau, Sommers Ethographia. 167
dem Herzen stammt. Innerlich stehen ihm deshalb fraglos
die älteren Satiriker des 16. Jahrhunderts näher, unter ihnen
insbesondere Thomas Murner, mit dem er sowohl die Plump-
heit der Empfindung wie den grobianischen Witz gemein
hat, während er zugleich in manchem Betracht schon zu
dem jüngeren Moscherosch hinüberweist.
Am offenkundigsten tritt uns der Einfluss Fischarts in
Sommers Stil entgegen. Gleich diesem liebt er komische
Anspielungen, Excurse und Wortspiele, gleich diesem karrt
er ganze Berge von Anekdoten und Citaten zusammen,
gleich diesem bedient er sich mit Vorliebe der rhetorischen
Figur der Häufung. Gleich Fischart sucht er für jedes
Ding und für jeden Begriff eine Fülle neuer komischer Be-
zeichnungen zu bilden: er nennt die Trinker Herren von
Dürstlingen und Trankreich, auch Ritter von Eannenberg
und Glashausen; die Faulenzer Herren von Sanftenberg,
Ruhweiler, Liegnitz und Schnarchhausen; die Armen Junker
von Trockenbrod, Erbsessen auf Armenhausen. Er mischt,
um die komische Wirkung zu erhöhen, lateinische Brocken
in das derb volksthümliche Deutsch: 'ich wolt wol mehr
hiervon dicere, ich habe aber nicht multum Zeit9 ; oder be-
dient sich gar einer maccaronischen Prosa: 'Schnarchibiliter
Schnarchando schnarche, schlaffe vnd aussruhe'. Er durch-
setzt gleich seinem berühmten Vorbilde seine Rede mit
Sprichwörtern, volkstümlichen Redensarten und Citaten aus
Volksliedern, mit denen er als Sammler von Sprichwörtern
und fleissiger Ausschreiber der Nachtigallschen Joci wie
Einer vertraut war. Er citirt u. a. die Sprichwörter: Das
Recht hat eine wächserne Nase, die man drehen kann wie
man will; wer sich unter die Kleie mengt, den fressen die
Säue11); Kleider machen Leute; Müssiggang ist aller Laster
Anfang; weit davon ist gut vorm Schuss; einem jeden
Narren gefallt seine Kolbe wohl; wie die Alten sungen, so
zwitschern die Jungen; lügen, dass die Balken krachen12)
") 6robianu8 V. 3043: 'Drumb misch dich nit vnder die Eleven,
da wärst sonst gfressen von den sewen.1
") Ebenso in Murners Schelmenzunft V. 683 und im Grobian us
V. 311 und 4610. Zu diesem Ausdruck vgl. C. Müller-Fraureuth, Die
deutschen Lügendichtungen. Halle 1881 S. 111.
1
168 Kawerau, Sommers Ethographia.
drei Frauen und drei Gänse machen einen Jahrmarkt; kleine
Füchse haben auch grosse Schwänze. Er gebraucht volks-
thümliche Redensarten wie: 'Sauff dich voll, vnd leg dich
nider, Steh früe auff vnd fül dich wider: So vertreibet eine
Füll die ander, schreibt der Sauffkönig Alexander9, und
spricht von Urtheilen, die die Wahrheit so wenig umstoesen.
wie eine Fliege den Domthurm zu Magdeburg. Er theilt
gerade wie Fischart als ein in den Volkssitten wohlbewanderter
Mann ganze Register von Trinkgebrauchen, von Namen für
Trinkgefässe und volkstümlichen Schmausereien mit und
giebt in diesen Excursen ein culturgeschichtlich überaus
lehrreiches Material, das für die Eenntniss der Zeit vor
dem grossen Kriege von unschätzbarem Werth ist.
Und eben dieses: 'der Posteritet einen Historischen
Zeit Spiegel' zu überliefern, das war die eine Aufgabe, die
er sich im ersten Theil13) seiner Ethographia Mundi
gestellt hatte. Lustig, artig und kurzweilig, jedoch wahr-
haftig und glaubwürdig wollte er seiner Zeitgenossen Re-
ligion, Wandel, Sitten und Geberden, Kleidung, Tracht und
allerlei Handel und Wandel beschreiben, um dadurch der
Nachwelt ein getreues Bild des damaligen status mundi
aufzubewahren. Denn, so meint er, die Sitten und Ge-
bräuche hätten sich in den letzten Jahrzehnten dermassen
verändert, dass wenn ein vor zwanzig Jahren Verstorbener
auf die Erde wiederkäme, er die heutigen Deutschen gar
nicht mehr erkennen, sondern meinen würde, (das es eitel
") Die erste Ausgabe war mir nicht zugänglich. Die von mir
benutzte hat folgenden Titel: Ethographia | Mundi. | Lustige, | Artige,
vnd Kurtzwei- | lige, jedoch Wahrhafftige vnd | Glaubwirdige beschrei-
bung der heuti- | gen Newen Welt, im Glauben, Bekendtniss, | Religion,
Wandel, Sitten vnd Geberden, | Kleidung vnd Tracht, vnd allerley
Handel | vnd Wandel, vnd gantzem | Leben. | Der Posteritet zum Histo-
rischen | Zeit Spiegel, vnd der Newen Welt vn allen Jungen aussge-
heckten Weltkindern zum | gründlichen rnterricht, wie sie sich in die
Ne- | we Welt schicken sollen, auch zu sonderlichem | Wolgefallen
geticht vnd gericht, vnd nun- | mehr auff vieler begern ans Liecht ge-
bracht. | Itzt auffs newe corrigiret vnd au- | giret, durch | Johannem
Olorinum Variscum. | Magdeburgk | Im Jahr 1614. | Gedruckt durch An-
dreas Betzel, In | Verlegung Lewin Braunss, Buchf. | Titel und 86 Bl.
in 8° [Göttingen, Satirae 341].
Kawerau, Sommers Ethographia. 1 69
Frantzösische, Spannische, Welsche, Engelische vnd andere
Völcker weren'. Ist schliesslich seine wahrhaftige Schil-
derang überwiegend ein Lasterspiegel geworden, so ists
natürlich nicht seine Schuld und es wird hoffentlich kein
Leser so unverständig sein anzunehmen, dass er darin den
lasterhaften Weltkindern das Wort habe reden wollen. 'Wz
kan auch Dedekindus der Theologius dawider, dz er den
Grobianum so grob beschrieben hat? solt er darumb auch
ein Grobianus sein? wz wil man Johan Fischart14) anhaben,
dz er in seinem Pantagruel im 8. Cap. die truckene Litaney
allen Bauchsbrüdern zimlich vnflätig hat beschreiben müssen?
Solt er darümb auch ein vnflat sein? Solt er ein Hurer
vnd Hurenwirth sein, weil er im Fünfften Capittel die Huren-
heuser vnd Huren so artig weiss zu erzehlen, als wenn er
jn allen Frawenhäusern gute kundschafft gehabt hette?
Solten darumb die Theologi Teuffei sein, weil sie den Jagt-
teuffei, Sauffteuffel, Spielteuffel, Kleiderteuffel, Hosenteuffel,
Hurenteuffel, Geitzteuffel vnd in summa ein gantz Thea-
trum Diabolorum geschriben haben?9 Ganz ähnlich hatte
vordem Thomas Murner den Inhalt seiner Schelmenzunft
V. 1424 ff. zu rechtfertigen gesucht:
Ich wolt der weite tand beschriben,
Da must ich uf dem schlag beliben;
Den wer beschrib der weite stat,
Der muss wol sagen, wie es gat.
Doch nicht nur die Nachkommen, sondern auch die Zeit-
genossen hatte Sommer im Auge ; er wollte ihre Thorheiten
und Laster verspotten, wollte warnen und bessern. Und als
wirkungsvollstes Muster für ein solches satirisches Sitten-
bild bot sich ganz von selbst der Grobianus dar. Wie hier
Scheidt als Grobianer unter den Grobianern sich aufspielt,
so er als modernes Weltkind unter den Weltkindern; wie
jener sich vorgesetzt (V. 38) die 'jugent newe (grobianische)
mores9 zu lehren, so will auch er die Jugend in den neuen
Sitten unterrichten, sie als moderner Ethicus mit dem Natur-
recht der Weltleute vertraut machen. Da die Menschen
**) Die Erwähnungen Fischarts in der Ethographia Mundi sind
verzeichnet bei C. Wendeler, Fischartstudien des Freiherrn von Meuse-
bach. Halle 1879 S. 304.
(70 Kawerau, Sommers Ethographia.
immer das öegentheil von dem thun, was ihnen geboten
wird — so hatte Scheidt im Vorworte zum Grobianus ge-
äussert — so müsse man wohl oder übel einmal versuchen,
ihnen grobe Sitten und Laster anzupreisen und Zucht, Scham
und Tugend zu verspotten.
Habt jr nun allzeit vnderlon,
Wass weise leut gebotten hon,
So tbut auch nit was ich gebeut,
So werdent jr erst rechte leut.
Ganz in gleicher Weise verfahrt Sommer, so dass das Motto
des Grobianus auch das seinige ist: 4Liss wol diss büchlin
offt vnd vil, Ynd thu allzeit das widerspil.' ")
Es sind siebzehn 'naturgemässe Gesetze, Statuten und
Ordnungen der weltliebenden Zunft9, die er im ersten Theile
aufstellt und begründet. Den Anfang macht die Anpreisung
des neumodischen 'Atheismus', wobei er uns ganz wie seiner
Zeit Brant und Murner etliche realistische Schilderungen
der religiösen und kirchlichen Zustände der Zeit zum Besten
giebt. Ein rechtes modernes Weltkind verachtet natürlich
Gott und seine Gebote und geht entweder gar nicht oder
aber mit Unlust und Unwillen, oder nur zur Schau zur
Kirche. 'Spectatum veniunt, veniunt spectentur ut ipsi et
ipsae.' Im Gotteshause schwatzen sie, liebäugeln mit den
Mädchen oder aber (so sie etwa auff den Abend zuvor Aurum
potabile zu sich genommen, vnd sieben stunden drauff ge-
fastet vnd gewachet, so legen sie sich in der Kirchen zu
sanffter Ruhe, vnd lassen sich den Orgelklang, Cantore-
gesang vnd dess Priesters Fredigten fein Kindermässig ein-
wiegen. Oder wenn man jenen zu lange prediget, so lauffen
sie zur Kirche hinauss, vnd lassen den Pfaffen plaudern
biss er auffhöret . . .' Der Gebetbücher bedürfen sie nicht,
sondern kaufen statt dessen das schön gemalte Büchlein der
vier Könige. Daraus ergiebt sich ganz von selbst als andere
Begel die Forderung des religiösen Indifferentismus, denn
'Glauben allein an einen Gott, Das acht die Welt nur für
ein Spot. Ihr glaub hat bey jhn kein bestandt, Sie endern
") Fiechart, Flöhhaz 1573 (Halle 1877) S. 67: 'Caspar Scheit der
best Reimist zu vnser zeit Hat er nicht schön im widerspiel Erhebt
die Grobianer viel?*
Kawerau, Sommers Ethographia. 171
jhn in allem Land'. Ein modernes Weltkind behält sein
Credo hübsch im Busen oder steckts in die Tasche; er ist
bei den Papisten papistisch, bei den Calvinisten calvinisch,
bei den Lutherischen lutherisch und kann mit dieser schönen
güldenen Regel aufs sicherste durch die Welt reisen. Dann
folgt eine die ersten beiden Kapitel des Grobianus in Prosa
umschreibende drastische Schilderung von dem Lebenslauf
eines sorglos in den Tag hineinlebenden Weltkindes. Sommer
wiederholt Fischarts 16) Losung: 'Im Rhat sey ein Seh wetzer,
im Bett ein Pfctzer, vber dem Tisch ein Ketzer: zu der
arbeit sey kretzig, zum fressen auffsetzig: im schwetzen sey
ein hetz, im fressen Bei der Götz', und wie Fischart im
Gargantua gefragt hatte17): 'Was solt der Rosen Geruch,
wa nicht weren, die sie zur Erquickung abbrechen? Was
solt der gut Wein, wann keine weren, die jhn zechten?
Was wer der Thurnirring, wann nicht die Hofleut darnach
stechen?9, so citirt er als Lebensregel der jungen Leute:
Dann was sol Bier vnd guter Wein,
Wann keine Frische trincker sein.
Was sollen Rosen vnd die Nelcken?
Sollen sie verdorren vnd verwelcken?
Was sollen Junge Mägdelein?
Sollen sie allzeit sitzen allein?
0 nein, die schönen Röselein
Die geben vns schöne Kräntzelein,
Die zarten hübschen Jungfrawen,
Seind lieblichen anzuschawen.
Sed quid juvat aspectus, si non conceditur usus
Anschawen vnd nicht genissen,
Möcbt einen trawn wol verdriessen.
Gehorsam gegen Eltern und Lehrer und Ehrfurcht vor
dem Alter sind natürlich ein überwundener Standpunkt: 'Ihr
thun mu88 allzeit haben recht, Sie seind Herrn, Eltern sind
nur Knecht*. ")
") Johann Fischarte Geschichtklitterung, Neudr. Halle 1886 S. 63.
») Ebenda S. 96.
") Johann Nendorf, Rector der lateinischen Stadtschule zu Gos-
lar, klagt in seiner Comoedia Vom verlorenen Sohn. Gosslar 1608:
'Wer jetzt fluchen vnd schweren kau, Der ist allein der beste Man,
Gotts Wort man aber gar nit acht, Wer davon sagt, wird aussgelacht,
Fürn Eltern hat man kein forcht, Herrn vnd Frawen man frech an-
schnorcht' u. s. w.
172 Kaweran, Sommers Ethographia.
Zwei weitere Regeln (4 und 5) beschäftigen sich mit
dem Kleiderluxus und den Kleidennoden. Verschlang doch
der masslose Stoffbedarf und der beständige Wechsel in
der Mode unglaubliche Summen und war doch zudem die
krause pludrichte Tracht der Modegecken dermassen närrisch
und stutzerhaft, dass sie ganz von selbst den 8pott der
Satiriker herausforderte. lg) Bald mit dem 'groben Geschütz
der alten theologischen Polemik9, bald mit derbem Witz
und Hohn ging man dem welschen Modeteufel zu Leibe,
während zugleich zahlreiche Verordnungen der Obrigkeiten
ihn, allerdings meist vergeblich, zu bannen suchten. Olorinas*9}
hält natürlich treu seiner Rolle als Ethicus der modernen
närrischen Welt dem Kleiderluxus eine ironische Lobrede
und spottet über diejenigen, die heutiges Tages auf der
Kanzel 'wider die newe Leimstengerische Vtopische Manier
vnd Zier der Kleidung donnern vnd blitzen', ihre fcante-
diluvianischen Kielhosen und Barete' loben und die neuen
Muster bis in die Hölle zu verdammen pflegen. Er will,
um den Lästerern das Maul zu stopfen, beide Muster, alt
und neu, mit einander vergleichen, woraus jedermann sehen
mus8, wie thöricht jenes Eifern ist und wie verständig die-
jenigen handeln, welche jede neue welsche Modenarretei
getreulich nachäffen. Vor zwei bis drei Jahrzehnten trugen
die Deutschen kleine Hüte mit schmalem Bande, heute
trägt man Hüte mit breiten Bändern, die eine halbe Elle
breit über die Schultern hangen. Nun dient doch aber der
Hut nicht nur zur Zierde, sondern auch zum Nutzen ; er soll
ein Dach wider Begen und Hitze sein. Das deutsche Wört-
lein Hut kommt zweifelsohne von hüten her, d. h. der Hut
soll den Kopf vor Frost, Hitze und Begen behüten. Also
ist es klar, dass die alten Hütlein eine Zier für Narren,
nicht aber für Weise waren. Trägt man ferner heute auf
den Hüten grosse, langwallende Federn, so dienen diese
lf) Vgl. Erich Schmidt, Der Kampf gegen die Mode, Charakte-
ristiken. Berlin 1886 S. 63 ff.
*•) Schon in der Vorrede zum Cornelias relegatus (1605) hatte er
gegen die Väter den Vorwurf erhoben, sie gewöhnten ihre Pflegpflinz-
lein 'flugs zu langen französischen Harlocken, weiten Müllerhosen, vnd
newer Utopischer Leimstenglerischer Cornelianischer Manier vnd Zier.
Kawerau, Sommers Ethographia. 173
einmal zur Zierde, weil das Haupt als arx sapientiae ebenso
seinen Schmuck haben muss, wie sonst eine Burg oder ein
Thunn, auf die man schöne Fahnen zu stecken pflegt. Sie
dienen aber auch zum Nutzen, weil sie zeigen, wo der
Wind herkommt und weil sie bei grosser Hitze als Fliegen-
wedel zu gebrauchen sind. Und weiter: die Alten trugen
kleine Kragen, die jetzigen Weltkinder tragen 'Ellenlange,
dicke, Schlangenwindige, auff den Achseln liegende Kragen,
daran ein junger Wolf neun Tage zu fressen hette'. Auch
hier springt, vom Schmuck ganz abgesehen, der Nutzen in
die Augen : sie schützen den Hals gegen Katarrhe und Flüsse,
sie verdecken einen hässlichen Hals und dienen endlich den
Läusen zum weitläufigen Irrgarten und Unterschlupf. Früher
trugen unsere Hasiones21) (Narren) grosse weite Wämser
mit sackniässigen Ärmeln, 'da man in jeden drey Scheffel
Korn Magdeburgisches Mass hatte füllen können9; unsere
neuen Weltburschen tragen ein naturgemässes Kleid, das
da fein eng am Leibe angemessen ist, als wenn es ange-
gossen wäre. Die Ärmel sind gleichfalls fein glatt nach
der natürlichen Proportion, damit man nicht bei Tisch die
Teller damit abwische. Diese Ärmel sind namentlich viel
geschickter zur Löffelei, 'dass man Jungfraw Margretichen,
das liebe Hertzichen kan desto subtiler in arm nehmen9.
Man vergleiche ferner die früheren Rauschenden und rau-
schenden9 Pluderhosen mit den jetzigen. Dort zwanzig oder
dreissig Ellen Damast oder Taffet, 'dass es rauschete, wenn
die Hosenhelden kamen, als wenn das Eibwasser durch die
Brück oder vber ein Währ licffe9 ; heute knappe Hosen nach
französischem Muster, die zwar unten um die Kniee schlottern
und weit offen stehen, dennoch aber viel naturgemässer
sind als jene weiten und pludrichten. Ja auch an den
Farben der Kleidung mäkeln die Moralprediger, weil man
nicht allein schwarz, sondern auch weiss, roth, grün, gelb,
") Ihnen wurde um 1600 ein eigenes Compendium Hasionale ge-
widmet, vgl. Goedeke, Grundriss * 2, 286. Vgl. auch R. Köhler, Kunst
Aber alle Künste Ein bös Weib gut zu machen. Berlin 1864 S. 232 ff.
Im Vorwort zum Cornelius relegatus klagt Sommer über die allgemeine
Laxatio disciplinae scholasticae, wodurch die Welt 'mit Cornelijs und
Hasionibus überschüttet' sei.
174 Kawerau, Sommers Ethographia.
purpurfarben und andere zu tragen pflegt. 'Dadurch aber
geben sie zu verstehen, dass sie im Gehirn nit wohl ver-
waret sein, vnd einer starcken Purgation von Niesewurtzel
bedürften : Denn kleydet vnser HErr Gott nit die Blümelein.
als Violen, Rosen, Negelcken, Lügen vnd andere vnzelich
viel Feld vnd Gartenblümelein mit mancherley Farben, die
doch heute blüen vnd morgen mit der Sensen abgemeyet
vnd der Euhe fürgetragen werden? Solte dann nicht der
Mensch, der auch einer Blumen verglichen wird, vnd als
eine schöne vnverwelckliche Blume an jenem Tage in den
Himlischen Garten versetzet werden sol, auch mit mancherley
Farben sich zieren?1 Es ist genau das gleiche Argument
das schon Scheidt im Grobianus22) für die Farbenbuntheit
der Kleidung vorgebracht hatte:
Es sollen auch die kleider dein,
All von mancherley färben sein:
Sich an wie der schön Regenbogen,
Am himel ist mit färb durchzogen,
Dessgleich auch ein jeder Planet,
In seinen sondern färben steht.
Ich gschweig der färben die man findt
An souil blumen wo sie sind.
Endlich ist auch die Klage, dass mit den fremden Kleidern
fremde Sitten in Deutschland einziehen, bei Lichte besehen
grundlos. Denn 'was die Mores vnd Sitten, so da die
Deutschen von Frembden lernen, belanget, sind sie traun
nit allerseits zuverachten. Weil die groben Teutschen zim-
liche grobiani sein vnd wenig Höifligkeit wissen, vnd wol
von Nöten hetten, von den andern Civilitatem morum zu
studieren'.
Aufs ausfuhrlichste behandelt Sommer natürlich auch
das Schlemmen und Saufen. Mit deutlichen Anklängen an
Murners Schelmenzunft, den Grobianus 23) und die Trunken-
litanei im Gargantua giebt er eine drastische Schilderung
grobianischer Tischzucht; er spottet über die Pfaffen und
Medici, die andren Leuten eine magere Diät vorschreiben
") Neudruck, Halle 1882 S. 133.
*') Man vgl. besonders das 21. Kapitel der Schelmenzunft 'Die
sauw krönen' und das 3. und 4. Kapitel des Grobianus.
Kawerau, Sommers Ethographia. 175
und selber weidlich schlemmen und demmen, sieht verächt-
lich auf die mageren Hessen und Thüringer und hälts mit
den Sachsen34), die als gute Schlampamper, Fressbäuche
und Speckhälse rühmlich bekannt sind. Er singt den Bier-
helden und Kannenrittern, 'die mit dem Herren von Süplingen
Im Bachus Felde rumbher springen' ein ironisches Loblied,
denn 'Fressen, Sauffen vnd Pancketiren Schmeckt besser
als täglich studiren*. So geht auch er auf dieselbe Manier
wie der Grobianus dem Saufteufel zu Leibe, der bisher
noch allen zornigen und spottenden Angriffen siegreich wider-
standen hatte. Durch das ganze 1 6. , Jahrhundert zieht sich
der Kampf85) wider die zu einem furchtbaren Nationalübel
gewordene Trunksucht, wobei vornehmlich das abschreckende
Konterfei wüster Trinkgelage mit allen ihren widerlichen
Folgen das fruchtbarste Motiv der allmählich gewaltig in
die Breite gegangenen Trinklitteratur bildete, die dann auch
im 17. Jahrhundert noch geraume Zeit hindurch fortwucherte.
Den Sauft eu fei hatte 1551 Matthäus Friederich in diese
Trinklitteratur eingeführt und hatte seine Schrift wider diesen
Dämon mit der Klage eröffnet:
Du edle deutsche Nation,
Die du werst aller Lande ein Krön,
So du von deinem Sauffen liesst,
Deins Lobs ein end kein Mensch nicht wüst.
Ganz ähnlich lautet ein bekannter Stosseufzer Ringwalts:
Ach wenn die deutschen Knecht und Herrn
Nicht leider so versoffen warn,
«*) Bl. G\j: 4Las8 die Sachsen herkommen mit jhren Schincken,
Knapwürsten vnd Rothwürsten, das seind gute Schlampamper vnd
Fressbeuche, vnd starke Speckhälse, die da gefütterte Magen haben,
welche fein weit sein, wie der heutigen Hoffleut stiffel, die man von
fassen schüttelt, vnd anliegen wie eine Glock dem Schwengel. Traun
wenn einer einen Schincken, einen grossen Schweinern Sewmagen vnd
drey Pfandt Gereuchert Rindtfieisch zu dem Morgenbrodt hat, so kann
er einen guten anstandt mit dem Hunger machen, vnd eine fasten
voviren biss zu eylff schlage im Mittag.*
**) Vgl. A. Hauffen, Die Trinklitteratur in Deutschland bis zum
Ausgang des 16. Jahrhunderts in der Vierteljahrschrift für Literatur-
geschichte 2,481 ff. und desselben Caspar Scheidt (Quellen und For-
schungen 66) Strasburg 1889.
176 Kawerau, Sommers Ethographia.
So war kein schönere Nation
Unter des weiten Himmels Thron.
Ingrimmig hatte sich auch das patriotische Gefühl des
wackeren Scheidts gegen das die Ehre des deutschen Namens
schändende Laster aufgelehnt. Es sei, so klagt er in der
Vorrede zum Grobianus 26), durch unsere groben bäurischen
Sitten dahin gekommen, 'dass wir von andern Nationen gar
Adelische, subtile vnd höfliche namen, als Porco tedesco.
inebriaco, Aleman yurongne vnd andere mehr schöne Tittel
erworben, das ist, Teutsche volle sew, vnd grobe volle
Teutschen, Comedones vnd Bibones genant werden9. Und
auch im Beginn des neuen Jahrhunderts noch klingt uns
wiederholt dieselbe Klage entgegen, wie denn beispielsweise
Ludwig Holle in seiner Comoedia vom verlorenen Sohn (1603)
schmerzlich bewegt ausruft37):
Wir Teutschen leider allzusammen
Verloren vnsern guten nahmen:
Vnd mussens hören offt, weiss Gott,
Das ander Völcker nur aus spot
Vns die versoffen Teutschen heissen . . .
Sommer bewegt sich in seinen die Trunksucht behan-
delnden Abschnitten durchweg in den Motiven und Wen-
dungen der älteren Darstellungen. Er giebt einen voll-
ständigen Trinkcomment, der in Form und Inhalt von den
früheren Fassungen des Zech- und Saufrechts38) abhängig
ist, insbesondere vom Grobianus, wo die verschiedenen
Trinkarten unter dem Titel 'der weinschleuch hofrecbt' 3>)
zusammengefa88t sind, und zum andern von Fischart, der in
der Trunkenlitanei gleichfalls ein langes Register30) von
den verschiedenen Arten des Zutrinkens mitgetheilt hatte.
Das gleiche Kapitel in Gargantua enthält einen langen Ka-
talog der zahlreichen derzeit gebräuchlichen Trinkgefasse,
den Sommer ebenfalls in seine Schilderung mit hinüber-
«•) Neudruck S. 4.
*7) II, 7. Ebda III, 4, heisst es: 'Dem newen Heilgen Grobian Beim
schwelgen dient fast jedermann1.
") Vgl. J. Janssen, Geschichte des deutschen Volkes 6, 400 ff.
») Neudruck S. 97.
M) Neudruck S. 148 ff.
j
Kawerau, Sommers Ethographia. 177
nahm.31) Zwischendurch theilt unser Ethicus reichlich
Anekdoten von trunkfesten Männern mit und spottet, dass
heutiges Tages nichts so leicht zu Ruhm und Ehren bringe
als die Sesshaftigkeit bei der Kanne. 'Dannenhero wirds
heutiges Tags auch bey den grossen Potentaten für eine
Ritterliche Kunst geachtet, vnd wer das wol kan, der wird
vielen andern vorgezogen, mit herlichen Porwercken, Land-
gütern vnd andern Kleinoden verehret vnd begäbet vnd
kan dadurch zu ehren vnd Reichtumb kommen, zuuorauss,
wenn einer nach Hoffart frembden Legaten durch grosse
Pocal, Gläser vnd Kannen die Runtzel von der stirn ver-
trieben vnd den Sieg erhalten kan.' Ganz nach Fischart-
schem Huster ist dann wieder die Schilderung der Trunken-
seligkeit nach einem Gelage: 'Wann er (der Schlemmer)
nun den Kragen vnd Magen gefüllet hat nach behagen, dass
er nicht mehr kan tragen, so sol er bonarum rerum sein,
vnd ein Liedlein auff gut Reuterisch singen fein . . . Ynter
dem trincken sol er eins mit seiner geschmierten Gurgel
Coloriren vnd figuriren. Wo sol ich mich hinkeren, ich
dummes Brüderlein, wie sol ich mich erneren, mein gut ist
viel zu klein, als wir ein wesen han, so mus ich bald da-
von. Was ich sol heut verzehren, das hab ich fern ver-
than. Ich bin zu früe geborn, wo ich heur nur hinkom,
mein glück das kömpt erst Morgen, hett ich ein Keyser-
thumb, dazu den Zol am Rein, vnd wehr Venedig mein, so
wehr es alles verloren, es müst verschlemmet sein, was
hilffts das ich lang spare, vieleicht verlier ichs gar.' 3S) Doch
nicht nur das Johlen und Singen, sondern auch das Flunkern
") Er nennt u. a. B). Gig: 'Pokal, Btimercken, Pott, Angster,
Pinten, Kelche, Schlauchen, Pipen, Fiolen, Kufen, Seydel, Stübichen,
Kannen, SchOppenk&nnelein, Stotzen, Gläser, Krausen und Wilkom.'
") Über dieses Volkslied vgl. Archiv f. Litt-Gesch. 8. 441 ff. Es
ist abgedruckt bei Unland, Volkslieder S. 581 und bei Goedeke und
Tittmann, Liederbuch aus dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1881 S. 125.
Es findet sich in Burkard Waldis, Der verlorene Sohn 1527 (Halle
1881) S. 28 ff. und in Fischarte Gargantua (Halle 1886) S. 134. In
Martin Böhmes Acolastus, Wittenberg 1618 (III, 2) heisst es mit deut-
lichem Anklang an dieses Schlemmerlied: 'Juch dich, wenn wer Venedig
mein, Vnd het den reichen Zoll am Bein, So wolt ich mich an nie*
mand kehro, Ich wolt es alles frisch verzehrn'.
Yierteljahrschrift für Littoraturgeschichte V 12
]78 Kawerau, Sommers Ethographia.
und Aufschneiden gehört so nothwendig zum Saufen wie
die Glocke in den Eirchthurm. Unbefangen schreibt Sommer
das achte Kapitel des Grobianus aus. das er seinerseits
durch zahlreiche theils dem Laienbuche, theils dem Yin-
centius des Herzogs Heinrich Julius entlehnte Lügenge-
schichten und Flunkeranekdoten erweitert und aufschwellt
Und wo Bacchus ist, ist natürlich Mars nicht weit denn es
folgt 'gemeinlich auff das sauffen Zancken, hadern, schlagen
vnd rauffen\ und zwar nicht nur mit der Faust oder der
blanken 'Waffe, sondern auch mit dem Schwert der Zungen,
das nirgends lieber als beim Wein seine ehrabschneiderische
Arbeit zu verrichten pflegt.
Das in diesen Abschnitten angeschlagene Thema be-
handelte der Osterweddinger Pfarrer vier Jahre später auch
in einem eigenen Schriftchen, indem er 16t 1 eine freie
Übersetzung von Christoph Hegendorfs ss) Encomium
Ebrietatis (1519) bei Johann Francke in Magdeburg er-
scheinen Hess. S4) Zwar hat er sich als Verdeutscher nicht
genannt, doch macht schon das reichliche Ausschreiben
Fischarts seine Autorschaft zweifellos. So fuhrt er u. a.
zu Ruhm und Preis der Trunkenheit das Sprichwort an
(Bl. Bij. *): Tossum nil sobrius, Bibenti succurrunt quin-
decim Poetae' und schreibt dazu wörtlich aus dem Gar-
gantua85): 'Wenn ich nüchtern bin, so wollen die Veras
weniger fliessen, als Pech von der Hand wil: Wann ich
aber einen Rausch habe, so habe ich wol funffzehn Poeten
im Kopff . . . Sintemahl Poeten von Potus, il Boit vnd pott
kommen: ach es gibt doch gefroren Ding, wz man auss
bronnen schöpfft: Ein Poet soll auf einer selten am Gürtel
") Vgl. über ihn G. Kawerau, Zwei älteste Katechismen der lutheri-
schen Reformation. Halle 1891 S. 11 ff., über das Encomium Ebrietatis
A. Haoffen in der Vierteljahrechria f. Litt-Gesch. 2, 493 ff.
•*) Encomium Ebrietatis | Treffliebs hohes Lob | rühm vnd preis*
der | Trunckenheit | Wegen vnzelicher nutz- | barkeit, ersprießlichen
Gut- | thaten, vnd vielfältigen Gebrauch, | nicht allein in Teutschland,
sondern fast | auff den gantzen Erdenkreiss. | Durch | Cbristophorum
Hegendorffium. | Holzschnitt | Zu Magdeburgk bey Johann l Francken.
Anno 1611. | 16 Bl. in 8° [Göttingen. Satirae 304].
") Neudruck 8. 25 ff.
Kawerau, Sommers Ethographia. 179
ein Dintenhorn, auff der andern eine Flasch hencken haben,
das sol sein Brevirbüchlein sein.
Denn der Wasserseuffer Reimengang,
Gefallen nicht den Leuten lang.
Dann weil sie nicht lebhafftig sind,
Verschwind jr Leben auch geschwind,
Dass man nit viel davon verkündt.'
Tendenz und Manier jenes Hegendorfschen Schriftchens
waren genau die gleichen wie die, welche Sommer in seiner
Satire verfolgt hatte. Der junge Leipziger Theolog sang,
des Erasmus Encomium moriae nachahmend, der Trunken-
heit ein ironisches Loblied und Hess diesem unmittelbar
darauf sein Encomium sobrietatis folgen, worin alle die dort
für die Trunkenheit vorgebrachten Gründe wieder entkräftet
werden. Er feiert dort den Wein als Grillenvertreiber,
Freudenbringer und Freundschaftsstifter ; er rühmt ihm nach,
dass er die Soldaten kühn, die Poeten beredt mache, ja er
bringt gar zu seinem Lobe vor, dass er die Folter entbehr-
lich mache, weil er aus jedem Verbrecher die Wahrheit zu
Tage fordere. Auch für die Gesundheit ist die Trunken-
heit nicht nur nützlich, sondern geradezu unentbehrlich,
weil durch das Erbrechen die schlechten Säfte aus dem
Körper entweichen müssten. 88) Warum auch hätte der
weise und grundgütige Gott dem Patriarchen Noah ins Herz
gegeben, Weinberge zu pflanzen? Und warum auch hätten
die Alten den Bacchus zum Weingott erkoren, wenn nicht
die Trunkenheit ein so heilsames und nützliches Ding wäre,
dass sich ihrer Erfindung kein Gott schämen dürfte? Nun
sagt zwar der griesgrämige Moralist, dass die Trunkenheit
die Ursache sei der Unverschämtheit, des Mords und Tod-
schlags, er verschweigt aber, dass man sich beim Trunk
die Herzen der Menschen gewinnt und uns doch kein besseres
und edleres Kleinod von Gott gegeben werden kann. Was
demnach die sauersehenden Grillenfresser dawider plappern
und schnaddern mögen, das dürfen wir nicht eines Haares
") Ebenso der Qrobianns V. 1010 ff.: 'Auch rhaten die Doctores
all, (Vnd stimmen zu in disem fall) Dass zu der gsundheit köstlich ist,
Sich brechen alle Monate frist'. Wozu am Rande die Anmerkung:
'Vnser grobianer folgen disem rhat allen tag lmal oder zwey'.
12»
ISO Kawerau, Sommers Ethographia.
werth achten. Laset uns vielmehr die Trunkenheit mit Liebe
und Freude aufnehmen, die da die Menschen wunderlicher-
weise verwandelt, die Traurigen fröhlich, die Stummen ge-
sprächig und wohlberedt macht, die den Soldaten das Hera,
das sonst gar verzagt ist, aufmuntert und muthig macht, die
den Poeten eine Hitze giebt, dass sie, wenns auch dem
Apoll leid wäre, im Nu viel tausend Verse schmieden und die
als Mutter und Erhalterin der Freundschaft zu preisen ist.
'Wolan so lasset vns trincken, lasset vns zu den Glässern
vnd Kannen niedersitzen, wann wir wolten solcher vielfaltig
erzehlter Wolthaten, so da die trunckenheit begreifft, ge-
nisen, vehig vnd theilhafftig werden/ S7) Zug für Zug deckt
sich diese Hegendorfsche Argumentation mit den 'natur-
rechtlichen' Statuten, die Olorinus den neuen Weltkindern ent-
worfen hatte, und da dieser dabei Anlass gehabt hatte, sich
mit der gesammten älteren Trinklitteratur zu beschäftigen,
so ist es leicht erklärlich, dass er in seine Verdeutschung
des kleinen Schriftchens mancherlei Einzelzüge aus den
späteren Darstellungen mit hineinflocht.
Auf das Lob des Kleiderluxus und der Trunksucht
folgt in seinem Sittenspiegel als weitere Regel die Em-
pfehlung des Gassenlaufens und des Müssiggangs. Denn
'Gassatuni gehn vnd schlincke schlancken, Vnd liegen auff
der faule Bancken, dass gefeilet der Jugen bass\ Mit dem
Hauptmann Pigro von Faulhausen macht sie täglich Kund-
schaft und liest fleissig in dem Buche der vier Könige, so
sehr auch die Alten darüber grunzen mögen. Und nicht
minder fleissig übt sie Löffelei und Unzucht, da mit Frau
Venus zu scherzen einfach der Natur gemäss ist. Denn
'wir haben nicht alle die Gabe wie jener Keyser, welcher,
als er zu Antwerpen vber die Brück zog, vnnd jhm zu
ehren die allerschönsten Madonnen, nur mit subtilen durch-
") Sommer beschliesst seine Übersetzung mit den Versen: 'Last
die kleinen Waldvögelein sorgen, Wer weiss wer leben bleibt den
Morgen, Darumb frisch auff, was sol das Geld, Sonsten vor Nutz han
in der Welt, Wenn mans nit alle Tag im Jahr, Anlegen solt in nasse
Wahr, Der Rost möcht es sonst gar verzehrn, Solcbs wil ich jhn gar
hurtig wehrn, Wil trincken weil inirs schmecken wil, Das Alter wird
wol machen ein Ziel1.
Kawerau, Sommers Ethographia. Igt
scheinenden zindel auff die blosse Haut bekleidet, presen-
tiret worden, die Augen davon abwante vnd keine ansehen
wolte' (Bl. Eiij.). Dabei fehlt es nicht an derben Ausfällen
gegen die Papisten, denen der streitbare lutherische Pastor
bei jedem Anlass gerne mit seiner ungeschlachten Polemik
zu Leibe rückt. Den römischen Pfaffen, so meint er, fehle
auch jeije Enthaltsamkeit Kaiser Karls, denn 'bey Tage
sind sie Englisch, bey Nacht Menschlich: bey Tage Geist-
lich, bey Nacht fleischlich, bey Tage heilig vnd rein, bey
Nacht nicht gerne allein'. Zwei weitere Regeln endlich
beschäftigen sich mit den Früchten dieses modernen Welt-
lebens der faulen Brüder, denn auf Müssiggang und Ver-
schwendung folgt natürlich der Bettelstab, folgen Wucher,
Diebstahl, Lug und Trug und die immer mehr überhand-
nehmende Unredlichkeit in Handel und Wandel. Und wie
wollte man diesen Praktiken steuern? Wollte man die
8ämmtliehen unredlichen Kaufleute aufhängen, wo wollte
man genug Holz hernehmen? Er schlug damit ein Thema
an, das er später in einem besonderen Tractat sehr aus-
führlich behandelte, so dass wir hier über diese Abschnitte
rasch hinweggleiten können.
Diese wahrhaftige Beschreibung der neuen Welt hatte
einen ausserordentlichen Erfolg, der den Verfasser wie den
Verleger wohl zur Fortsetzung des Buches ermuthigen
konnte. In der Vorrede zum 'Malus Mulier', der im nächsten
Jahre erschien, berichtet Sommer, dass um das Buch ein
solches Reissen gewesen sei, dass es bald an Exemplaren
gemangelt habe; die zweite Ausgabe erschien 1609, die
dritte 1612, worauf 1614 eine vierte folgte, in der nun-
mehr vier Tractate unter dem Gesammttitel Ethographia
Mundi vereinigt waren. Und dass die beiden folgenden
rohen und salzlosen Satiren wider die bösen herrschsüch-
tigen Weiber lediglich Erzeugnisse litterarischer Speculation
sind, ist leider unverkennbar. Gab es doch in jenen gro-
bianischen Zeitläuften kaum ein dankbareres Thema, und
unser Pastor38) war bei seiner erstaunlichen Weitherzigkeit
*•) Schon in seiner Verdeutschung von Cramers Plagium findet
sich der Vera: 'Die Weiber sind wie Aprillenwetter, Unbeständig wie
Hosenblätter, Sie fürchten sich, da keine Gefahr, Dass ihnen verletzet
Ig2 Kawerau, Sommers Ethographia.
in allen Fragen des Takts und Geschmacks zu sehr ein
Kind seiner Zeit, als dass er sich diesen lohnenden Vor-
wurf hätte entgehen lassen können. Skrupellos schiebt er
ganz ausdrücklich das Geschäftsinteresse seines Verlegers
in den Vordergrund, indem er erklärt, dass dieser nach dem
günstigen Erfolge des ersten Theils gerade von dem Tractat
über die bösen Weiber ein besonders gutes Geschäft er-
hofft habe in der Erwägung, dass ihre Beschreibung 'besser
vnd warhafftiger eintrifft, als aller halbjährigen Zeitungs-
schreiber Belationes Historicae, vnd aller Sternpropheten
im nechsten hundert Jahren Publicirte Prognostica einge-
troffen haben9. Und diese Hoffnung war nur zu sehr be-
rechtigt, denn im Vorwort zum 'Imperiosus Mulier' konnte
der weiberfeindliche Pastor mit Genugthuung berichten, das«
das Malus Mulier genannte Tractätlein weit und breit in
die Lande gesegelt und fast zu einem Sprichwort gewor-
den sei.")
Schon zu Anfang des 16. Jahrhunderts war in den Sa-
tiren und Schwankbüchern das Bild der untreuen, koketten,
putz- und herrschsüchtigen Frau zu einem feststehenden
Typus ausgebildet worden und der Humanismus hatte vollends
dazu beigetragen 40), dieser tendenziös zur Schau getragenen
Geringschätzung des weiblichen Geschlechts Vorschub zu
leisten. In der Litteratur herrscht seitdem gleichmässig ein
würd ein Haar, Wo aber Gefahr mit Haufen schlägt in, Da ist kein
Furcht, sind teufelskühn, Sie schwimmen allzeit widern Strom, Wie
ihnen solches ist geboren an1 u. s. w. Johann Baumgart, Prediger an
der H. Geistkirche zu Magdeburg, sagt im Prolog seiner Komödie Das
Gericht Salomonis (Magdeburg 1561): 'Aber wie bey vns ein Sprich-
wort ist, Dass Weiber sein voll Trug vnd List: Sobald ein Weib an
d'Erden sieht, Hat sie gewis ein Lügen erdicht'. Wie gern katholische
Prediger des 17. Jahrhunderts der bissigsten weiberfeindlichen Sprich-
wörter auf der Kanzel sich bedienten, ist bekannt. Aus den Predigten
eines Franziskaners Brinzing an U. L. Frauen in Bamberg (Candela-
brum apocalypticum 1677) notirt Zingerle in der Zeitschrift f. deutsche
Philologie 24,46 ff. u. a.: 'Böse Weiber sind bissiger als die Hund'
(S. 60); 'Wo der Teufel nit kan, so schickt er ein böses Weib' (S.287);
'Böse Weiber sind arger als der Teufel' (S. 287). Über Abraham a Sancta
Clara vgl. W. Scherer, Vortrage und Aufsätze, Berlin 1874 S. 171.
") Imperiosus Mulier (1614) Bl. Aij.
") Vgl. F. y. Bezold in der Hißtor. Zeitschrift 49, 10 ff.
Kawerau, Sommers Ethographia. 183
roher, echt grobianischer Spott und eine von antiken Vor-
bildern beeinflusste lascive Erotik. Die Reformation mit
ihrem Kampf gegen den Cölibat konnte natürlich diese Ten-
denz nicht nur nicht einschränken, sondern musste sie so-
gar noch verstärken, indem fortan für katholische Scribenten
gar kein ergiebigeres Thema zu finden war, als der un-
flätigste Hohn über die Ehe der evangelischen Geistlichen.
Man darf nur an die cynischen Erörterungen über Luthers
Ehe erinnern, um die immer mehr um sich greifende sitt-
liche und ästhetische Verrohung auf diesem Gebiete zu ver-
anschaulichen. Derselbe Simon Lemnius, der 1530 als
Johann Vogelgesang maskirt in einer Komödie41) die Frauen
der Reformatoren, diejenige Melanchthons ausgenommen,
mit Schmutz überschüttete, hatte bereits ein Jahr zuvor in
seinen lateinischen Epigrammen 4a) das weibliche Geschlecht
dermassen verunglimpft, dass Luther über dieses 'Erz-
Schmäh- und Lügenbuch' aufs heftigste erbittert war.43)
Noch schärfer äusserte er sich, indem er für Schmähung
nahm, was doch nur Satire war, gegen die weiberfeindlichen
Sprichwörter in Sebastian Francks Sammlung, als er die
Gegenschrift des M. Johann Freder 'Ein Dialogus dem
Ehestand zu Ehren geschrieben' (1545) mit einer Vorrede 44)
einleitete. Als 'Stank und Teufelsdreck' bezeichnete er
hier die Bosheiten dieses 'Lästermauls', um zum Schlüsse
dem Spötter mit der ernsten Frage ans Gewissen zu greifen,
ob er denn nicht zum wenigsten, wenn er ja der heiligen
Weiber und Jungfrauen vergessen hätte, an seine eigene
Mutter oder an sein eigenes Weib dächte und sich schämte,
falls noch ein Fünklein Vernunft oder Ehre oder ein red-
licher Blutstropfen in seinem Leibe wäre. Sebastian Franck
persönlich wurde, wie gesagt, durch dieses erst nach seinem
Tode über ihn verhängte Strafgericht unverschuldet45) ge-
") 'Ein keimlich Gesprech von der Tragedia Johannis Hussen' ;
vgl. dazu G. Kawerau, Johann Agricola. Berlin 1881 S. 122 ff.
**) M. Simonis Lemnii Epigrammaton Libri III. 1538.
4I) Luthers Werke, Erl. Ausg. 64, 323. Vgl. auch seine Äusserung
in den Tischreden : Erl. Ausg. 60, 318 ff.
") Luthers Werke, Erl. Ausg. 63, 284 ff.
") Vgl. Hase, Sebastian Franck von Word. Leipzig 1869 S. 18 ff.
184 Kawerau, Sommers Ethographia.
troffen, doch sind diese zornigen Ausfälle für Luthers Stel-
lung zu den weiberfeindlichen Pamphleten so kennzeichnend,
dass sie in diesem Zusammenhange nicht wohl fehlen durften.
Dann wieder waren in Wittenberg im Jahre 1 595 unter dem
Titel 'Disputatio nova contra mulieres, quod non sint homines*
51 Thesen verbreitet worden, wogegen die dortige theolo-
gische Facultät eine besondere Warnung zu erlassen für
gut befand, ohne dass freilich dadurch dieser eigenthümliche
Scherz aus der Welt geschafft worden wäre. Denn die
gleiche Frage spukt noch im Anfange des 17. Jahrhunderts
und wurde sogar 1643 abermals in einer Schrift aufgeworfen.
An gutgemeinten Protesten wider diese grobianischen Läste-
rungen war zu keiner Zeit ein Mangel, doch konnten sie
das Behagen an derlei Cynismen und Schlüpfrigkeiten nicht
eindämmen. So hatte beispielsweise jenen Wittenberger
Thesen der Wernigeröder Pastor Andreas Schoppe 1596
eine eigene Schrift 'Corona Dignitatis Muliebris' 4S) entgegen-
gesetzt, worin er ausführte, dass sowohl nach dem Worte
Gottes wie nach dem Gesetz der Natur und um der eigenen
") Corona | Dignitatis Muliebris, | Das ist: | Frommer Frawen
vnd | Jungfrawen Ehren vnd Gewis- | sen Schildt, oder Bestätigung der
Lehre, | dass sie warhafftig Menschen,vdurch den Glau- | ben an Christum
Kinder vnd Erben der | ewigen Seligkeit sind. | Ihnen zum Trost, jhrem
vnbe- | kandten, doch Öffentlichem Lesterer | zur Widerlegung: | Ge-
stellet durch | M. Andream Schoppium, | Pfarherrn zu Wernigerode.
Jetzt auffs new fleissig corrigirt, vnd merck- | lieh gebessert ynd ver-
mehret | Im Jahr, 1604. | 73 Bl. in 4° [Fflrstl. Bibliothek zu Wernige-
rode]. Die Vorrede ist unterzeichnet: 25. März 1596. Die neue Aus-
gabe erschien vereinigt mit der Schrift: Triumfus | Muliebris. | Da-
rinnen sampt Aus- | legung des Buchs Tobiae in funfflbzig | Predigten,
alles was Christlichen Eheleuten, | vnd tugendlicher Jugend zur Lehre,
Trost vnd Warnung dienlich: | Vnd dann | Des Weiblichen Geschlechts
Dignitet | vnd Würdigkeit, in zwey vnterschiedenen Theilen | aus Gottes
Wort ordentlich vnd aus- | fuhrlich gehandelt, | Vnd in Druck ver-
fertigt | durch | M. Andream Scoppium. | Pfarrherrn zu Wernigerode.
Gedruckt zu Jehna durch Tobiam Steinman, | in Verlegung Henningi
Grossen, Buchhänd- | lers zu Leipzig, im Jahr | M.D.C.IV. | 11 BL Vor-
rede und 250 Bl. in 4*. Andreas Schoppe, geboren um 1538 zu Leben-
stedt, war seit 1589 Pfarrer in Wernigerode und starb dort am 17. April
1614. Ich verdanke diese biographischen Daten einer mir gütigst mit-
getheilten handschriftlichen Biographie Schoppe von H. Archivrath
Dr. E. Jacobs in Wernigerode.
Kawerau, Sommers Ethographia. J 85
Ehre und des eigenen Gewissens willen die Männer ver-
pflichtet seien, sich der Frauen wider ihre Verleumder,
Schmäher und Schander anzunehmen. Er erinnerte an die
Schand verse des Simon Lemnius, worauf Luther 'den schand-
losen vnd Lesterpoeten tapffer abgekeret'; er erinnerte an
Sebastian Franck und endlich an jene lästerlichen Thesen,
deren Verfasser er als gottlosen Erzbuben und rechtes
Teufelskind bezeichnete. Ihnen gegenüber wollte er auf
Grund der h. Schrift nachweisen, dass die Weiber wahr-
haftig Menschen seien, dass ferner fromme und rechtgläu-
bige Weiber am Reiche Christi Gemeinschaft haben und
dass auch ihnen die Auferstehung und ewige Seligkeit
gewiss sei. Seine Hoffnung, den unchristlichen Spötte-
reien ein Ziel zu setzen, war freilich nur gering, denn mit
Schmerz musste er zugeben, dass der Frauenschänder eine
grosse Zahl sei, darunter leider auch 'etliche flachgelehrte
Studenten, vnbesonnene Pfaffen vnd Quacksalber (Bl. Dij.).
'Aber, so fügte er hinzu, ist jemand mit solchem Verstände
vnd Beredenheit begnadet, dass er den Lesterern des weib-
lichen Geschlechts kan widersprechen, jhre Thorheit an den
Tag bringen, der ists zu thun schuldig, wie Sanct Paul
Col. 4 spricht, Ewer Rede sey allezeit lieblich und mit Saltz
gewürtzet, dass jhr wisset, wie jhr einem jeglichen ant-
worten sollet. Denn wie Saltz beisset, so mag man diq
vnnützen vnd verdriesslichen Plauderer mit Anziehung der
Warheit im ernst wol schamrot machen, vnd Narren mit
Kolben lausen, vielleicht möchte Gott den Widerspenstigen
dadurch wäre Busse geben.'
Unbekümmert um jene ernsten Mahnungen Luthers und
anderer evangelischer Theologen steuerte auch der Oster-
weddinger Pastor sein Scherflein 47) zu dieser Weiberfeind-
") Ethographiae Muodi | Pars secunda I Malus Mulier | Das ist.
Gründliche | Beschreibung. | I. Von der Regimentssucht der bösen
Weiber. | IL Von den vrsachen dess Hänsslichen Weiberkriegs. | III. Von
der Tractation der Weiber, Geheimen | Amuletis Praeservatifen vnd
Artzneyen, wie- j der die Gifftige Regierseuch der Weiber. | IV. Vnd
schliesslichen, von den vberanss vortreff- | liehen Nutzbarkeiten der
bösen Weiber. | Allen vnd jeden Männern vnd Wei- j bern zu not-
wendigen vnterricht, sehr lustig | vnd kurtzweilig beschrieben, vnd mit
186 Kawerau, Sommers Ethographia.
liehen Litteratur bei und durfte dabei natürlich des bei-
falligen Gewiehers der Grobianer gewiss sein. Malus
Mulier nannte er die Schrift, denn, so meinte er (8. 145),
'man muss das praedicatum nach dem subjeeto richten, also
dass, wo das Weib gut ist, so nimpt man auch gut Latein
darzu, vnd saget, bona mulier; Wo es aber böse ist, so
gebraucht man böse Latein vnd spricht : Malus Mulier7. Er
theilt ein Gespräch zwischen zwei Ehemännern, Simon und
Andreas, mit, die sich gegenseitig über ihre ehelichen Leiden
das Herz ausschütten. Der Name Simon ist natürlich mit
wohlberechnetem Anklang an den berühmten Siemann46)
gewählt, mit dem in dieser gesammten Litteratur das herrsch-
süchtige, das Regiment im Hause führende Weib oder auch
ihr Mann bezeichnet wird. Ausdrücklich lässt der Verfasser
den Andreas dem anderen Pantoffelhelden zum Tröste ver-
sichern, dass er eine grosse Zunft und Innung in allen
Ländern, Provinzen, Städten und Dörfern habe und dass es
wohl nur wenige Häuser gäbe, 'darinnen nicht seine Bruder
Doctor Sieman' zu finden seien. Die beiden beginnen dann
einen Discurs über die 'Regier vnd Zancksüchtigen Zöpff-
spinnen vnd Haussdrachen', um sich mit dieser lustigen
mancherlei | Fratzen vnd Schwatzen, vnd lächerlichen | Historien ge-
spickt, jtzo auffs new | Corrigiret vnd Augiret. | Durch | Johannem Olo-
rinum Variscnni. | Magdeburgk, j Im Jahr, 1614. | Gedruckt durch Joachim
Böel, in Ver- | legung Levin Braunes, Buchf. | 2 B1. und 153 S. in 8*
[Göttingen, Satirae 341].
*•) Vgl. darüber Schmeiler, Bair. Wörterbuch 2,204; Janssen, Ge-
schichte des deutschen Volkes 6,393 ff. und Fr. Spengler, Wolfgang
Schmeltzl, Wien 1883 S. 57 Aura. Sehr häufig gebrauchen den Aus-
druck Hans Sachs und Joachim Greff. In Sebastian Francks Sprich-
wörtern (1541) heisst es: 'Er ist doctor, sie meyster. Er ist meyster,
wann sie nit daheym ist. Er ist vberherret, vbermannt, vberweibt'.
Sommer citirt als Sprichwort : 'Den Sieman kan man nicht vertreiben.
Er will doch Herr im Hause bleiben*. Und in der Geldt Klage (1613)
S. 198 lässt er den Bürger klagen: in seiner Jugend habe er wohl mit
dem Grossherzog Baccho in Trankreich manchen guten Zug gethan,
'aber seidhero, weil ich ein Weib genommen, da muss ich zu Hauss
bleiben, dann mein Doctor Sieman wils nicht haben*. Simon für Sie-
mann geht wohl auf Paul Rebhuns Hochzeitsspiel auf die Hochzeit ra
Kana (1538) zurück, wo (IV, 3 und IV, 5) der Apostel Simon Ton den
übrigen Jüngern als Pantoffelheld geneckt wird.
Kawerau, Sommers Etbograpbia. f 87
Materie ihre Sorgen zu vertreiben, 'wie dann Erasmus vber
den Epistolis obscurorum virorum also gelachet, dass er ein
sorgfeltig Geschwär, welches man jhm sonst mit gefahr auf-
schlagen müssen, hat aufgelachet'. Die Ursache der Begier-
sucht der Weiber liegt, wie wir hier erfahren, zunächst in
ihrer adeligen Herkunft, denn der Mann ist aus einem un-
reinen Erdenkloss, die Frau aber aus dem reinlichen, leben-
digen Fleisch gebildet worden.49) Sie liegt ferner in ihrer
Eigenschaft als Mehrerin des Reichs, da sie das mensch-
liche Geschlecht zu erhalten berufen ist. Auch muss es
natürlich die Eitelkeit der Weiber kitzeln, wenn sie sehen,
wie im ganzen Lande die schönsten Kirchen ihre Namen
tragen : S. Eatharinen, S. Anna, S. Elisabeth u. s. w., ja
dass ganze Städte wie Marienberg und Marienburg, Anna-
berg und Annaburg, Frauenburg in Preussen und viele an-
dere nach ihnen genannt werden. 'Ja wird nicht in Sachsen
die herrliche weitberümbte Stadt an der Elbe von der Magd
genannt, dass man sie Magdeburg heisset, wie sie dann
auch dannenhero in jrem Wapen ein Weibsbild führet,
"welches vber die Mawren siebet, vnd ein Siegskräntzlein
zur erweisung jhrer Herrschaft zeiget? So wird, fügt An-
dreas hinzu, ohne allem zweiffei dir als einem Sachsen nicht
vnbekant sein, das alte vnd vielleicht allzu wahre Sprich-
wort:
Wer zu Magdeburg wil ein Bürger sein,
Der muss der Frawen gehorsam sein/
Diese Regiersucht aber ist wie eine Seuche, womit die eine
Frau die andere ansteckt, eine Behauptung, zu deren Be-
weis sich Sommer in langen Erörterungen über die An-
steckung der Seuchen im allgemeinen ergeht und dabei
*•) Dieses Argument kehrt in der Litteratur für und wider die
Frauen standig wieder. Auch der Pfarrer Gregorius Marpach führt in
seiner 'Commendatio Conivgii, Das ist, Ein schöner und herrlicher Lob-
spruch des allerheiligsten Ordens, so der Ehestand genant1 (Magdeburg,
1506) unter den fünfzehn Ursachen, 'die den Ehestand sehr rhQmlich
machen* als fünfte 'die edle Materi' an 'daraus die erste Mannes Bey-
wonerin gemacht1 worden: (Bl. Aiij •) 'Ist doch Eva, das erste Weib,
Genommen von des Mannes Leib. Sie ist nicht aus eim stein ge-
sprungen, Oder etwa aus eim plock erzwungen' u. s. w.
(88 Kawerau, Sommers Ethographia.
ungenirt ganze Stellen aus Fischarts Gargantua**) wort-
wörtlich abschreibt. Er giebt dann drastische Schilderungen
häuslicher Kriege und sucht die natürliche Bosheit der
Weiber aus drei Stücken zu beweisen: einmal aus der
h. Schrift, zum andern aus den Büchern weiser Heiden und
zum dritten endlich aus den Gedichten sinnreicher Poeten:
Anlass genug, massenhaft Citate und Anekdoten auszukramen,
wobei die Bibel, die Kirchenväter, Philosophen, Poeten und
neuere Satiriker nacheinander als Zeugen figuriren müssen.
Der Spott des Pastors ist von ungeschlachter Derbheit und
völlig witzlos. Bald bezeichnet er die Frauen als Rippen-
königinnen, bald als zweizöpfige Bettaffen, bald als Haus-
bestien, bald wieder als Mausefallen, worin der Männer
Seelen gefangen werden. Er wiederholt mit Behagen den
alten Scherz von den drei Häuten der Weiber, ja er schreibt
gar Sebastian Scheffer den rohen Witz von den neun Häuten
nach: die erste vom Stockfisch, die zweite vom Bären, die
dritte von der Gans, die vierte vom Hunde, die fünfte vom
Hasen, die sechste vom Pferde, die siebente von der Katze
und die achte vom Schwein, worauf unter dieser achten der
Mann endlich, wenn er vom Stossen und Schlagen nicht
ablasse, eine Menschenhaut finden werde. Als Moral aller
dieser erbaulichen Geschichten folgt natürlich die Mahnung:
Hut dich Gesell, vnd nim kein Weib,
Folg mir, vnd vngefreyet bleib,
Ein Weib von neun Häuten ist gebawt,
Ein Narr ist, der sich jhr vertrawt.
Im weiteren ergiesst sich unsres Satirikers Spott über
die weiblichen Moden, deren neue Muster aus derThoren-
burg und Narragonien stammen, und auch der seit Fischarts
Vorgang übliche Excurs über die Frage, weshalb die Flöhe
so gern bei den Weibern sind, fehlt nicht. Daran schliesst
sich dann eine ausführliche Anweisung, wie man böse Weiber
tractiren müsse, wobei Sommer ganze Recepte zu 'Prügel-
suppen' mittheilt und zwar unter Berufung auf das alte
Sprüchlein :
Ein Weib, ein Esel vnd ein Nuss,
Die Drey man immer schlagen muss.
•°) Neudruck S. 5.
Kawerau, Sommers Ethographia. |g9
Denn wo man sie nicht schlagen thut,
So thun sie alle Drey kein gut. sl)
Untermischt sind alle diese Ausführungen mit reichlichen
Obscönitäten und gründlich schmutzigen Anekdoten, die
aufs anschaulichste erkennen lassen, welch schrankenlose
Herrschaft der heilige Grobian über die Geister jener Tage
ausübte.
Das unerquickliche Pamphlet klingt zuletzt in ein
ironisches Lob des Nutzens des bösen Weibes aus, denn
kein Ding ist so böse, dass Gott nicht etwas Gutes dadurch
wirken und schaffen könnte. Nicht nur lehren zahlreiche
Beispiele, dass auch böse Weiber fromme Kinder gebären
können, sondern sie sind auch dem Manne dienlich, indem
sie ihm ein Gebiss anlegen und ihn durch den Zwang, im
Schweisse seines Angesichts sein Brod essen zu müssen,
bei guter Gesundheit erhalten. Eisenfresser werden durch
sie zahm, Hochmüthige demüthig, und Weltkinder fromm,
indem sie inbrünstig die siebente Bitte im Vaterunser beten
lernen: Erlöse uns von dem Übel. Wer eine böse Frau
hat, hat einen sanften Tod, denn solche Weiber schreiben
den Männern ein besseres memento mori ins Herz, als alle
Prediger es thun könnten. Und endlich bleibt den hier auf
Erden mit bösen Frauen behafteten Männern nach dem
Tode das Fegefeuer erspart, weil sie schon hier so wohl
gefegt worden, dass sie dort keines Fegens mehr bedürftig
sind.
Der dritte Theil der Ethographia Mundi schliesst sich
in Form und Inhalt aufs engste an dieses weiberfeindliche
Pamphlet an. Er ist betitelt 'Imperiosus Mulier, das
ist, das Regiersüchtige Weib953) und behandelt lang-
**) Grobianus V. 3947 ff.: 'Drey ding die muss man allzeit schlagen,
Will man dass jren eins gut bleib, Ein Nussbaum, Esel vnd ein Weib*.
") Ethographiae Mundi | Pars Tertia I Imperiosus Mulier | Das
ist, | Das Re- | giersüchtige | Weib. | Der alte vnd langwirige Streit \
vnd Krieg zwischen dess Mannes Ho- | senf vnd der Frawen Schörtze,
welchem | theil die Herrschafft vnd Regie- | rung gebühre. | Disput iret
pro & contra. | Auff der Weiber jüngstgehaltenem | Reichstag zur
Frawenburg, vnd protocolli- | ret: Itzo vom Autore selbst wider corrigi- 1
ret vnd augiret, Durch | Johann em Olorinuin Variscum. | Magdeburgk,
190 Kawerau, Sommers Ethographia.
athmig den alten Streit, ob den Hosen des Mannes oder
der Schürze der Frau das Kegierarat im Hause zukomme.
Die Sache der ersteren vertritt Hermann, dem ein Italiener
Signor Petro gelegentlich seeundirt, indem er seine Aus-
führungen durch italienische Sprichwörter zu bekräftigen
sucht; die Sache der Schürzen verficht eine von keiner
Prüderei angekränkelte Jungfrau namens Regina» Das mit
obseönen Scherzen reichlich gewürzte Gespräch bewegt sich
zunächst in etymologischen Spielereien über die Namen
virgo, femina, uxor auf der einen, vir, dominus u. s. w. auf
der andren Seite; dann wieder überbieten sich beide Tbeile
in spitzfindigen oder frivolen Auslegungen von Worten der
h. Schrift und lassen endlich Theologen, Philosophen, Ärzte
und Dichter für und wider Zeugniss ablegen, wodurch dem
Autor Gelegenheit geboten ist nochmals seinen ganzen
Anekdotenvorrath an den Mann zu bringen. Das meiste
sind Wiederholungen oder Variationen des schon in dem
früheren Tractat Gesagten und nur ein neues Argument
tritt in die Discussion durch Reginas Hinweis auf die ge-
lehrten Frauen, von denen sie Rosvitha, 'welche Verasweiss
die Thaten Kaysers Ottonis I besebriben', und die Olympia
Fulvia Morata53), 'die da in Griechischer vnd Lateinischer
Sprach so berühmet gewesen, dass sie dieselbe andern ge-
lesen hat', namentlich anführt. Der ungalante Hermann
jedoch beharrt auch den Schriftstellerinnen gegenüber in
seiner Misogynrolle, ganz im Geiste einer Zeit, deren Litte-
ratur an ein weibliches Publikum nicht einmal dachte und
in der die Männer der Feder den armen Blaustrümpfen und
geistig strebsamen Frauenzimmern gerne mit grobkörniger
Satire und saftigem Witz zu Leibe rückten. *4) Wie spater
Joachim Rachel jede weibliche Lyrik für sapphische Un-
zucht erklärte, so meint auch er, dass aus der Beschäftigung
der Frauen mit den freien Künsten nur Frechheit und Geil-
Im Jahr, 1614. | Gedruckt durch Andreas Betzel, in Ver- | legung Leyio
Braunes, Buchf. | 136 Bl. in 8° [Göttingen, Satirae 341].
**) Geb. 1526 zu Ferrara, Gattin des deutschen Arztes Andrea*
Grundier, starb 26. October 1556 zu Heidelberg. Vgl. Goedeke, Grnnd-
riss « 2f 120.
•*) Vgl. E. Schmidt Charakteristiken S. 86 ff.
Kaweran, Sommers Ethographia. 19t
heit entstehe, wofür er sich auf Juvenal und Euripides be-
ruft, um schliesslich seine Gegnerin mit dem Verslein ab-
zutrumpfen :
Den Weisen Weibern bin ich feind,
Wenn sie gar zu Klug vnd Giert seind.
In meinem Hauss ichs nicht leiden kan,
Dass das Weib Kluger sey als der Mann.
Der Ausgang des Streits bleibt unentschieden. Zwar glaubt
der Mann den Siegeskranz errungen zu haben, aber das
letzte Wort behält doch die Frau, die im Namen ihrer
Schwestern versichert, dass sie nicht weichen, sondern nach
der Herrschaft streben wollen, so lange sie leben.
Wie der zweite und dritte Theil des. Buches ein Ganzes
bilden, so schliesst sich die vierte Schrift inhaltlich an die
erste an, da durch sie das dort gezeichnete satirische Sitten-
bild vielfach in interessanter Weise ergänzt wird. Zunächst
war als vierter Theil des Gesammtwerks ein andres Schrift-
chen unter dem Titel 'Ratgeber zum Freien' 55) ausgegeben
worden, das jedoch der Verfasser im Vorwort zur Geldklage
ausdrücklich verleugnete. 'Solches Büchlein, so heisst es
hier, ist des Herrn Melchioris Junij Oratoris zu Strassburgk,
vnd wol wirdig zu lesen, welches hernach Johannes Olorinus,
weil es im Römischen Rock vielen, so au ff Frey ers Füssen
gehen, vnbekand war, in einem Teutschen Kleid den Bulern
guter meinung fürgestellet hat1 Wie es scheint, war ihm
die unbefugte Übersetzung von dem Strassburger Autor sehr
verübelt worden, so dass er sie zurückzog und an ihre Stelle
die 'Geldklage'5*) setzte. Denn, so fahrt er fort, es solle
") Der Titel bei Goedeke, Grundriss * 2, 584.
*•) Ethographiae Mundi | Pars Quarta. | Geldt-Klage, | Das ist: |
Gründliche Beschreibung der | Altnewen Klag vnd Plag, woher es |
doch komme, das sonderlich zu vnsern, vnd mehr | als zn vorigen zeiten,
des Hohen vnd Niderstand 8 Personen | fast in aller Welt, bevorauss
aber in Teutzschlandt vber das | Fieber im Beutel gewinselt vnnd ge-
klaget werde, vnnd wie | vnd durch was mittel dasselbe möge ver-
trieben | werden. Durch | Johannem Olorinnm Variscum. | Concordia
res parvae crescunt. | Alles lnstig, Warhafftig vnd nützlich auss vielen
be- | werten, Geistlichen vnd Weltlichen Scri beuten mit grossem |
fleiss menniglich zum nötigen vnterricht verfasset, vnd | fleissig corre-
giret zum andern mahl | auffgeleget. | Magdeburgk, Bey Levin Brauns»,
Buchfüh- | rer zum Gülden Hörn. | 12 Bl. und 572 S. in 8° [Göttingen,
192 Kawerau, Sommers Ethographia.
'der Grossgünstige Leser wissen, das diss Tractatlein vom
Geltmangel der rechte vier de Theil der Ethographiae
Mundi sey, welchen Herr Levin ßraunss auff seine Vnkosten
hat drucken lassen7.
Titel und Inhalt der umfangreichen Schrift erinnern an
einen Tractat Johann Eberlins von Günzburg, worin
dieser liebenswürdige christlich sociale Yolksprediger wäh-
rend der Sturm- und Drangjahre der Reformation das gleiche
Thema in seiner frischen volkstümlichen Weise behandelt
hatte. 'Mich wundert, dass kein Geld im Land ist, ein schimpf-
lich doch unschädlich Gespräch dreier Landfahrer', so lautet
der Titel des 1524 erschienenen Büchleins57), das noch 1565
abermals gedruckt wurde und dem Pastor zu Osterweddingen
ohne Zweifel bekannt war. Denn ihm entnahm er in seiner
Geldklage nicht nur die Form des Gesprächs, sondern auch
mancherlei Argumente für die Ursachen der Geldnoth. Wie
Eberlin den groben Schwaben Hans Schielin als Botenläufer
einführt, der in dieser Eigenschaft mancherlei im Lande ge-
sehen und gehört hat, so Sommer einen Pilgrim, der als
weitgereister Mann den unerfahrenen Bürger über den Lauf
der Welt unterrichten muss. Und damals wie jetzt war zu
den Klagen über den zunehmenden Geldmangel Grund ge-
nug vorhanden. Allerdings hatte sich das Geld um das
Jahr 1524 nicht vermindert, sondern vielmehr wesentlich
vermehrt, aber Hand in Hand damit ging eine rapide Geld-
entwertung und Preissteigerung.58) Ganz ähnlich lagen
die Verhältnisse an der Schwelle des 1 7. Jahrhunderts. 'Es
hat zwar', so lässt Olorinus (S. 12) seinen Pilgrim sagen,
'auch Teutschland Gold vnd Silber Berge durch Gottes
Segen, ich kan aber nit wissen, wie es komme, dass Teutsch-
land von Tag zu Tag ärmer wird, vnd die guten Reichs-
thaler aus dem Lande geführet, vnd allerley geringe Müntze
dagegen eingeschoben werden.' Denn schon begann das
Satirae 341]. Gewidmet ist die Schrift unterm 20. December 1613 dem
Herrn Levin Ludolph v. d. Schulenburg.
*7) Vgl* ML Radlkofer, Johann Eberlin von GQnzburg. Nördlingen
1887 S. 151 f.
•■) Vgl. Schmoller in der Zeitschrift für die gesammte Staat«-
Wissenschaft 16,506 f.
Kaweraa, Sommers Ethographia. 193
unheimliche Treiben der Kipper und Wipper und wie ein
Alpdruck lastete die plötzliche Entwerthung des Geldes auf
den Gemüthern; überall wurden, so schildert Gustav Frey-
tag59) die Stimmung dieser Zeit, die gehässigsten Leiden-
schaften aufgewühlt, Unfrieden in den Familien, Hass und
Empörung zwischen Gläubiger und Schuldner gestiftet; das
Ende waren Hunger, Armuth, Bettelhaftigkeit und Ent-
sittlichung. /
Sommer erörtert nicht weniger als neunzehn Gründe
für die wirtschaftlichen und socialen Nöthe jener Zeit-
läufte. Alle Stände tragen in gleicher Weise Schuld daran
durch den immer mehr überhandnehmenden Hang zu Luxus
und Wohlleben, durch das Schlemmen, Saufen und Spielen,
durch Faulheit und Lüderlichkeit. Das letzte Heil sieht er
allenthalben in der Staatshülfe: strenge Gesetze und Strafen
sollen den Luxus eindämmen; er fordert obrigkeitliche Vor-
schriften für Tracht und Gastereien ; der Müßiggänger soll
durch den Büttel zur Arbeit angehalten werden ; der Bettler,
Juden und Jesuiten soll sich der Staat durch Ausweisung
entledigen. Von einer erziehlichen Einwirkung geistiger
Factoren ist nirgends die Rede und man kann aus dem
ganzen Tone seiner Strafpredigt mit erschreckender Deut-
lichkeit erkennen, wie weit derzeit die evangelische Kirche
noch davon entfernt war als lebendige Culturmacht im
Volksleben wirksam zu sein.
Als erste Ursache des Geldmangels bezeichnet Sommer
den Luxus der grossen Herrn, wobei er den Reisenden um-
ständlich von zahlreichen Hoffesten und dem dabei ge-
triebenen Aufwand berichten lässt. Ein zweiter Grund sind
die Unsummen verschlingenden Festungsbauten, der dritte
ist der grossmäulige Blutgott Mars, der das Gold mitsammt
Mann und Gaul auffrisst. Wie viel besser wäre es, wenn
die grossen Herrn die Schätze (so sie dem Marti auffge-
opffert, dem Apolloni vnd den Musis consecriret vnd sonsten
ad pias causas angewendet9 hätten! Denn ein Krieg ohne
guten Vorrath an Geld erstickt ohne Athem und schafft
viel Seufzen; Geld ist des Krieges Hauptader und wo diese
*•) Bilder ans der deutschen Vergangenheit " 3, 150.
Vierteljahrschrift für Litteratmgeschichte V 13
194 Kawerao, Sommers Ethographia.
verblutet, da fliegt keine Fahne mehr und kräht kein Hahn
mehr auf dem Zelte. Nun aber sitzt durch die ewigen
Kriege das liebe Vaterland in einem Schweissbade, darin
noch die Nachkommen viele Jahre hindurch werden sitzen
und schwitzen müssen. Doch nicht nur Mars sondern auch
Bacchus frisst mit Macht Hab und Gut und fuhrt einen
Krieg, in dem noch weit mehr Leute als durch das Schwert
erwürget werden. 'Gehet nur in die Schencken vnd sehet
etliche wenig Stunden zu, wie des Bachi Soldaten mit den
Silbernen, Zinnernen, Höltzernen Gläsern vnd Thönerm
Geschütz einander schiessen, das sie für Todt auff der
Wallstadt liegen bleiben.
Denn beim Trunck gehts wie in der Schlacht,
Zum Sauffstreit wird man bald gebracht9 . . .
Und solche Schlacht kommt nicht nur einmal auf etliche
Jahre, sondern alle Jahr, alle Monat, alle Woche, ja alle
Tage und nicht allein in einem Lande sondern an fast allen
Orten, sonderlich in Deutschland. Abgesehen von den
Kannenkriegen auf Hochzeiten und Kindtaufen hat man
leider so viel Gastereien erdacht, dass man sie gar nicht alle
beschreiben kann. Weder Weihnachten noch Ostern, weder
Pfingsten noch Himmelfahrt können christlich gefeiert wer-
den, man muss dem Bacchus dabei dienen und diesen Götzen-
dienst mit nasser Andacht begehen. Neben diesen hohen
Festen sind die60) 'Special Frass vnd Quassfest, da gibt
man die Erndte Ganss, den Herbstmost, die Lerchenstreng,
das Weimahl, den Willkommen, das Yalete, den Liecbts-
braten, das Straffmahl, das Kindbetmahl, da verschencket
man den Namen vnd löset sich, da beschencket man newe
Stuben, da hält man ein Kräntzel Convivium, da hat man
ein Schützenmal, da feyret man die nasse Fassnacht, da
helt man S. Urbano vnd S. Martino ein Sauffest, ja es
können auch die Verstorbenen nach jhrem Todt des Bachi
macht nicht ehe sich entledigen, biss die vberbleibenden
Erben, Freunde vnd nechste Nachbarn das Requiem aus
Kannen vnd Gläsern singen, das jhnen der Gersten vnd
80) Vgl. das ganz ähnliche Register in Fischarts Gargantua, Neu-
druck S. 74.
Kawerau, Sommers Ethographia. 195
Rebensafft zum Augen heraus thut dringen, vnd also die
Seelmess vollbringen. Was sol ich sagen von Herren-
mahlen, so bey newen Amptsbestallungen geschehen? Dess-
gleichen vom Magistermahl, vom Doctorat, von Depositio-
nibns, vom Introitu der Studenten vnd Stubenbencken, vom
Antritt an einen Newen Tisch, von Bürgerzechen, von Abend
vnd Nachtzechen, vnd von allen frischen Studenten, die da
gern im nassen leben wie die Endten, vnd beym guten
Trnnck, mit den schönen Jungfräwlein thun ein Sprung,
vnd damit jnen die zeit nicht werde lang, singen einen
schönen Gesang?'61) Denn leider ist bei uns Deutschen
das Saufen so tief eingewurzelt, dass es kein Mensch wird
abbringen können. Es mangelt zwar nicht an treuherzigen
Vermahnungen, aber da ist niemand, der folgen will.
Eine weitere Ursache der herrschenden Finanznoth ist
die römische Klerisei: 'Der Bapst zu Rom der Antichrist
Yiel Tonnen Golds Jährlich aufffrisst, Der Jesuit vnd Car-
dinal Machen der Leyen Beutel schmal'. Denn die päpsti-
schen Pfaffen 'können nicht glauben, wo ihre Hände nichts
haben zu klauben'. Sein gröbstes Geschütz fahrt der luthe-
rische Pastor gegen die Jesuiten auf, die auch seiner Mei-
nung nach unter den Heuschrecken in der Offenbarung
Johannis zu verstehen sind. Denn wie die Heuschrecken,
wo sie sich niederlassen, alles wegfressen, so auch das
höllische Geschmeiss der Jesuiten; auch sie fliegen von
einem Land in das andere, fressen die besten Güter auf und
schonen dabei weder der Katholischen noch der Lutherischen.
Ihnen schliesst sich das fahrende Gesindel der Goldmacher
und Alchimisten an, ein betrügerisches Heer, das aus ver-
laufenen Mönchen, bankerotten Kaufleuten, verdorbenen
Goldschmieden und anderen derartigen Gesellen sich re-
crutirt und die Welt mit seinen schlimmen Bubenstücken
zum Narren hält.82) Noch zorniger fahrt er über die Ad-
el) Er citirt u. a. S. 205 'das Epicurische Sauffliedlein : Meum est
propo8itum in taberna mori'.
") Virgilius von Salzburg sagt in seiner Schrift 'Die phantastische
Alcbemie' (1518): 'Acht Stück volgen der Alchamei: Rauch, Aschen,
vil Wort untrew, Erseufrzen vnd schwere Arbeit, Onwird, Armut vnd
Noturffcikeit: Wiltu der Dinger sein frey, So hüt dich vor der Alcha-
13*
196 Kawerau, Sommers Ethographia.
vocaten oder, wie sie Fischart richtiger genannt hatte, Schad-
vocaten her, die er schon im ersten Theil seines Welt-
spiegels unsanft gezaust hatte. Gerade wie Murner in der
Schelmenzunft63) und Narrenbeschwörung hatte er dort
über die zanksüchtigen Streitkopfe gehöhnt, die das Recht
so spitzig zu biegen wissen64); denn das Recht hat leider
Gottes eine wächserne Nase, die man drehen kann wie man
will, und ist eine Zauberruthe, damit man den Leuten das
Geld aus den Beuteln zaubert und sie um Haus und Hof.
um Hab und Gut bringt. Den Reichen macht es arm, den
Fröhlichen betrübt, den Freien eigen, den Friedsamen un-
ruhig, den Unruhigen verachtet, den Verachteten verzweifelt.
'Ist der Advocat listig vnd wacker, so darf er seinen dienten
wol bringen vmb seinen Acker.7 Juristen sind böse Christen.
d. h. just so fromm wie Reineke Fuchs; durch ihr Zuthun
wird jeder Process so weitläufig und verworren, das» der
Kläger kaum in zehn und mehr Jahren in einer Instanz
zum Beschluss der Sache kommen und das Urtheil erlangen
kann. Zum Beweise dessen giebt Sommer eine ausführliche
Darlegung des Processganges und rechnet aus, dass 'wann
man alle Termin vnd deroselben prorogationes zusammen-
rechnet' sich die Zeit zum mindesten 'auff 429 Wochen vnd
also auff 8 gantze Jahr vnd 13 Wochen belauften thut'. Er
wiederholt deshalb das alte Sprichwort: ein magerer Ver-
gleich in Güte sei besser als ein feister mit Recht, und fugt
hinzu, die Egypter seien mit zehn Plagen geschlagen wor-
den, die armen Rechtsführer aber mit zehntausend, da sie
mei.' Sommer widmet den Alchimisten das Verslein: 'Goldmacher vnd
die Alchimisten Bey Fürsten vnd Herren sehr einnisten, Bey Edel vnd
Vnedel anch, Machen für Gold ein schmauch vnd Ranch/
") Kapit. 2: 'Ein loch durch Brief reden'. Ebenso lautet die
Überschrift des 21. Kapitels der Narrenbeschwörung. Vgl. auch W. Ka-
werau, Th. Murner und die Kirche des Mittelalters. Halle 1890 S. 13 f.
•*) Ebenso Imperiosus Mulier Bl. Dv*: 'Das Recht were wol gut,
wenns nit linckisch gebogen vnd krum gemacht würde*. Der Magde-
burger Dom prediger Siegfried Sack schreibt in der 'Erkleruiig Vber
die Soiitage Evangelia' (Magdeburg 1595) Bl. 41 : 'Wer nur eine Hand-
uol gunst hat, der kümpt weiter, als wann ein Armer einen Wispel
voll Rechts hette, so hat das Recht eine wechserne Nasen, vnd wird
oftmals dahin gebeuget, dahin es nicht gehöret*.
Kawerau, Sommers Ethographia. 197
über allen Plagen noch dazu ihre Seelen in den Kanzleien
begraben müssten und doch das Out, darum sie rechten,
nicht erlangen können.
Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit dem Klei-
derluxus und den welschen Modenarrheiten, wobei Sommer
im wesentlichen nur das wiederholt, was er schon in seiner
Beschreibung der neuen Welt ausgeführt hatte. Unter den
zahlreichen Anekdoten, die er mittheilt, fehlt natürlich auch
die von Karl dem Grossen nicht, der einst auf einem Jagd-
zuge seine prächtig gekleideten Höflinge durch dorniges
Dickicht geführt und sie dadurch weidlich beschämt habe.
Doch nicht nur der Luxus in der Tracht sondern auch der
in Wohnung und Geräth getriebene Aufwand bringt so viele
an den Bettelstab; immer prächtigere Häuser werden ge-
baut, besonders in den grossen Handelsstädten, und im
Innern der Wohnungen macht sich ein so raffinirter Luxus
breit, dass kein Fürst sich schämen dürfte darin Quartier
zu nehmen. Dementsprechend muss dann auch die ganze
Lebensführung gestaltet werden. Immer üppiger werden
die Gastereien, immer übertriebener die Anforderungen an
die Geselligkeit. Am schlimmsten ists bei den Hochzeiten,
wo in Kleidung, Geschenken und Banketten ein Aufwand
getrieben werden muss, durch den manche junge Ehe gleich
von vornherein wirtschaftlich ruinirt wird. Davon zeugen
dann die stummen Kleider, die nach den Flitterwochen auf
den Trödelmärkten flattern und von einem Herrn zum an-
dern wandern. Dazu kommt ferner die masslose Spielwuth,
denn: 'Die Kärtlein vnd das Würffeispiel Des Geldes Jähr-
lich wegnimmt viel. Die vier Könige han grosse macht,
Haben jhr viel umbs Erbtheil bracht'. Und je grösser die
Genussucht, desto grösser der Müssiggang. Immer statt-
licher wird das Heer der zweibeinigen müssigen Brotmäuse
und Jung-Narren von Faulhausen, die dann schliesslich als
Ritter zu Armenhausen und Erbsessen auf Nirgendheim
endigen. Wollte Gott, dass die Obrigkeiten solche Zecher
und Prasser, die nur zum Fressen und Saufen geboren zu
sein scheinen, als inutilia pondera terrae aus dem Lande
jagten, damit diesem Laster wenigstens einigermassen ge-
wehrt werde!
198 Kawerau, Sommers Ethographia.
Mit besonderer Ausführlichkeit behandelt Sommer den
Kaufmannsstand, denn mehr als je zuvor hat der Handel
überhand genommen, da fast jeder, der ein wenig baar Geld
in der Hand hat, damit Handelsgeschäfte anfangt. Es iat
denn auch der Handel allmählich so gemein geworden, dass
in grossen Städten Haus bei Haus ein Kaufhaus ist. Dabei
steigen die Waaren täglich im Preise; die Unredlichkeit
wird immer grösser; der alte, solide Handel ist allgemach
von den Schwindelgeschäften fast völlig verdrängt worden.
Heftig poltert der Pastor bei diesem Anlaes insbesondere
gegen die Juden, die ein so schädlich Volk seien mit
Wuchern, Lügen und Trügen, mit Kaufen und Verkaufen.
dass es mit keiner menschlichen Zunge auszusprechen sei.
Mit wahrem Ingrimm ruft er über die verfluchten, hals-
starrigen Juden sein Wehe aus; er schimpft sie reissende
Wölfe, Erzdiebe, Erzschelme und ausbündige Heuchler; er
jammert über ihren verfluchten Wucher und ihre Münz-
Verfälschungen und ist überzeugt, dass diese vorsätzlichen
Bankerottirer zu allen ehrlichen Ämtern und Sachen un-
tauglich sind. Er preist denn auch die Weisheit der Fürsten,
die sie aus ihren Landen verjagt haben und wünscht in-
brünstig, dass dieses löbliche Beispiel allenthalben befolgt
werde. Doch muss er allerdings zugeben, dass leider die
Praktiken mancher christlichen Kaufleute denen der jüdi-
schen so ähnlich sehen, wie ein Ei dem andern und dass
vor allem auch sie des verfluchten Wuchers sich schuldig
machen, so zwar, dass ihr Wucher 'den Jüdischen nicht
sehr vngleich; wolte Gott, dass es etliche nicht gröber
machten9. Die Frage des Zinsennehmens an sich bleibt
freilich streitig, obwohl Sommer persönlich der schroffen
Auffassung Luthers zuneigt; jedenfalls aber ist ihm das
nicht zweifelhaft, dass das eigentliche Leihen, d. h. da, wo
es einem wirklich Bedrängten zu helfen gilt, unbedingt um-
sonst geschehen müsse, da in diesem Falle jedes Zinsen-
nehmen eine schwere Sünde sei. Wer aber ist noch heu-
tiges Tages, so fragt er bekümmert, der den armen Leuten
ohne Wucherzinsen etwas leihen will? Ists nicht also, dass
wenn einer dem andern nur einen Thaler auf etliche Tage
leiht, er alsbald Zinsen davon haben will? Wie kann da
Kawerau, Sommers Ethographia. 199
der arme Mann fortkommen? Ermuss ein Bettler bleiben,
daher denn Deutschland augenblicklich voll von Bettlern
ist. 'Zu vnser zeit der Bettel Orden Ist gar ein zunfft vnd
Handwerck worden. Sie lauffen Stadt vnd Dörffer aus,
Saugen Bürger vnd Bawren aus.7 Mit der Unredlichkeit in
Handel und Wandel hängt aufs engste die ungesunde Spe-
culationswuth zusammen, die sich besonders auf die Berg-
werke geworfen hat. Denn 'mancher bawet so viel vnd
lange Jahr die Kux, das er alle das seine, Hauss, Hoff,
Acker, Yieh, Gelt vnd Gut drein stecket, vnd so lange
hoffet, dass er drüber das Sprichwort erfüllet: Hoffen vnd
Harren macht manchen zum Narren, vnd gucket so lang in
die Schacht vnd Zech, dass er wol beyde Augen in seinem
Hauss aussgucket, ehe er einen Thaler ergucken vnd an-
blicken möchte5.
Im letzten Abschnitt endlich wendet sich Sommer zum
Bauernstande, der einmal wegen der immer unerträglicher
werdenden Frohnden und Lasten, zum andern aber auch
wegen seiner eigenen Üppigkeit und Faulheit auf keinen
grünen Zweig kommen kann. Sein Ruf ist nicht eben der
feinste, ja in den Städten ist heutiges Tages nichts verächt-
licher65) als die Bauern, die man nur die groben Bauern,
ungehobelte Rültze und 'Knodasten' nennt, und wer sie nur
vexiren und ihrer spotten kann, der thut es williger als
willig und achtet solches einen Ruhm zu sein. Zum Theil
haben sie, wie gesagt, diesen üblen Leumund selbst ver-
schuldet, denn einmal wollen sie heute Junker sein und
haben die faule Seuche am Halse, so dass sie alle Arbeit
durch fremde Hände machen lassen und es für Schande
halten selbst den Pflug oder die Sichel in die Hand zu
nehmen. Zum andern wollen sie, sonderlich in Sachsen,
immer toll und voll sein, liegen die meiste Zeit im Bier-
haus, spielen und doppeln, da dann der Wirth kleine Kannen
giebt, kaum halb einschenkt und die Kreide nicht vergisst,
so dass mancher Bauer in einem Jahre dreissig, vierzig und
mehr Thaler in der Dorfschenke verdestillirt, ganz abge-
•*) Vgl. F. v. Bezold, Die 'armen Leute' und die deutsche Litte-
ratur des späteren Mittelalter« in der Historischen Zeitschrift 41 (1879), 1 f.
200 Kawerau, Sommers Ethographia.
sehen von dem, was er mit den Seinen in der Ernte oder
bei sonstigen Anlässen in seinem Hanse zn vertrinken pflegt
Denn die Bauern sind inwendig gefuttert, saufen Tag und
Nacht und können dennoch nicht gesättigt werden. Doch
weit schlimmer noch als diese ihre eigenen Sünden, sind
diejenigen, die an ihnen begangen werden. Immer uner-
träglicher werden die Schindereien und Plackereien, die sie
von ihren Gutsherrn und bestechlichen Behörden erdulden
müssen ; immer höher werden die Pachten hinaufgeschraubt
und es ist Sünde und Schande, wie ihnen die grossen
Herren bei ihren Jagden kaltblütig die Saaten niederreiten
und die Felder verwüsten.
Das Gesammtbild, das der Osterweddinger Pfarrer in
dieser Geldklage von den socialen Zuständen seiner Zeit
entwirft, ist wenig erfreulich, und wenn wir auch mancher-
lei Verallgemeinerungen und satirische Übertreibungen da-
von werden abziehen müssen, so bleibt doch das Bild immer
noch trübe genug und lässt uns nur zu deutlich erkennen,
dass Deutschland schon innerlich erkrankt in den grossen
Krieg der dreissig Jahre hineinging. Noch waren die chao-
tischen Zustände auf der Grenze von Mittelalter und Neu-
zeit keineswegs überwunden und fehlte es auch nicht an
gesunden, energisch vorwärts drängenden Kräften, so fanden
sich diese doch allenthalben gehemmt und gelähmt, so dass
die Ansätze einer frischeren Entwicklung nur zu rasch
wieder verkümmerten. Selbst manche Erscheinung, die wir
heute als nothwendige Bedingung des Fortschritts historisch
begreifen und würdigen, erschien den Zeitgenossen leicht
als Hemmni8s und Schädigung. Gerade auf den Gemüthern
der Tüchtigsten lastete der durch das Bewusstsein der po-
litischen Ohnmacht erzeugte Druck, und wie dem Staats-
leben ein grosses gemeinsames Wollen mangelte, so der
Kirche ein idealer Zug und Schwung und das lebendige
Interesse und Yerständniss für die ihr anvertrauten grossen
sittlichen Aufgaben. Eben hierfür ist ein Mann wie unser
Olorinus ein lehrreiches Beispiel. Was den mitten im
Volksleben stehenden Landgeistlichen zu seinen satirischen
Sittenbildern und Strafpredigten treibt, ist doch in erster
Linie ein rein litterarisches Interesse, nicht aber eine sitt-
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 201
liehe Nöthigung, und während er auf der einen Seite wider
die sittliche Verwilderung seiner Zeit poltert und eifert, ist
er gleichzeitig imstande, selbst in plumpen, auf die rohe
Lachlust der Menge berechneten weiberfeindlichen Satiren
sich als Grobianer aufzuspielen und sein Publikum mit or-
dinären Eneipwitzen zu belustigen.
Magdeburg. Waldemar Kawerau.
Untersuchungen Aber
Wielands Komische Erzählungen.
(Schluss zu Bd. 4 S. 439.)
Die Komik.
Plauderton.
Im vorigen Bande dieser Zeitschrift suchte ich zu zei-
gen, in wie auffallender Weise der Stil der Komischen Er-
zählungen Wielands von dem Stile des Erzählers abweicht.
Es steht damit in unverkennbarem Zusammenhange, dass
auch die Erzählungsmanier nicht die gewöhnliche ist; wir
haben es nemlich nicht mit stilstrenger Erzählung, wir haben
es vielmehr mit Plauderei zu thun. Denn viel öfter als
wir das sonst gewöhnt sind (leider gewöhnt sind!), mischt
sich hier der Dichter selbst in die Erzählung ein und wen-
det sich mit kürzeren oder längeren Bemerkungen an die
Leser. — Ich will die Erscheinung für jede einzelne Er-
zählung der Reihe nach besonders besprechen und beginne
mit dem Urtheil des Paris.
Es besagt wenig, wenn da und dort von 'unserem' Hirten
die Bede ist; prägnanter ist es schon, wenn es heisst:
V. 121 wird viel erzählt, vielleicht auch viel erdacht
oder 139 f. fallt Mercur sehr weislich ein.
Wieland begleitet die Erzählung oft mit kurzen Zusätzen
aus eigenem oder er zieht wohl auch den Leser durch eine
Apostrophe mit herein.
V. 75 — — sie lärmten dir, dass es ein Elend war.
114 Und komt, wie Sancho sagt, dabey doch immer weiter;
126 Man weiss, dass Götter nicht wie Deputierte reisen.
Ferner: 111 f. 367 f. 391. 531 ff. 573 f. 597. 854 f. 860 f.
202 Sittenberger, Ober Wielands Komische Erzählungen.
Gerne hält Wieland nach einem Abschnitte der Erzäh-
lung inne und reflectirt dann in einem subjectiven Ergn»
über das Geschehene, wobei er oft Seitenblicke anf moderne
Verhältnisse wirft. Ansätze zu solchen Reflexionen finden
sich schon in den angeführten Stellen V. 573 f. und 860 f.
In breiterer Weise geschieht dies in V. 321—363. 575—586.
623 — 639. Auch die Einleitung der eigentlichen Erzählung
gehört hierher. Man mag ausserdem noch den einleitenden
Brief heranziehen; doch ist derselbe schon äusserlich von
der Erzählung getrennt. In den späteren Ausgaben aller-
dings wurde derselbe mit der Erzählung verschmolzen, und
in der Ausgabe von 1795 ist sogar die Aufschrift wegge-
lassen.
Zu beachten ist hiebei, dass diese subjectiven Einmischun-
gen nicht als völlig fremdes Element in der Erzählung stehen.
Die kurzen Zusätze sind ja ohnedies schon syntaktisch meist
enge mit ihr verbunden; aber auch die längeren Ein-
mischungen berühren sich mit ihr, indem sie über die er-
zählten Begebenheiten reflectiren oder eine Parallele, wohl
auch einen Contrast dazu aufstellen. Manchmal aber wird
in ihnen sogar dies oder jenes aus der Erzählung weiter-
geführt oder nachgetragen. Immerhin stehen sie doch nur
in einem recht losen Zusammenhange mit der Erzählung
und könnten zum grössten Theile weggelassen werden, ohne
dass dadurch das Yerständniss gefährdet würde.
Im Urtheil des Paris haben wir also wohl bemerkens-
werte Ansätze zum Plauderton; ausgebildet erscheint der-
selbe jedoch keineswegs.
In der zweiten Erzählung, Diana und Endymion,
tritt er deutlicher hervor. Nicht nur, dass sich der Zahl
und dem Yerhältniss nach viel mehr subjective Ein-
mischungen vorfinden, sie dringen auch viel tiefer in die
Erzählung selbst ein; und das fallt ganz besonders ins Ge-
wicht
Wie im Urtheil des Paris von 'unserem' Hirten, ist
hier auch von 'unserem' Schäfer die Bede ; ein 'genug' oder
'kurz' schliesst langathmige Vordersätze, um das Ende des
Satzgebildes einzuleiten; gelegentlich erinnert ein 'wie ge-
sagt' oder 'wie wir wissen' an Vorausgegangenes.
Sitteüberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 203
Häufig finden sich auch kleine subjective Zusätze:
vgl. V. 105. 170. 400 f. 448. 617. 650. Oder es werden
auch ganz kurze Sentenzen eingeflochten:
V. 109 f. Dem Glück in dieser Unterwelt
Hat stets Beständigkeit gefehlt.
Ferner V. 115 f. 300 f.
Die Manier, die Erzählung an einzelnen Stellen zu
unterbrechen und dabei über das Erzählte zu reflectiren,
zu moralisiren, eine Parallele oder einen Contrast zu geben,
findet sich im Endymion genau so wie im Urtheil des
Paris, nur häufiger. Man vergleiche V. 60—83. 124—127.
334—342. 437—443. 450—457, ein Excurs, der auch äusser-
lich — durch V. 458 ff. — mit der Erzählung zusammen-
hängt. 489—497. 590—594.
Y. 343—369 ist völlig ohne Bezug zur Erzählung, mit
der dieser Excurs auch innerlich nur ganz lose zusammen-
hängt.
Manchmal geht der Dichter jedoch über die blosse Re-
flexion hinaus und mischt sich direct in die Erzählung ein.
Er macht sich z. B. gleichsam zum Augenzeugen der Er-
eignisse und spricht die handelnden Personen selbst an:
V. 330—334 Wo, Göttin, bleibt dein Stolz, die Sprödigkeit? u.s.w.
Man vergleiche noch V. 588 f.
Ein andermal giebt er sich den Schein eines Zuschauers,
der nach dem Vorausgegangenen das Kommende vermuthet;
diese Yermuthung ersetzt die Erzählung, z. B.
V. 472 — 474 Diana muss sich sicher wissen,
Und wird ein bisschen Feerey
Zu brauchen sich entschliessen müssen.
An anderen Stellen sucht Wieland den Glauben zu er-
wecken, als ob er die erzählten Begebenheiten mit grösster
Gewissenhaftigkeit auf ihre historische Treue prüfe, und
sagt gelegentlich seine Meinung über die Zuverlässigkeit dieses
oder jenes Details. So z. B. V. 22—30. 36—38. 117—123.
319—325. In Y. 380—390 soll auch der Schein pedan-
tischer Gewissenhaftigkeit erweckt werden.
Manchmal appellirt der Dichter an die Einbildungs-
kraft der Leser.
204 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
V. 145 f. Man rathet leicht, in welche Wuth
Der Nymphen Fall sie setzen musste;
Ferner vgl. V. 172 f.
An einer Stelle, V. 540—566 1), lässt sich Wieland mit
dem Leser oder Zuhörer völlig in ein Gespräch ein, und
bringt im Rahmen desselben Züge der Erzählung. Das ist
jedesfalls am stärksten charakteristisch. Weniger bezeich-
nend sind die Stellen Y. 370 ff. 628—631.
Während also im Urtheil des Paris die Plauderei nur
Raisonnement über das Erzählte brachte, sind hier min-
destens deutliche Ansätze gemacht, Erzählung selbst in Form
von Plauderei zu bieten.
Der Plauderton ist demnach, so gewiss er in vielen
Fällen den rhetorischen Stil veranlasst, doch nicht aus-
schliesslich für denselben entscheidend.
Auch in der dritten Erzählung Juno und Ganymed
wird oft mit einem 'genug' oder 'kurz' der Schluss einer
längeren Periode eingeleitet. Juno schickt die Stunden
'weislich' fort. Ein 'Wir sagten 's schon' weist auf bereits
Erzähltes zurück, ein 'wie wir uns sagen lassen9 beruft sich
auf eine Quelle. Iris schliesst die Thüre, 'vermuthlich nur
zum Schein1. Zeus und Hermes hören 'Ich weiss nicht was.*
Zahlreich sind ferner subjective Zusätze : V. 100 f. 116.
151. 209. 516. 521 f. 533. 663. 771 f. 812. 821.
Auch finden sich kurze Sentenzen eingestreut:
Y. 308 f. Was Wiz und Macht zu schwehr gefunden hatten,
Das hebt oft eine Kleinigkeit.
Ferner vgl. V. 92. 563 f. 822 f.
Die Manier, über das Erzählte zu reflectiren oder
Kommendes durch eine Reflexion vorzubereiten, zeigt sich
in Juno und Ganymed, wie in den zwei besprochenen Er-
zählungen. Vgl. V. 1—17, durch V. 16 f. mit dem Folgen-
den in Bezug gebracht. 178—183. 408—413, durch 408
mit dem Vorhergehenden und durch 414 mit dem Folgen-
den in Zusammenhang. 576 — 581. 121 — 136 charakterisirt
Jupiter und giebt in 135 f. direct Erzählung.
l) Zu bemerken ist hiebei freilich, dass in V. 546 f. — allerding«
nur vorübergehend — versucht wird, den Schein zu erwecken, als
spiele sich die Handlung vor unseren Augen ab.
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 205
Viel häufiger und deutlicher als in Endymion dringt
hier der Plauderton in die Erzählung, den Bericht von Er-
eignissen, ein. Die handelnden Personen werden hier aller-
dings nicht vom Dichter apostrophirt; aber doch versucht
er manchmal den Schein der Gleichzeitigkeit zu erwecken.
So z. B.
V. 774 Nun wird sie wohl erwachen müssen!
Ferner V. 54—56.
Auch in V. 67 — 83 wird der Anschein der Gleichzeitig-
keit wach gerufen; noch mehr aber wirkt die Verallge-
meinerung subjectiv. In 157—167 ist es diese Verallge-
meinerung ganz allein, welche die Objectivität der Erzählung
stört.
Manchmal stellt sich Wieland auf den Standpunkt des
Gelehrten oder des sorgsamen Berichterstatters, der dem
Hörer Gewähr bietet für die Wahrheit dessen, was er sagt,
oder im Vorbeigehen mit eigenen Worten einen Charakter-
zug, eine That der handelnden Personen erklärt. So z. B.
V. 18—29. 84—91. 147—149. 670 f.
Oder der Dichter wendet sich direct an die Leser, in-
dem er sie bittet, sich dieses oder jenes selbst auszumalen.
So z. B. wenn er Ganymed beschreibt und in dieser Be-
schreibung V. 569 ff. fortfahrt: 'Nehmt noch dazu' u. s. w.
Hieher gehört auch V. 184—187.
Einigemale lägst sich der Dichter ganz und gar in ein
Gespräch mit dem Hörer ein. Besonders zu beachten ist
V. 786—806; ferner vergleiche man: V. 168—177. 199—202.
640—643. 689.
Analoge Erscheinungen finden sich auch in der letzten
der Komischen Erzählungen, in Aurora und Cephalus.
Oft spricht da der Dichter von Cephalus in Ausdrücken,
wie 'Mein Cephalus', 'Unser Cephalus', 'Mein Mann', ja er
sagt sogar 'Mein Held', 'Unser Held'. Callias liebt in seiner
Tänzerin das höchste Gut, womit sich 'unsre' Geister
nähren ; Aurora spricht von 'unsrer' Fehlbarkeit. Mit einem
'kurz' oder 'genug' wird der Schlussatz einer Periode vom
Vorhergehenden abgehoben. Da und dort mischt sich ein
subjectives 'vielleicht' ein. Ausdrücke wie 'Ich weiss nicht
was für eine Süssigkeit', 'Gott weiss warum', 'Wer weiss
206 Sittenberger, Ober Wielands Komische Erzählungen.
wohin', 'Wer weiss wie oft' sprechen ebenfalls für den sub-
jectiven Ton. Ein 'wie gesagt' oder 'wie schon gesagt7
knüpft an Erzähltes an, ein 'wie die Chronik sagt' weist
auf eine Quelle hin.
Aber auch sonst finden sich häufig kleinere, subjective
Zusätze: Y. 169. 196. 204 (billig). 305. 501. 824 (der Thor!).
832 f. 905.
Kurze Sentenzen oder noch lieber Betrachtungen wer-
den eingeflochten:
V. 230 Doch Dankbarkeit ist eine schwere Last!
931 f. Wie wunderbar in seinen Fällen
Das Schicksal ist!
Ferner: V. 81. 85. 91 f. 136 ff. 292 f. 769 ff.
Zu beachten ist, dass in allen diesen Fällen mit Aus-
nahme von Y. 85 und 931 f. entweder durch syntaktische
Construction oder durch irgend ein Beziehungswort die
Verbindung mit der Erzählung hergestellt ist. Y. 85 bringt
eigentlich selbst ein wenig Erzählung, indem von Cephalus
gesagt wird, dass er reizend war. Breiter ausgesponnene
Reflexionen mit Rückblicken auf das Erzählte oder zur
Vorbereitung des Kommenden finden sich auch hier, wie
in den vorausgehenden Erzählungen. Man vgl.: V. 43 — 62
durch 63—65 in die Erzählung übergeleitet. 68—77, durch
68 f. mit dem Vorausgehenden und durch 78 mit dem Fol-
genden in Verbindung gesetzt. — 241—258 bringt einen
allgemeinen Satz; in 253 — 256 wird derselbe determinirt
und in 257 f. auf Cephalus angewendet. Übrigens stellt
auch noch 259 f. die Verbindung mit der Erzählung her. —
577—594. 595 f. knüpft daran erzählend an. — 623—639
steht ohne äusserlichen Bezug zu der Erzählung. — 657 — 677
ist durch 657 und 659 mit dem Vorausgehenden und durch
673—677 mit dem Folgenden in Verbindung gesetzt.
In vielen Fällen dringt der Plauderton in die Erzählung
der Ereignisse oder in die Beschreibung, die ja auch einen
wesentlichen Bestandtheil der Erzählung ausmacht, ein. So
V. 940-943.
Oder der Dichter fühlt sich als subjectiven Betrachter
der Situation, wie in V. 862 — 868 ; hier wird in 867 Cepha-
lus wie in V. 940 f. apostrophirt.
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 207
Ein andermal wird ein besonderer Fall auf eine grössere
Allgemeinheit bezogen. Vgl. V. 469 f.
Sehr häufig wendet sich der Dichter an die Einbil-
dungskraft der Leser, indem er es ihnen überlässt, sich
eine angedeutete Situation auszumalen oder dergleichen z. B.
V. 176. 177—193 (besonders die Anfangs- und Schluss-
zeile). 285—291 (eine Rechtfertigung von Seladons Selbst-
betrug, berührt sich also mit Reflexion). 869—871. — Be-
sonders zu beachten ist 704 — 710. Hier ist Reflexion und
Erzählung unter dem Scheine der Gleichzeitigkeit in Form
eines Gespräches mit dem Leser ganz und gar verschmolzen.
Damit berührt sich V. 99 ff. ('Den Tithon? — Ja, doch wie
er damals war' u. s. w.) 235—240. 546—567 (Beschreibung
des Amphibolis). 607 — 622 (Beschreibung Seladons; das
'mein' in 622 erhält durch die Haltung der ganzen Stelle
erhöhte Bedeutung).
Ferner ist die Erzählung in V. 117—135 stark sub-
jectiv gehalten. V. 506—533 ist durch 506 f. und 528—533
auch ganz ins Subjective gewendet. 958 f. umgeht Wie-
land eine Beschreibung.
Aurora und Cephalus verwendet also dieselben Mittel,
wie Juno und Ganymed und der Plauderton in beiden Er-
zählungen steht ungefähr auf derselben Stufe ; nur erstreckt
er sich in Aurora und Cephalus — auch verhältnissmässig —
auf eine grössere Anzahl von Versen, und es fallen die
engeren Beziehungen, die selbst kleinere subjective Zusätze
haben, auf. Aurora und Cephalus steht also jedesfalls, was
den Plauderton anlangt, eher über als unter Juno und Ga-
nymed.
Aus dem Gesagten ist klar, dass sich kein Parallelis-
raus zwischen der Yerwerthung des Plaudertons und der
Entstehungszeit der einzelnen Komischen Erzählungen, noch
auch dem Grade ihres rhetorischen Stiles ergiebt. Die Er-
zählungen reihen sich in Bezug auf den Plauderton folgen-
dermassen aneinander: Urtheil des Paris, Diana und En-
dymion, Juno und Ganymed und damit gleichwerthig oder
nur wenig höher Aurora und Cephalus.
208 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
Travestie.
Ein weiteres Mittel der Komik Wielands ist die Tra-
vestie.
Ich halte mich auch hier an die Reihenfolge der ersten
Ausgabe und beginne wieder mit dem Urtheil des Paris.
Da kommen zunächst die vielen Titulaturen aus der
heutigen Umgangssprache in Betracht. Es mag noch hin-
gehen, wenn die handelnden oder sprechenden Personen
einander ihrzen; das wird vielleicht nicht so sehr empfun-
den, und für Wielands Zeit vollends ist es wohl noch we-
niger auffallend gewesen. Wenn aber Mercur zu den
Göttinnen sagt: 'Sehn sie auf jenem Stein, . . . den schonen
Hirten sizen?' (Y. 148 f.), so ist das entschieden eine be-
wusste Veränderung des historischen Kostüms.
Man vergleiche ferner: V. 48. 69. 80. 90. 98. 139. 148.
154. 203. 265. 304. 395. 412. 424. 435. 488. 496. 508. 556.
569. 607. 610. 616. 623. 635. 647. 693. 741. 773. 776. 790.
810. 831.
Es gehört ferner hieher, wenn in einer Erzählung, die
sich über einen mythischen Stoff verbreitet, Gesellschafts-
phrasen unserer Tage angewendet werden, z. fi.
V. 156 Und, darf die Frage weiter gehen,
V. 203 f . . . . Herr Hermes, wie ich höre,
Erweisst Gott Jupiter mir gar zu viele Ehre.
Vgl.: 'dass wir gestehen müssen* (V. 242), 'ich will euch 's nur
gestehen1 (494), 'ich bitt euch1 (304), 'ich bitte dich' (714),
'wenn's euch beliebt1 (484), 'wenn ihr's mir nicht übel nehmt'
(556 f.), 'mit eurer Gunst' (224), 'wenn man bitten darf' (601).
An zwei Stellen wird der Hofstil angeschlagen: V. 139
bis 141 und 654 f.
Ziemlich häufig findet sich der Kanzlei- oder Gerichts-
stil verwendet; Wieland hatte Gelegenheit, ihn in Biberach
gründlich kennen zu lernen. Gerne treibt der Dichter die
Situation des Paris als Richter auf die Spitze und stellt
ihn ganz als modernen Richter hin. Besonders zu beachten
ist die Stelle V. 313 — 320. Ferner vgl.: V. 79 f. 111
(Reise-Protocoll). 123. 193 (nach vorgenommner Schau).
371 f. 457 (Richter- Amt). 458 (Amtsgewissen). 506. 619 f.
647 f.
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 209
Die ganze Erzählung ist mit moderner Anschauung
durchtränkt, mit modernen Ausdrücken durchflochten; Ana-
chronismen der gröbsten Art werden absichtlich angewandt.
Man mus8 dabei freilich unterscheiden. Ein Anachronis-
mus, der sich in einer subjectiven Einmischung oder auch
in einem Vergleiche findet, hat nicht die Bedeutung wie
einer, der in der objectiven Erzählung vorkommt oder gar
den Personen selbst in den Mund gelegt wird. Aber selbst
Anachronismen der letzteren Art finden sich äusserst zahl-
reich :
V. 53—64. 72 (Zofen). 87—90 (Vorstellung vom Ritter).
100 (Spiegel). 107 (Mercur — gestiefelt). 109 (Nehmt die Hüte
mit; übrigens ist die ganze Stelle 108 — 110 modern erdacht).
124 (Caravan). 126 (Deputirte). 1 72 (Vorstellung von christlichen
Heiligen). 183—185 (Unterrocke — halb ofner Brust — Rand
des kleinen Hutes). 211 (Der Gegensatz zwischen Stadt und Land
wirkt in Paris* Munde anachronistisch). 286 f. 292. 295 (Richter-
Rolle). 370 (Rökchen — Mieder). 405 f. 416 (Mieder). 429
(ElasÜcität). 436. 439 (Rökchen). 457 (Richter -Amt). 480
(sechsten Sinn). 589 ('in der andern Welt' wohl auch christliche
Vorstellung). 610 (Königin der Feen). 624 (Bad-Habit). 627-629.
659—661. 672 (Nägel-Kriegen). 683 (ohne Handgeld). 714-731
(Gegenüberstellung von Stadt und Land im Munde der Venus).
760 (Marzipan). 772. 792 (Kindbett-Schmaus). 796—798. 835
(Colibri). 836 (Engel).
Mit dem Erwähnten ist begreiflicher Weise noch nicht
alles erschöpft, was hieher gehört. Ist doch der Grund-
ton des ganzen Gedichtes ein moderner. Von dem alten
Mythus ist nichts beibehalten als das Stoffliche, und das
nicht ganz getreu ; der naive Zug aber ist gänzlich verloren
gegangen. Die Götterfiguren sind noch da; aber sie haben
alle die Anschauungen des 18. Jahrhunderts. Das histo-
rische Kostüm ist also mit Bewusstsein verletzt. Der Stoff
steht in Contrast zu seiner Auffassung und Behandlung.
Dieser Contrast stellt sich als Travestie dar. Sie kann nur
um so komischer wirken, wenn einige Fetzen des alten,
ersten Gewandes noch belassen werden. Der Gegensatz
wird dadurch um so deutlicher. So bedient Wieland, so
bedienen die Personen der Erzählung sich da und dort der
antiken Terminologie. Freilich wird auch darin so ziemlich
willkürlich ge wirtschaftet, und es muss auffallen, das 8
Vierteljahrschrift ffir Littentuigeschichte V 14
$10 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
griechische Namen und lateinische für dieselbe Person ohne
Bedenken gebraucht werden. Bald heisst es Venus, bald
Paphia, Amphitrite, Cythere u. s. w. Mercur wird sowohl
mit diesem Namen, als auch mit Hermes bezeichnet und
angeredet; ein andermal ist er 'der schwebende Begleiter.
Die Göttinnen schwören beim Styx, Paris beim Amor, beim
hohen Jupiter, beim Pan u. s. w.
Es hängt jedesfalls mit der Travestie zusammen, wenn
es auch nicht ganz von ihr bedingt ist, dass die Sprache
im allgemeinen sich nicht über den gewöhnlichen Conver-
sationston erhebt. Man kann darin nicht ein Unvermögen
des Dichters erblicken. Die Leichtigkeit, mit der er den
Vers behandelt, die Gelenkigkeit der Sprache und ihre zu-
treffende Schärfe, so wie einzelne Stellen, in denen ein
edlerer, poetischer Ton mit glücklicher Sicherheit ange-
schlagen wird, schliessen dies aus. Es ist Absicht. Tra-
vestie und Plauderton wirken da begründend zusammen.
Die erstere setzt die Götterfiguren zu Menschen des 18. Jahr-
hunderts herab, ein Vorgang, der sich ja auch in ihrer Art
zu reden wiederspiegeln muss; die Plauderei aber kennt
ihrer Natur nach keinen höheren Schwung der Sprache.
Ja es mischt sich an vielen Stellen selbst Volksthümlich-
Derbes ein. Theilweise, im Munde des Paris, ist dies
zur Charakteristik verwendet; oft aber entbehrt es dieser
Begründung und kann nur als eine Folge der Travestie und
des Plaudertones angesehen werden. Diese drücken die
Sprache auch im allgemeinen herab, so dass sich also so-
genannter niederer Stil, ja Derbheiten selbst dort vorfinden,
wo weder Travestie noch Plauderton unmittelbar zu Tage
treten. Man vergleiche:
Für Wielands Erzählung: V. 3. 24. 33. 58 f. 61—63. 74.
313. 333. u. s. w.
Für Mercur: V. 151. 371. 373 u. s. w.
Für Venus: V. 424. 712. 784 u. s. w.
Für Pallas: V. 647 f. u. s. w.
Für Paris: V. 210. 444 f. 614 f. 665. 670 f. 751. 809
u. s. w. Er wirft ferner überaus häufig mit Ausdrücken, wie
'potz Wetter! Meiner Treu! So wahr ich Paris heisse!' u. s. w.
um sich.
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 2t 1
Wie die sachlichen Anachronismen in der Verwendung
der antiken Terminologie ihr Gegenstück haben, so stehen
der scheinbar alltäglichen, manchmal sogar derben Sprache
einige Stellen gegenüber, in denen in parodistischer Weise
Schwung affectirt wird ; doch geschieht das immer nur vor-
übergehend und steht in unmittelbarem Contraste zu der
prosaischen Plattheit des Vorausgehenden und Nachfolgen-
den. Man vergleiche: V. 45 ff.; bis 47 reicht das Pathos
aber 48 ff. hinkt der Pferdefuss nach. Ähnlich ist 288 ff.
297 ff. 452 ff. (hier liegt in 454 das Pathos).
•Ferner: V. 460—468 (unterbrochen durch 463 'die
Grosse dort9, 465 'und ganz aus einem Stück'; im ärgsten
Gegensätze zu 469 ff.). 548—555. 598— 600 (im Contraste
zu dem Vorausgehenden und Nachfolgenden). 646 ('Zurück,
verwegner!'). 657—661.
Bedeutend schwächer, als im Urtheil des Paris ist die
Travestie in Diana und Endymion verwendet.
Hier sind Titulaturen der modernen Umgangssprache
äusserst selten. Abgesehen davon, dass der Faun Diana
ihrzt, lassen sich nur zwei Stellen anführen: V. 433 Damen,
64 t Frau Feen - Königin. — Dabei verliert die erstere
Stelle noch an Gewicht, weil sie in einer subjectiven Ein-
mischung steht und mit dem Ausdruck 'Damen' zugleich
auch unsere Frauen gemeint sind.
Auch Gesellschaftsphrasen werden nur spärlich ver-
wendet:
V. 456 2) . . . vergönnet mir zu sagen
650 bedankt sich der Faun für Dianens Gunst, 'wie sich's gehört'.
Hofstil wird gar nicht, Gerichtsstil nur an wenigen
Stellen angeschlagen: V. 155 f. 164 f. 370—373. Doch
sind die letzten zwei Stellen nicht sehr prägnant.
Moderne Anschauungen machen sich etwas häufiger
geltend.
V. 27 (Chronik). 66 (ohne Röcke). 108 (wohl Anklang an
'Tausend und Eine Nacht'). 154 (Hochverrath). 204 (Amor mit
einem 'Vogel-Rohr'). 214 (Amor — blinde Kuh spielend). 222
(schminkt). 428 (Stadt-Gerüchte). 432 (Juno beim Theetische).
473 (Diana gebraucht 'Feerey'). 602 ff. (christliche Vorstellung
*) Aber in subjectiver Einmischung.
14*
21 2 Sittenberger, Ober Wielands Komische Erzählungen.
vom Tode). 295 (der schlafende Endymion mit dem schlafenden
Rinald verglichen). 488—497 (der Traum Endymions mit dem
der Franciscaner und Nonnen). Andere Stellen, wie V. 334. 542.
546. 549. 558. 560. 561. 631, so wie auch 453 f. und 456 f.
werden in dem Masse noch weniger empfunden, als die subjective
Einmischung deutlicher ist.
In Bezug auf die Verwendung von antiker Terminolo-
gie zeigen sich dieselben Erscheinungen wie in dem TJr-
theil des Paris. Es heisst bald Diana, bald Cynthia, oder
Luna oder auch wohl 'die keusche Göttin', 'der Nymphen
schöne Königin9. Ihr Drachenwagen wird mehrfach er-
wähnt. Apoll erscheint als Phöbus oder als 'der Goß zu
Delphi'; Amor als Cypripor. Es ist vom ' Vater Zevs', von
'Latonens Kindern', vom 'Weingott' die Rede.
Steht so der Gebrauch der Travestie im Endymion weit
unter dem im Urtheil des Paris, so ist es nur natürlich, das*
auch die Sprache weniger alltäglich scheint, wenigstens in
den Partien objectiver Erzählung. Gewiss macht sich auch
im Endymion an vielen Stellen prosaisch-platter Ton auf-
fällig genug geltend , aber es wird doch grössere Abschnitte
hindurch poetischere Diction beibehalten. Was in Endy-
mion an die schwunglose Bede des Tages gemahnt, ist viel
mehr auf Rechnung des Plaudertones als der Travestie zu
setzen. Auch Volksthümlich-Derbes ist nicht auffallend
verwendet. Mit Ausnahme eines einzigen Falles, V. 280 f.
bedient sich nur Wieland selbst derberer Ausdrücke. Vgl.
V. 35. 134 (Nasen). 150 (doppelte Negation). 263. 266. 276.
392. 399. 401 (sehen). 47 t. 609 u. s.w.
An parodistischen Schwung gemahnt nur die Rede der
Diana V. 176 — 215, besonders im Hinblick auf die unmittel-
bar vorhergehenden vier Verse. Man vergleiche etwa noch:
V. 409 und 415 ff. Doch stechen alle diese Stellen gegen
die aus dem Urtheil des Paris angeführten ab.
Diana und Endymion, ihrer Entstehungszeit nach die
erste der Komischen Erzählungen, weist also allerdings un-
widersprechlich Travestie auf; aber sie kommt über Ansätze
zu derselben nicht viel hinaus. Das Urtheil des Paris be-
zeichnet jede8fall8 einen wesentlichen Fortschritt in der
Verwendung dieses Kunstmittels.
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 213
Noch stärker tritt dieselbe in der dritten der Erzäh-
lungen Juno und Ganymed hervor. Gleich die Titula-
turen aus unserer Umgangssprache sind ungemein zahlreich.
Iris spricht ihre Gebieterin Juno fast durchwegs mit 'Sie'
an. Das Ihrzen ist unter den Personen der Dichtung ganz
gewöhnlich. Man vgl. Y. 18. 30. 55. 168. 229. 242. 280.
293. 301. 304. 315. 338. 397. 403. 408. 514. 533. 535. 539.
541. 640. 644. 655. 678. 695. 706. 714. 724. 731. 739. 806,
814. 839. 848. 854. 861. 866.
Gesellschaftsphrasen oder Conventionelles ist nicht ge-
rade häufig verwendet, aber was davon gebracht wird, ist
fast durchgehende prägnant.
V. 242: die Götter küssen dem heimkehrenden Zeus die Hand.
513 Zevs verneigt sich tief und geht.
Ferner vgl. V. 535. 600. 712. 744. 858. 866.
Etliche Male klingt Hofstil durch. So z. B. V. 300
bis 303. Auch Y. 781 (Hoheit) und 397 (Eurer Majestät)
gehören hieher.
Ebenso macht sich manchmal Kanzlei- und Gerichts-
oder doch ein gewisser Zopfstil bemerkbar. Vgl. Y. 304.
336. 412 (ob besagten). 416 (wie folget). 687 f.
Ausserordentlich zahlreich sind Anachronismen, wie ja
die ganze Erzählung von modernen Anschauungen vollstän-
dig durchdrungen erscheint.
Vgl.: V. 31 (Gardinen). 39 (Sittenlehren). 43 (Nacht-Musik).
47 (Knieband). 50 f. (Zeus beim Spiel). 52 (Iris stickt). 80 (leib-
eigen). 147 fif. 177 (Chronik). 234 (Juno fahrt spazieren). 257.
260 (das grosse Dekel-Glas). 261 (Fingerhüten). 287 (Bacchus
macht den Stutzer) *). 386 (Nectar-Punsch). 402. 403 (Fi!). 428.
460 f. (Zeus als Schüler Piatons). 463 (wie 460 f.). 465. 484 f.
(System — Nebel-Kappe). 507 ff. (beruft sich Zeus auf Socrates
und Seneca). 529 (Juno klingelt). 533 (Zofen- Art) 4). 534 f.
663 (Zofe). 684 f. 686 (Zofe). 714 (wohl das 'Ja- Wort' bei
der christlichen Trauung). 718 (Fenster). 747 (Schlüssel-Loch).
794 (Zepbyr — galant). 821 (Lustspiel). 855 (Predigt). 863
(wie 507 ff.).
Anachronistische Vergleiche sind nicht selten; z. B.
V. 37. 74. 516. 566. 819.
*) In der Erzählung Silena ist Hebe als moderne Kellnerin dar-
gestellt.
*) Iris in der ganzen Erzählung als völlig moderne Zofe.
214 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
Von anderen Stellen, in denen der subjective Ton noch
deutlicher und damit auch die Wirkung des Anachronismus
immer mehr abgeschwächt wird, sehe ich hier ganzlich ab.
Von antiker Terminologie ist in Juno und Ganymed
nicht viel zu finden. Es wird gelegentlich auf die sieben-
fache Nacht angespielt; Hermes ist der Gott, 'der Flügel
an den Ohren Und an den Fersen tragt9. Silen schwört
bei seinem Esel, Juno schwört den Schwur, 'den Götter
selbst nicht brechen9; Ausdrücke, wie 'Erycine', 'Idalia'
werden hie und da gebraucht; Zeus ist einige Male der
Donnerer; — das ist aber so ziemlich alles, was an antike
Terminologie gemahnt.
Ich erinnere daran, dass Juno und Ganymed den Plau-
derton in ausgedehnter Weise verwendet; hiezu tritt noch,
wie eben jetzt gezeigt wurde, eine überreichliche Verwen-
dung der Travestie; diese beiden Umstände erklären zur
Genüge die scheinbare Plattheit des Ausdrucks, die sich
überall in dieser Erzählung aufdrängt; kaum da und dort
finden sich etliche, ganz kurze Partien, die eine etwas ge-
hobenere Sprache aufweisen.
Auch volksthümlich-derbe Redewendungen werden sehr
häufig verwendet. Das Meiste thut hierin Wieland selbst;
vgl.: V. 9 f. 22. 53. 63. 130. 131. 151. 159. 171 f. 196 f.
198. 238. 519. 565. 795. 816. 832 u. a. Aber auch die
Personen der Erzählung gebrauchen derlei Wendungen.
Man vergleiche:
Für Silen: V. 252. 266. 268. 269. 277. 290 u. a.
Für Iris: V. 580. 596 (Kram). 697 (singen) u. a. Ausser-
dem schwört sie: mein Treu! Bei meiner Treul u. s. w.
Für Jupiter: V. 428. 447. 490. 840. 847 (doppelte Ne-
gation). 861 u. a.
Für Juno: V. 357. 387. 391 u. a.
Parodistischer Schwung ist fast nirgends wahrnehmbar.
Die Travestie, zu welcher sich in Endymion bemerke!»*
werthe Ansätze finden, welche im Urtheil des Paris in ent-
schiedener Weise fortgebildet wurde, hat in Juno und Ga-
nymed ihren Höhepunkt erreicht. Sie beherrscht die ganze
Erzählung und giebt ihr ein charakteristisches Gepräge.
In Aurora und Cephalus tritt sie wieder einiger-
massen zurück.
Sittenberger, Über Wielands Koniische Erzählungen. 215
Titulaturen der Umgangssprache sind in weit beschränk-
terem Masse in Verwendung gebracht, als in Juno und
Ganymed. Vgl.: V. 314. 328. 386. 407. 460. 503. 534. 535.
537. 540. 549. 569. 596. 861. 899.
An Gesellschaftsphraeen und Gonventionellem ist Ce-
phalus nicht eben arm. Besonders zu beachten ist V. 198
bis 232 ; das ganze Gespräche zwischen Cephalus und Aurora
bewegt sich in durchaus modern- Conventionellen Formen.
Ferner vgl. V. 24. 309—332. 492. 535 ff. (Amphibolis läset
sich bei Procris melden). 542 f. 806—808. 810 f.
An Hofstil erinnert nur V. 537 durch das 'bey Ihro
Gnaden9. An Kanzleistil klingt V. 243 f. an:
von Seiner Heiligkeit
Ab intestat ein Erbgut einst zu werden.
Mit Anachronismen wird nicht gerade gespart; doch
aber sind sie seltener als in Juno und Ganymed.
Vgl. V. 9 (Der Elfen Königin). 12 (Tänzerin-Elfe). 13 (Mette).
23 (Schlafrok). 26 (Stunden — Zofen Auroras). 58 (Anklang an
Tausend und Eine Nacht). 308 (Beichte). 355. 389 (Elegie).
393 (Roman). 408 (Anspielung auf ein Märchen). 536 (Kammer-
Nymphen). 647 (Chronik). 825 (Rosette als Nymphenname). 833
(Feen). 938.
Die Vergleiche sind vielfach anachronistisch. Z. B.
V. 172 f. 186. 499. 615. 618. 767 u. a.
Die antike Terminologie ist nur wenig gebraucht. 'Ti-
thonia' findet sich neben dem bedeutend häufigeren 'Aurora'.
Dieser Göttin wird ein von rosenfarbnen Stuten gezogener
Silberwagen zugeschrieben. Gelegentlich ist vom 'Gott von
Delphi9, vom 'Wein-Gott', vom Erebus, von der 'alten Nacht'
die Rede. Einmal werden die 'Rosen-Finger' Aurorens er-
wähnt; ein andermal wird das 'Rosen-Roth', das ihren Leib
umfliesst, hervorgehoben.
Bemerkenswerth ist es, dass alle die Stellen, die» für
Travestie sprechen, der Hauptsache nach auf zwei von der
übrigen Erzählung abgehobene Partien beschränkt sind;
und zwar auf das Gespräch zwischen Aurora und Cephalus
und auf die Scene zwischen Procris und Amphibolis. Wohl
finden sich auch in den übrigen Abschnitten da und dort
Anachronismen, Titulaturen der modernen Umgangssprache
u. s. w., aber doch nur vereinzelt.
216 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
Es ergiebt sich, dass auch die Sprache gerade in diesen
Abschnitten am meisten sich der gewöhnlichen Umgangs-
sprache nähert, während in den übrigen Stellen hie und da
nicht ohne Wirkung eine poetische Diction durchschlagt.
Freilich nur hie und da; der Plauderton, der in dieser Er-
zählung am meisten ausgebildet ist, wirkt ja doch bemerk-
lich ein und lässt einen einheitlich poetischen Ton nicht
aufkommen.
Volksthümlich-derbe Ausdrücke werden nicht besonders
häufig angewendet. Wieder entfallt der grosste Theil von
ihnen auf Wielands eigene Zwischenrede.
Vgl. V. 18. 22. 33 f. 65 (Alten). 126. 171. 175. 320.
425. 553. 601 f. 615. 783. 785. 947.
Für Aurora vgl.: V. 148. 393. 443. 489.
An parodistischen Schwung klingt nur V. 577 — 594 an.
Die Verwendung der Travestie ergiebt also einen ge-
wissen Parallelismus mit der Entstehungszeit der einzelnen
Komischen Erzählungen, und zwar so, dass sie von Diana
und Endymion bis zu Juno und Ganymed steigt und von
da ab in Aurora und Cephalus wieder etwas zurücktritt.
Karikatur.
Es ist angedeutet worden, in welcher Weise Travestie
mit Plauderton vereint, die Sprache in den Komischen Er-
zählungen herabziehen. Wir sind gewohnt, vom Vers eine
edle Sprache zu erwarten. Was uns aber hier in den
iambischen Reimzeilen geboten wird, entfernt sich, schein-
bar wenigstens, selten von der gewöhnlichen Prosa. Es
ergiebt sich also ein gewisser, sehr fühlbarer Widerspruch,
und wir haben die Empfindung, als lege der Dichter es
recht eigentlich darauf an, die von ihm gewählte Form, des
Vers, in unseren Augen zu discreditiren. Dass dies ab-
sichtlich geschieht und nicht aus mangelndem Können zu
erklären ist, steht fest.
Der Dichter begeht damit einen bewussten Verstoss
gegen die Grundbedingung eines Kunstwerkes: die Einheit-
lichkeit der Auffassung. Die Auffassung eines Kunstwerkes
tritt nach zwei Richtungen hervor: in Form und Inhalt
Durch die Travestie ist die Übereinstimmung dieser beiden
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 217
gestört; der Inhalt — hier mythisch — steht zum Gegen-
satz zu seiner Behandlung — hier modern. Es könnten
nun immerhin sowohl Inhalt als Form, jedes für sich allein,
einheitlich aufgebaut sein.
Die der vollen Travestie angemessene Form, besonders
in Rücksicht auf das Hinzutreten des Plaudertones, wäre
die Prosa. Sobald aber dafür der Vers gewählt wird, ist
die Einheitlichkeit der Form aufgehoben. Diesen bewussten
Gegensatz, die bewusste Asymmetrie pflegen wir als Kari-
katur zu bezeichnen. Die Travestie in Verbindung mit dem
Plauderton leitet also in dem vorliegendem Falle von selbst
zur Karikatur der Form über.
Aber dabei bleibt Wieland nicht stehen; er karikirt
auch den Inhalt. Dieser ist scheinbar verzeichnet; es
mischen sich da und dort Züge ein, welche mit dem Übri-
gen nicht stimmen wollen. Freilich darf der Zusammen-
hang nur scheinbar gestört werden; man muss ihn durch
die falsche Zeichnung hindurch schimmern sehen, so gut
wie die Form nicht thatsächlich zur platten Nüchternheit
der Prosa hinabsteigen dürfte.
Die Karikatur des Inhaltes ist in den einzelnen Er-
zählungen in sehr verschiedenem Masse verwerthet. Im
Urtheil des Paris sind nur Ansätze dazu vorhanden.
Es gehört sicherlich schon hieher, obwohl es nicht viel
zu sagen hat, wenn Wieland selbst oder eine der Personen
irgend einen schalen Gedanken in ganz besonders wichti-
ger und feierlicher Weise betonen.
V. 110 Und, wie ihr wisst, macht Sonnenschein nicht weiss.
Ferner: V. 126. 574. 618 u. s. w.
Was hier im Kleinen sich zeigt, geschieht auch ge-
legentlich im Grossen. Wieland legt manchmal einer ganz
untergeordneten, unbedeutenden Sache absichtlich eine grosse
Bedeutung bei. So erzählt er, dass Juno allein vor Paris
stand, und nimmt dabei Veranlassung, in V. 512 — 530 mit
ungeheurer Wichtigkeit, zu erörtern, wie viel der kleine
Umstand thue, nicht ganz allein, doch ohne Zeugen zu sein.
Vgl. V. 321—363.
Karikatur ist es ferner, wenn Wieland sich den An-
schein giebt, als ob er eine streng historische Erzählung
218 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
wiedergäbe, und sich so auf eine fingirte Quelle beruft, wie
z. B. in V. 111 auf das 'Reise-Protocoll'.
Der Dichter macht sich aber auch direct über die Per-
sonen seiner Dichtung lustig. Wenn sich diese Personen
untereinander verspotten, so mag das hingehen ; aber wenn
der Dichter selbst sie bewitzelt, so bedeutet das ein ab-
sichtliches Verrücken der Conturen, ein bewusstes Ver-
zerren der Charaktergestalten, z. B. V. 52 — 68. Wieland
versichert, dass die Göttinnen nicht um Kleinigkeiten streiten.
— Der Streit betraf nicht minder
Als wer die schönste sey?
Um diesen Preiss kan man zuviel nicht wagen.
Ferner vgl. V. 363—366. 367 f. (Wie Jungfern ziemt). 511
(Tugend). 636. 854 f. (Den Regeln treu zu bleiben, Wie sich 's
geziemt). 860 f.
Entscheidender, als alles dies, ist es, wenn den Per-
sonen für ihre Handlungen falsche Motive untergeschoben
werden, in der Weise natürlich, dass man sie sofort als
falsch erkennt und über die wahren Beweggründe nicht im
Zweifel sein kann.
Dazu finden sich im Urtheil des Paris nur ganz schwache
Ansätze. Man mag die bereits angeführten Stellen V. 511
und 860 f. auch unter diesem Gesichtspunkte betrachten.
Ausserdem kann man vielleicht noch hieher rechnen die
Stelle V. 79— -82, wo sich Jupiter, und 617—619, wo sich
Paris auf seine Unparteilichkeit beruft, derselbe Paris, der
kurz vorher geneigt war, für etliche Küsse den Streit zu
Gunsten Junos zu entscheiden.
Das Urtheil des Paris bedient sich also wohl der Kari-
katur5); aber von einer Ausbildung und consequenten Durch-
führung derselben ist noch keine Rede.
Weiter geht darin die der Zeit der Entstehung nach
erste Erzählung, Diana und Endymion.6) Es kommen
im wesentlichen dieselben Mittel zur Anwendung, wie im
Urtheil des Paris. Ein nichtssagender oder allzu geläufiger
*) Ich verstehe darunter hier, wie im Folgenden Karikatur des
Inhalts.
•) Man vergleiche den Gebrauch des Plandertones in dieser Er-
zählung.
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 219
Gedanke wird mit allem Nachdruck, meist in Form einer
Sentenz ausgesprochen.
V. 109 f. Dem Glück in dieser Unterwelt
Hat stets Beständigkeit gefehlt.
Vgl. V. 115 f. 193. 554 f. 556 u. s. w.
Auch in grosserem Rahmen wird Unbedeutendem eine
unverdiente Wichtigkeit beigelegt. So, wenn Wieland
Y. 334—342 mit grossem Eifer von der Schädlichkeit der
Neugier spricht, und dabei den Zoroaster und einen nicht
naher benannten 'weisen Mann7 als Zeugen anführt. Ferner
Y. 380—390. 437—443. 450—457. 557-562. In den bei-
den letzten Stellen wird der Schein erweckt, als hätten wir
es mit einer hochwichtigen gelehrten Abhandlung zu thun.
An Berufungen auf fingirte Quellen fehlt es nicht, z. B.
Y. 27 (Chronik). 118 (man weiss nicht wie?). 319 (man
sagt sogar). 501 (entscheidet die Geschichte nicht). 540
(man glaubt). 548 (Berufung auf den Faun). Es berührt
sich damit, wenn Wieland an manchen Stellen die grösste
Gewissenhaftigkeit affectirt, wenn er seine Erzählung mit
kritischen Augen betrachtet und sorgsam auf ihre Echtheit
prüft. Er erweckt ja dadurch auch den Anschein, als ob
die Erzählung aus zuverlässigen Quellen flösse; es ist dies
nichts als eine Gonsequenz und weitere Ausführung der
blossen Berufung. Thatsächlich ist in allen diesen Stellen
auch wirklich eine solche Berufung eingeflochten.
V. 25 f. Zum mindsten lieffen sie nie wenn er kam, davon,
Das lässt sich ohne Scheu bejahen.
Ferner: V. 287 (Vielleicht auch sich). 458 f. u. a. m.
Ziemlich häufig macht sich der Dichter über die Per-
sonen der Erzählung lustig. Yiele der bereits angeführten
Stellen zählen auch hieher. Ausserdem vergleiche man
noch: V. 151—154. 170. 313—315. 374—376. 529—531.
590-594. 630 f.
Selten, wie im Urtheil des Paris, geschieht es, dass
ein falsches Motiv untergeschoben wird. In bezeichnender
Weise geschieht dies nur in Y. 632 — 640. Diana ergiebt
sich dem Faun, um für ihr Vergehen zu büssen. Ver-
gleichen mag man noch: Y. 107 f. und 461.
220 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
An einer Stelle scheint es, als wolle Wieland den so-
genannten Apparat ironisiren; er sagt nemlich V. 473 f.
(Diana) — — — wird ein bisschen Feerey
Zu brauchen sich entschliessen müssen.
Endymion verwerthet die Karikatur also zweifellos
reichlicher, als das Urtheil des Paris; aber in dem wich-
tigsten Punkte, dem Unterschieben eines falschen Motires
erhebt sich jene Erzählung nicht über diese. Wohl fuhrt
sie aber ein theil weise neues Mittel ein: die komische Ge-
wissenhaftigkeit.
Einen entschiedenen Schritt nach Torwarts thut die
dritte Erzählung Juno und Ganymed. Das zeigt sich in
einer reichlicheren und bezeichnenderen Benutzung der
schon besprochenen Mittel und besonders in der häufigen
Verwendung falscher Motive.
Gemeinplätze, ganz nüchterne und selbstverständliche
Bemerkungen werden sowohl vom Dichter als auch von den
Personen mit grossem Nachdruck ausgesprochen. Ygl. V. 91
127 f. 171 f. 201 f. 219. 284 f. 788. 812.
Auch im Grosseren zeigt sich die Erscheinung, dass
Unbedeutendes mit grosser Wichtigkeit behandelt wird.
Gleich die Einleitung V. 1—11 gehört hieher. Wieland
spricht darin über die Unannehmlichkeit, ein grillenhaftes
Weib zu haben, in aller Breite und citirt dabei sogar Se-
cundus, den Pythagoräer, als ob es erst eines Beleges be-
dürfe. Ferner vgl. V. 121—136. 178—183. 565-58t u.s.w.
Hie und da wird auch in dieser Erzählung auf Quellen
zurückgewiesen, z. B. V. 177 (Chronik). 746 (wie wir uns
sagen lassen). 798. 806 (Berufung auf die Aussage der Iris).
Komische Gewissenhaftigkeit, die denselben Zweck hat
wie die Berufung auf Quellen, und mit derselben oft zu-
gleich auftritt, findet sich auch etliche Male ; z. B. Y. 90 f.
410—413. 670 f. 745 (vermutlich nur zum Schein). 786
bis 806.
Sehr häufig und in ausgedehnter Weise bespöttelt Wie-
land die Personen seiner Dichtung. Vgl. V. 37 f. 54—56.
67—83. 90—97. 335 f. 408—411. 604—606. 640—643. 786
bis 806. 824—826.
Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen. 221
Ausserordentlich häufig im Vergleiche zu den früheren
Erzählungen werden den Handlungen der einzelnen Per-
sonen in ironischer Weise falsche Motive untergeschoben.
Das ist schon in Y. 786 — 806 theilweise der Fall. Iris und
der Zephyr setzten sich 'ein Spiel zu machen' in einem
Busche nieder.
Man vergleiche hiezu : V. 49. 142—149 ('die Milzbesch wehrung
zu vertreiben'). 290—293 (Entlassung der Hebe aus sittlicher
Entrüstung)7). 345—353. 417-485. 488-512. 526-528 (Motiv
der Rache). 547 f. (Juno ist doch schon entschlossen, sich zu
rächen!). 663 — 683 (Iris als getreue Dienerin und gewissenhafte
Lehrerin). 747—777 (der feste Schlaf Junos). 856 f. (loben).
861 ff. 866 ff. (Motiv der Bescheidenheit).
Einmal, in Y. 670 f., wird vorübergehend die Staffage
ironisirt; es heisst da:
Ob auch der Mond fein hübsch dazu geschienen,
Das gilt uns gleich — — — —
Neue Mittel der Karikatur führt also Juno und Ga-
nymed nicht ein; aber es macht ausgiebigeren und ener-
gischeren Gebrauch von den bereits in den früheren Er-
zählungen vorhandenen, vor allem aber von den 'falschen
Motiven9; und das bezeichnet den Fortschritt in der Kari-
katur.
Aurora und Cephalus nimmt hierin, wie im Plau-
derton die höchste Stufe ein. Zwar möchte das auf den
ersten Blick nicht wahrscheinlich sein, denn die Mittel, die
wir kennen gelernt haben, sind in einigen Stücken weder
in dem Umfange, noch in der bezeichnenden Art verwendet
wie in Juno und Ganymed; in keinem Falle gehen sie
merklich über das dort Gebotene hinaus.
Das zeigt sich schon bei der gewichtigen Hervorhebung
unbedeutender Gedanken. Vgl. Y.91 f. 218 f. 445 f. 450.
769—771. 894 f.
Auch in breiterem Rahmen zeigt sich diese Erschei-
nung nicht gerade häufig.
7) Es wird zwar später ausdrücklich gesagt, dass Zeus ein an-
deres Motiv hatte, aber indem man die Stelle V. 290—303 liest, merkt
man schon selbst aus dem Vorhergehenden, dass das Motiv ein unter-
geschobenes ist; für den Moment wenigstens scheint uns Zeus karikirt.
222 Sittenberger, Über Wielands Komische Erzählungen.
Y. 68 — 77 wird mit grossem Aufwand von Gelehrsam-
keit die Frage erörtert, ob es natürlich sei, dass sich zwei
junge Leute in einander verlieben. Übrigens macht sich da
auch komische Gewissenhaftigkeit geltend. Ferner : V. 241
bis 258. 556-567. 577—594. 623—639.
Auf eine Quelle, aus der er die Geschichte geschöpft
haben will, beruft sich der Dichter nur einmal; wieder ist
es die schon aus den früheren Erzählungen bekannte |
'Chronik' V. 647.
Als gewissenhaft prüfenden Darsteller eines wahren
Ereignisses spielt sich der Dichter einigemale auf. So z. B.
Y. 63—65. 549 ff. 646 (vielleicht aus Bangigkeit). 657
bis 676.
Nicht sehr häufig und meist in wenig prägnanter Weise
kommt es vor, dass Wieland sich über die Personen seiner
Dichtung lustig macht. So in der schon citirten Stelle
Y. 63 f. Ferner Y. 74—77. 454 (die mit Kenntniss sprechen
kann). 710-713 (berechtigt). 824—827. 830 f.
Falsche Motive werden etwas häufiger verwendet:
V. 91—93. 145 (zum Scherz). 198—226 (als ob Cephalus
wider Vermuthen der Aurora zu ihr gekommen wäre). 227—240
(Motiv der Dankbarkeit; daneben 'verirrt'). 645—648. 822 f.
(wieder übertriebene Dankbarkeit). 948 ff. (nur Mitleid!).
Auch die Staffage wird ironisirt. SoY. 498— 533. Man
beachte dabei 501 (nach Gebühr) und Y. 528—533.
Auch die Stelle Y. 177—193 ist durch den Eingang
'Stellt, wenn ihr könnt, — ' einigermassen in schiefes Licht
gerückt.
So weit nun erhebt sich Aurora und Cephalus in der
Anwendung der Karikatur nicht über Juno und Ganymed;
ja es bleibt wohl etwas hinter dieser Erzählung zurück.
Aber darin übertrifft Aurora und Cephalus entschieden alle
übrigen Erzählungen, dass hier das Hauptmotiv selbst ironi-
sirt ist, das Motiv, auf welchem sich die ganze Erzählung
aufbaut. — Aurora wird durch die Ähnlichkeit verfuhrt,
ihren Tithon in Cephalus zu lieben. Dieses Motiv wird
nun in verschiedenen Variationen immer wieder angewendet
So liebt Cephalus, von derselben Täuschung befangen, wie
die Göttin, in dieser seine Procris; Procris hinwiederum
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 223
liebt ihren Cephalus in Seladon. Noch einmal Y. 780 — 783
wird dasselbe Motiv angeschlagen, allerdings ohne dass
daraus Folgerungen gezogen werden. Ms ist klar, dass der
Dichter uns nicht zumuthet, dieses Motiv der Täuschung
ernst zu nehmen; er discreditirt es durch seine oftmalige
Verwendung.
Sin mit der Entstehungszeit gleichlaufendes Ansteigen
der komischen Mittel ergiebt sich also nur für die Travestie
und zwar so, dass sie bis Juno und Ganymed zunimmt und
in Aurora und Cephalus wieder zurücktritt. Plauderton und
Karikatur sind im Urtheil des Paris am schwächsten ver-
treten und steigen in Diana und Endymion, Juno und Ga-
nymed bis zu Aurora und Cephalus.
Wien. Hans Sittenberger.
Herders Antheil an den Frankfurter gelehrten
Anzeigen vom Jahr 1772.
Herders Recensionen aus dem Anfange der siebziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts liegen nun vereinigt in dem
1891 erschienenen 5. Bande der Suphanschen Ausgabe vor.
Während sein Antheil an Nicolais Allgemeiner deutscher
Bibliothek, durch Otto Hoffmanns Arbeiten, und an Matthias
Claudius4 Wandsbecker Bothen anderweitig feststand, musste
die Untersuchung für seinen Antheil an den Frankfurter
gelehrten Anzeigen vom Jahr 1772 von neuem aufgenommen
werden. Es galt, zu einer positiven Entscheidung zu ge-
langen, welche Frankfurter Anzeigen in Herders Werken
als sein sicheres Eigenthum abzudrucken wären. Bernhard
Suphan hat sich schon früher, wie auch in den Ein-
leitungen und Anmerkungen andrer Bände sich Spuren da-
von finden, an dieser Aufgabe versucht und seine Vor-
arbeiten mir zur Verfügung gestellt. Die für die Ausgabe
abschliessende Arbeit fiel mir zu. Es ist mir eine grosse
Freude, nach Suphans Wunsche auch hier aussprechen zu
dürfen, dass über das Endresultat unter uns beiden, die wir
uns in die Herausgabe des 5. Bandes getheilt hatten, volle
224 Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen.
Einigkeit erzielt ward und besteht. Die Beweisführung
selbst wäre eigentlich im Vorbericht zum 5. Bande der
Herder- Ausgabe zu geben gewesen; da sie aber den ver-
fügbaren Baum zu weit überschritten hätte, sei sie (wie
5, XXVI versprochen ist) an dieser Stelle nachgeliefert.
Bernhard Seufferts Neudruck der Frankfurter gelehrten
Anzeigen vom Jahr 1772, mit Wilhelm Scherers in ihren
Ergebnissen bewunderungswürdiger Vorrede, bildete den
Ausgangspunkt für meine Untersuchung. Die Masse des
von Scherer zusammengetragenen Materials scheint durch
die Disposition in Urtheile, Zeugnisse und Vermuthungen
wie spielend bewältigt. Nur dass vielleicht in einer Art
von Uberschärfe Angaben von Caroline Herder, Passavant
und anderen als 'Zeugnisse' eingeschätzt sind, ob sie gleich
keinen Anspruch darauf haben. Wirkliche Zeugnisse gab
es nur für zwei Anzeigen Herders; ein drittes ist jetzt*'
durch die Auffindung einer handschriftlichen Vorarbeit hin-
zugekommen. Sonst haben wir es nur mit mehr oder we-
niger brauchbaren 'Vermuthungen' zu thun, die uns die
Notwendigkeit der Beweisführung nirgends ersparen.
Wir sind bei dieser Arbeit nicht schlecht gestellt Die
grosse Fülle gleichzeitiger Schriften Herders lässt uns seine
eigenartige Denk- und Schreibweise deutlich erkennen. Es
giebt unter seinen Schriften keine einzige, die mit den
früheren gänzlich bräche oder nicht schon auf spätere hin-
wiese; in der nicht anderswo fast mit den selben Worten
ausgesprochene Gedanken, ihm selbst unbewusst, wieder-
kehrten. Diese Eigenschaften müssen auch an denjenigen
Anzeigen wahrzunehmen sein, welche wir Herder zuweisen
wollen; denn auch wo er anonym schrieb, ist es ihm nie
gelungen, seine Fährte zu verwischen. Also nur solche
Becensionen dürfen wir anerkennen, die sich sozusagen
organisch in seine übrige Schriftstellerei einfügen. Kein
Wort, kein Gedanke darf gegen seinen Stil oder seine Denkart
Verstössen. Der aus dem einzelnen Stück gewonnene Ge-
sammteindruck muss uns den Ursprung aus Herders Geiste
unmittelbar verbürgen.
Gegenüber sämmtlichen in die Ausgabe aufgenommenen
Becensionen habe ich das bestimmte Gefühl, dass nichts in
j
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen* 225
ihnen unherderisch sei. Ich betone das, weil es sich im
einzelnen nicht mittheilen lässt. Dagegen ist es möglich,
gewisse Beweise, die controlirend und bestätigend hin-
zutreten, auch für andre darzustellen. Es genagt nicht,
einzelne Herderismen aufzudecken. Matthias Claudius hatte
mit richtigem Gefühle, wenn auch übertreibend, in Herder
den Küster erkannt, dem der übrige Chor der Frankfurter
Recensenten nachsänge. In der That: nicht überall, wo
ein Herder-Ton erklingt, singt Herder selber. Seine früheren
Arbeiten, namentlich die Fragmente und die Becensionen
in Nicolais Bibliothek, waren eifrig gelesen. Einzelne An-
klänge daran in den Frankfurter gelehrten Anzeigen können
also auf Studium beruhen und beweisen für sich allein so
gut wie nichts; nur als Anfangsglieder einer weiter vor-
wärts geführten Kette von ähnlichen Erscheinungen erhalten
sie einen Werth. Wirkliche 'Beweise' fliessen nur aus
solchen Äusserungen Herders zu, die damals auf andre un-
möglich wirken konnten. Neben den Briefen waren also
seine gleichzeitigen Schriften heranzuziehen, die letz-
teren besonders (soweit möglich) auf ihren uns erst jetzt
bekannt gewordenen band schriftlichen Vorstufen. Aber
nicht blos die gleichzeitig erschienenen Schriften gehören
hierher, sondern auoh alle diejenigen, welche damals
bereits im Werden begriffen waren. Es ist bekannt,
dass die ganze Fülle der von Herder in den ersten sieb-
ziger Jahren begonnenen Arbeiten nicht sogleich in die
Öffentlichkeit gedrungen ist: ein Theil gedieh erst nach ge-
raumer Zeit zur Reife, ein andrer steigt jetzt erst aus den
Handschriften zu Tage. Wenn zwischen diesem Ver-
gleichungsmaterial und gewissen Frankfurter gelehrten An-
zeigen sich unverkennbare Parallelen des Inhalts und der
Form ergeben, so sind damit unanfechtbare Beweise für
Herders Autorschaft geliefert.
Bei den Beobachtungen, welche ich hier darbiete, stand
mir an Beweismaterial, innerem und äusserem, mehr zu
Gebote als seiner Zeit bereits Scherer. Eine viel ver-
sprechende Hoffnung aber schlug fehl. Herders Briefwechsel
mit seiner Braut ist aus berechtigten Erwägungen nicht
vollständig gedruckt worden. Da Caroline, welche damals
Vierteljalusohrift für Iitteraturgwchichte V 15
226 Steig, Herders Antheil an den Frankf. geh Anseigen.
schon an Herders Arbeiten ihren Antheil nahm, in Dann-
stadt mit der Merckschen Familie verkehrte, so durfte von
der Durchsicht der dem Goethe- und Schiller-Archiv ver-
machten Original-Blätter noch einiger Aufschluss über die
Mitarbeit an den Frankfurter gelehrten Anzeigen erwartet
werden. Es ergab sich jedoch kein positiver Gewinn; nur
Herders erste Beziehungen zu dem Unternehmen Mercks
treten klarer hervor, als es bislang der Fall war.
Caroline machte ihren Herder schon am 16. Deeember
1771 auf die neue Zeitung aufmerksam: 'M(erck) ist vom
neuen Jahr an der Directeur über die frankfurter gelehrte
Zeitung . . . Ich weiss nicht ob ers Ihnen sagen will,
lassen Sie sichs also nicht merken dass ich geschwätzt habe'.
Merck hatte sich aber in der Zeit an Herder gewandt.
In einer andern ungedruckten Stelle, die an den Schluss
des Briefes 4m Deeember 1771' gehört, erzählt Caroline:
(Madame Merk, meine Schwester und ich sprachen neulich
Abend in einem vertraulichen Eckchen unsrer Stube viel
viel von Ihnen, erstere bat mich, * Ihnen recht viel schönes
von ihr zu sagen, sie könnte es ihrem Mann nicht
auftragen, weil er immer von andern Sachen zu
schreiben hatte, denn Ihr Herren Gelehrte vergesset
mit Euern Köpfen Weiber und Kinder und Häusser und
Güter und alles was auf Erden ist'.
Die so artikelfest verwünschten 'andern Sachen9 betreffen
doch ohne Zweifel die Frankfurter gelehrten Anzeigen. Wir
dürfen also Herders Mitarbeiterschaft getrost schon vor
dem 7. Juli, dem frühesten von Caroline nach ihres Ge-
mahls Tode anerkannten Termine, voraussetzen. Bereits
am 28. April 1772 erschien die Recension über
1. Michaelis1 Mosaisches Recht (5,423—426),
die erste der in Band 5 aufgenommenen, im Druck. Herders
Yerhältniss zu Michaelis hat Suphan in der Einleitung zum
6. Bande (S. XII) besprochen. Noch in der Archäologie
des Morgenlandes hatte er ihn als den Meister alttestament-
licher Exegese und Alterthumsforschung gefeiert. An der
Schwelle der siebziger Jahre vollzog sich ein Umschwung
in seiner Beurtheilung. Die Polemik gegen ihn kam zuerst
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 227
in den handschriftlich erhaltenen (um 1771. 1772 entstan-
denen) Vorarbeiten für die Älteste Urkunde zum Ausdruck.
Yon gleichem Geiste eingegeben ist die Frankfurter Re-
cension über Michaelis1 Mosaisches Recht.
Nun ist eine Recension gegen Michaelis aus Herders
Munde selbst bezeugt (Neudruck S. XXXIX. LIX); un-
gewiss bleibt, ob das Zeugniss auf Michaelis1 Mosaisches
Recht oder auf desselben Versuch über die siebenzig Wochen
Daniels (unten S. 238) zu beziehen ist. Die Frankfurter
Anzeige der siebenzig Wochen ist diejenige, welche jetzt
durch die erwähnte Auffindung einer handschriftlichen Vor-
arbeit für Herder gesichert ist. Beide Anzeigen rühren
aber, das muss jeder Leser empfinden, von demselben Ver-
fasser her: Art und Form der Polemik stimmen zu greif-
bar überein.
Ich will nur ein paar Herder eigenthümliche Dinge
herausgreifen. Das Dattelland (Biledulgerid' war ihm aus
Shaws Reisen bekannt; schon in seiner Königsberger Be-
sprechung dieser Reisen geschieht dessen Erwähnung (1,81).
Der Ausdruck 'ein Schweben zwischen Himmel und Erde9
erinnert deutlich an eine Stelle in den Blättern Von Deutscher
Art und Kunst: 'zwischen Abgrund und Himmel schwebend'
(5, 169). Das Verbum 'ewigen' erscheint noch bei Herder
26,5. 28,26. 29,593. Charakteristisch für Herder ist die den
Gegenstand in sich selbst aufhebende Wendung 'eine Charte,
die keine Charte ist'; man vergleiche: 'Witz, der meistens
kein Witz ist' (5, 321), 'Sylbenmaas des Skalden, der eigent-
lich kein Sylbenmaas hat' (5, 328), 'Geschwätz an ein Volk,
das kein Volk ist, über Materien, die keine Materien
Bind' (Vom Einfluss der Regierung S. 18, künftig in Bd. 9),
'Fesseln der Gesetze, die keine Gesetze, der Sitten, die
keine Sitten waren' (ebenda 8. 82), 'Juden, die nicht Juden
waren' (Apokalypse Handschr. künftig Bd. 9), 'Schrift, die
keine Schrift mehr ist' (10,250), 'haereditas regia tarn
imminuta (erat), ut modo haereditas nulla (esset)' (5, 707),
und wenigstens davon beeinflusst: 'dass seine Wahl keine
Wahl ist' (5,461), 'weil die Mannigfaltigkeit fast allen
Versarten Platz gibt, sie fast aufhört, Versart zu seyn'
(5,418); dieselbe Construction wird noch später begegnen.
15*
228 Steig, Herden Antheil an den Frankf. geh Anzeigen.
Herders Autorschaft ist sicher. Seine Polemik gegen
Michaelis spinnt sich, offen oder versteckt, in andren Frank-
furter Anzeigen, in den 'Gefundenen Blättern7 (5, 276) und
in der Ältesten Urkunde (Bd. 6 an zahlreichen Stellen) fort
Die Fragen, welche Herder in der Becension als unerledigt
aufwirft, finden meist in der letztgenannten Schrift ihre
Beantwortung.
2. Übersetzung . . . des Pindar (5, 427).
Scherers schon im 17. Bande der Deutschen Rund-
schau ausgesprochene Yermuthung, dass die kurze Anzeige
dieser Übersetzung von Herder sei, ist zutreffend, und er
hat recht daran gethan, sie nicht zurückzuziehen (Neu-
druck S. LXIY). Was Düntzer dagegen anfuhrt (Hempel
23, XXVHI *), hält nicht Stich.
Die Recension ist in demselben Tone gehalten, in dem
Herder sonst Übersetzungen aus der antiken Litteratur zu
besprechen pflegt: z. B. Demosthenes' und Lysias' Reden
(5, 276) oder Lucians Schriften (5, 400). Ohne näheres Ein-
gehen auf das Wort-Detail wird der ästhetische Gesammt-
eindruck in grossen Zügen dargestellt. Pindar zu über-
setzen hatte Herder schon 1767 in der Ersten Fragmenten-
sammlung (1,293) aufgefordert. Er nahm dann KenntnUs
von Grillos ersten nicht glücklichen Übertragungsversuchen,
in denen Pindar 'oft seinen Sinn kaum wiederfinde9 (2, 140),
und gab in schwungvoller Rede die Gesichtspunkte an, aus
denen eine solche Arbeit anzugreifen wäre: 'Schade für uns
(fährt er fort), dass uns die Heilmanns entrissen werden,
und die Grillo's schreiben'. Er suchte im Dritten Kritischen
Wäldchen (3, 444) gegen Klotzens Vorwürfe das uöoq Pin-
dars zu retten. Diese Stellen muss man sich gegenwärtig
halten, um sofort zu erkennen, dass der Gedankeninhalt
unsrer Recension sich in derselben Richtung bewegt: Grillo
wird die Fähigkeit abgesprochen, der rechte Übersetzer
Pindars zu werden ; das Ideal einer Pindarübersetzung wird
mit derselben Wärme, zum Theil mit denselben Pindar ent-
lehnten Metaphern hingestellt. Recension: '(Pindar,) der
immer dabei nur Blumen und die höchste Blüthen zu pflücken
scheint' (vgl. noch 4,329. 17,271) = Bd. 2,141: 'der in
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 229
seiner Sprache die höchste Blüthe erhabner Gedanken und
Melodien brach' (vgl. 26, 189), und von dem Dichter des
Annoliedes, dieses Pindarischen Lobliedes (16,200. 212):
'wie er . . . gleichsam die schönste Blumen gepflückt hat'.
Von Pindars 'Mythologie' und 4Stadtgeschichten' (sieh das
"Wort auch 10,320) ist auch 3,446 die Bede; 'diesen so
mythologischen Dichter' nennt Herder den Pindar 11,65.
Den 'erhabnen Gang' und die 'Mythologie' Pindars, der vom
Lobe seines Siegers 'die höchsten Blumen bricht', rühmt
auch das anonyme Herder- Stück in Matthissons Briefen
1795 1,57 ff. (künftig in Bd. 9). Die Ähnlichkeit zwischen
der griechischen und deutschen Sprache, ihre 'Starke' wird
hier ebenso hervorgehoben wie in Bd. 2.1) Zu dem Aus-
druck 'Wortflechtung' gesellt sich l7toXv7tXo7ua der Worte'
(2,317) und 'in Constructionen verflochten' (2,312).
Auch sonst in der Form weist alles auf Herder hin.
Die Recension beginnt: 'Hiemit ist also . . . Pindar be-
schlossen'; so, von einer vollzogenen Thatsache aus, nehmen
auch die 'Gefundenen Blätter' (5,258) ihren Anfang. 'Morrast'
(mit dieser handschriftlich nur so begegnenden Orthogra-
phie) ist ein unaufhörlich von Herder gebrauchtes Wort,
z. B. 5, 724 (zu 264) und 6, 375 dreimal auf der Seite;
Düntzer irrt, wenn er meint, Herder würde eher 'Schlamm'
gesagt haben. 'Erkänntniss' wieder in Herderischer Ortho-
graphie. Echt Herderisch ist das musikalische Aus klingen
der Sätze, wie es durch die entsprechende Verwendung
voller Verbalformen erzielt wird : 'dienet' — 'hinnein sinket' —
'sich . . . vergleichet'. Den Schlussatz der Recension, dass
Pindars Art 'auch gewiss ungemein Deutsche Art seyn
könne' — diesen Schlussatz hat derselbe Mann geschrieben,
der gleichzeitig im Namen seiner jungen Freunde dem
Büchlein 'Von Deutscher Art und Kunst' seinen Titel ge-
prägt hat.
Herder hatte schon 1769 im Dritten Wäldchen (3,449)
angekündigt, er werde sich vielleicht einmal über Pindar
ausführlich erklären. Die Frankfurter Anzeige deutet einen
'künftigen Übersetzer' an. Dachte Herder damals — viel-
') Vgl. 5, XX, wo Saphan auf Herden gleichzeitige Briefstelle
'ungemein viel Deutsche Stärke1 etc. verweist.
230 Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen.
leicht unter frischer, von Heynes Edition ausgehender An-
regung — daran, seihst einen deutschen Pindar zu liefern?
Ein Theil der Band 26, 188 ff. abgedruckten Pindarüber-
setzungen gehört sicher der Zeit an, in welcher unsre Re-
cension geschrieben ward.
3. Benzler, Yelthusens gerettete Authenticität (5, 428 — 430).
Die Art und Weise, wie Herder sich über diese Re-
cension gegen Merck (Briefe 1,42) auslässt, ist so unan-
fassbar für uns Nichtwissende, dass wir nicht das Geringste
für oder gegen Herders Autorschaft schliessen können.
Scherer kommt nicht zu einem ganz sicheren Resultate
(Neudruck 8. XLII. LXV): 'wie es scheint (sagt er) ihm
mit Recht in Lemgo zugeschrieben'.
Der Frankfurter Recensent tadelt, dass Benzler nicht
auch das Buch, auf welches Yelthusen in seiner Schrift
antworte, mitübersetzt habe. So erhalte man blos ganz un-
ausstehliche Noten ohne Text: 'denn hier lässt sich der
Einwurf [Yelthusens] ja durch keinen Orpheus oder Odin
errathen'. Nun 'Orpheus, der Prophet9 (6, 397) ist an seinem
natürlichen Platze — aber Odin? Ja, hier schreibt doch
kein andrer als Herder, der in den Blättern von Deutscher
Art und Kunst (5, 178. 25, 470) des Alles erforschenden
'Odins Höllenfahrt9 mittheilte; man vergleiche noch 'Odins
Spruch9 (21,3. 340). Also auch hier, wie in der Pindar-
Recension, ein Berührungspunkt mit jenen Blättern; gleich-
wie auch Herders Klopstock- und Denis-Recensionen der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek in deutlich erkennbarem
Zusammenhange mit ihnen stehen (5,175. 327. 417). Auf
Herders Vorliebe für Ossian weist die ebenso sonderbare
Yergleichung eines späteren Eyangelienmanuscriptes mit
einer nichts beweisenden 'Irländischen Übersetzung9; die
Irländer bemühten sich nämlich (18, 448), durch dies letztere
Mittel Ossians Gedichte für sich in Anspruch zu nehmen.
Der Frankfurter Recensent bezeichnet Yelthusens Schrift
als 'ein Original ja, was kein Original ist9 — mit einer
Redewendung, die als Herderisch zur ersten Michaelis -
Recension bereits nachgewiesen ist. Zum Ausruf 'Himmel9
vgl. 5,50 (2 mal). 372, Von und an Herder 2, 152, Aus
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 231
Herders Nachlass 2,263. 355 und sonst; zu höchstens' vgl.
1,308. 5,136. 465. 509. 541 und sonst; zu 'von Grund aus'
vgl. 4,335; zu 'judaisirt' vgl. 'Judaismus' (19,393), 'ägyp-
tisiren' (6,506) und 'Ägypticismus', 'diegisirt' (19,390),
'evangelisiren' (19,381), 'hellenisirt' (19, 391), 'französirend'
(5,312), 'prosairt' und 'prosairend' (4,320. 5,427. 10,185);
zu 'Canzlermässig' die ähnlichen Bildungen 'Calendermässig9
(5,331), 'Schülermässig' (2,55), 'Schneckenmässig' und 'Halb-
f eenmässig' (Erinnerungen 1 , 208. 228), 'Bardenmässig' (5, 332
und öfters). Nachdem der Recensent seinem Ärger über
die Unzweckmässigkeit der Übersetzung Luft gemacht hat,
ruft er: 'Und nun zum Buche' — ähnlich wie Herder
5,340. 347.
Die in Yelthusens Buche besprochenen Fragen gehörten
in ein Studiengebiet, das Herder damals schon bebaute.
Der 'Ebionismus' wurde später von ihm in den 'Briefen
zweener Brüder Jesu7 (1775) und in den 'Christlichen
Schriften' (1794) behandelt, welch letztere in ihren Anfangen
zwanzig Jahre zurückreichen. Zwischen der Recension und
den genannten Schriften bestehen nicht blos sachliche Über-
einstimmungen, sondern auch wörtliche Anklänge. Man
vergleiche :
auch wollen wir der Authenti- 19,397: War das . . . Evan-
cität ihres [d. i. der Ebioniten] gelium, aus welchem Hiero-
Evangeliums, wie Hieronymus nymus, Origines, Justin u. f.
Stellen anführt, nicht das Stellen anführen, das Ori-
Wort reden ginal unsres Matthäus u. s. w.
sind (die Ebioniten) würklich der 7,517: [Der Name Ebioniten]
erste Stamm armer, dürftiger heisst Arrue,Dürftige,Bettler:
Christen ... bei ihrem Bettel-
zustande . . .
Das Evangelium Matthäi ist doch 7, 51 3 : [Das Evangelium Matthäi]
einmal, der Wahrscheinlichkeit war . . . Ebräisch vermuthlich
nach, Hebräisch geschrieben ge- geschrieben. 10,160: Ich unter-
wesen? suche nicht, ob er sein Evan-
gelium zuerst hebräisch geschrie-
ben (unwahrscheinlich ists nicht).
Das Evangelium Marci fängt ... 19, 391 : Markus fängt von der
doch nur vom Lehramt und Taufe Johannes an.
Taufe eben an
232 Sieig, Herders Antheil an den Frankf. geL Anzeigen.
Die beissende Ironie auf den Kanzler Mosheim hat
namentlich in der Ältesten Urkunde ihresgleichen: 6,468.
479. 482; man vergleiche aber auch 2,55, an Hamann bei
Hoffmann S. 55, an Heyne Von u. an Herder 2, 151 ; an
Zimmermann im October 1774 (Bodemann 8. 322): 4Mos-
heim hat sich ja mit der blanken Abhandlung gross gedünkt«
dass' u. a. w. ; der 'beschönigende Kanzler Mosheim9 erhalt
auch in einer Lemgoer Recension (10,366, künftig in Bd. 9)
seinen Hieb. Auf Rhenferd, den Yertheidiger der Ebioniten,
fallt in der Recension der Tadel, er habe 'auf einem zu
Etymologischen Wege für sie patrocinirt9. Als ein Beispiel
solcher zu etymologischen Patrocinirung fuhrt Herder 7,518
aus, Rhenferd habe den Ebionitischen Satz 'Jesus sei in
Adam herabgestiegen9 übel verstanden und übel gerettet, in-
dem er 'Adam für Mensch erklärte9.
'Wir müssen doch erst die Ebioniten recht kennen9 und
'Man sollte die Sache der Ebioniten untersuchen ... bis
auf die Wurzel9 — sagt Herder in dieser seiner Re-
cension. Der auch hier wieder auf die Zukunft gezogene
Wechsel ist von ihm in den Briefen zweener Brüder Jesu
und in den Christlichen Schriften eingelöst worden.
4. Lamberts 'Jahrszeiten9 und 'orientalische Fabeln9
(5, 430. 431).
Die Recension ist in allem, was gegen schlechte Über-
setzungen geeifert wird, ein Seitenstück zur vorigen. Beide
Originale werden schlankweg 'Wische' (5,428. 430) ge-
nannt. Benzler, Herdern persönlich bekannt1), wird noch
glimpflich behandelt; Lamberts Übersetzer dagegen als
'Ignorante von Übersetzer9 ausgescholten. Diese letztere
Ausdrucksweise ist bei Herder nicht selten: z. B. 'Post-
reiterchen von Amoretten9 (an Lessing bei Hempel 20,2.
278), 'Eselsbrücke von Vorlesung9 (5, 563), ( Welt von Frage'
(5,611), 'Brühe von Commentar9 (5, 421). Lieber möchten,
nach des Recensenten Wunsche, die wenigen guten, vor-
trefflichen Stücke fremder Nationen, 'die so selten, so lang-
sam, in so hohem Preise, mit so vieler Unbequemlichkeit
*) Vgl. die von Seuffert mitgetheilten Briefe Herders an Bender,
Archiv f. Litt.-gesch. 9,510. 509.
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 233
zu uns kommen', in Deutschland gedruckt werden. Das
mehrfach wiederholte 'so' ist ein Anzeichen für Herders
andringende, oft predigende Rede; z. B. 5,307: 'seine
Freude war ... so dunkel, so kurz, so untergeordnet9, oder
5,325: 'und denn so unregelmässig! so kurz! so wilde!9
Der Recensent erkennt sofort (was dem Übersetzer ent-
gangen war), dass Lamberts orientalische Fabeln aus Schich
Sadis Persischem Rosenthale stammten. Herder hatte aber
wie er an Hamann schreibt (bei Hoffmann S. 63), schon
1767 die Fabeln des Sadi im Journal ötranger gelesen.
'Ich kenne unter spätem Schriften des Orients kein schöner
Buch, als das Persische Rosenthal von Schich-Sadi' schrieb
er 1 780 im Einfluss der Regierung (künftig Bd. 9), und —
4 Sadi war mir in meinen jungen Jahren ein angenehmer
Lehrer der Moral9, bekannte er 1792 in der Vorrede zur
4. Sammlung der Zerstreuten Blätter (16, 3 und 26, 370.
26, 309 und 488). Herders eigne Übersetzungsversuche
datiren zum Theil schon aus dem Jahre 1774 (12,374.
26, IX). Endlich mit Burkes Essai on the Origin of the
Ideas of Sublime and Beautiful, vom Recensenten erwähnt
und gut gekannt, war Herder seit 1767 innig vertraut.3)
Kurz, in jedem Worte, in jedem Gedanken dieser mühelos
hingeworfenen Recension weht Herders Athem.
5. Denina, Staatsveränderungen (5,431 — 435).
Nach Scherer wäre die Recension 'durch Goethe und
Petersen gut bezeugt7 (Neudruck 8. LIX). Indessen läset
sich aus Goethes kahler Meldung an Herder: 'Eben krieg*
ich Nr. 54 der Frankfurter Zeitung9, worin sich die Re-
cension über Denina findet, überhaupt nichts schliessen;
und Petersen vermuthet nur. Ein Beweis ist nicht versucht
worden.
Wenn der Recensent Deninas Buch als einen würdigen
'Beitrag zur Philosophie über die Schicksale der Welt und
des Menschengeschlechts9 preist, so hören wir einen Vor-
klang des Titels, den Herder für seine erste historisch-
philosophische Schrift wählte: 'Auch eine Philosophie der
•) Vgl. Snphan, Herder als Schüler Kants, in der Zeitschrift f.
deutsche Philol. 4, 228 ff.
234 Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen.
Geschichte zur Bildung der Menschheit Beytrag zu vielen
Beyträgen des Jahrhunderts'. Der ausgeprägt Herderische
Standpunkt: kein Sprung in der Geschichte, sondern all-
mählicher Fortgang — ist durch die ganze Recension er-
kennbar. Die 'Einführung der Christlichen Religion zur
Souveraine Europens' wird auch 5, 521 als die gewählteste
'Zumischung' hingestellt. Wie dem Recensenten 'der Ver-
fall der alten Tyrrhenischen Kultur, Kunst und Wissen-
schaft immer einer der beträchtlichsten Unglücksfalle des
menschlichen Geistes geschienen hat, da uns völlig die
Mittelstufe zwischen Egyptern und Gelten in den Abgrund
gesunken ist9, so lesen wir in einem gleichzeitigen Briefe
Herders an Heyne (August 1772): 'Heil Ihnen zu Etrurien .'
. . . Das Land scheint ein Knote in der alten Literatur zu
seyn, Brücke vielleicht zwischen Ägyptern, Griechen und
Gelten, die ins Meer gefallen ist'. Es gefallt 'dem Re-
censenten, dass der Autor sich weniger bei den Ursachen
der Blüthe, des Aufsteigens, als des Absteige ns aufge-
halten' — für Herder erklärlich, der damals schon alle
Materialien beisammen hatte, um nicht viel später seine
zweite Preisschrift 'Über die Ursachen des gesunkenen
Geschmackes9 niederschreiben zu können. Der Ausspruch
über den 'verkannten grossen Gothen Theodorich, der doch
noch seinen Cassiodor fand' zeigt dieselbe Verbindung bei-
der Namen, wie ein bisher ungedruckter (5, 650 *) : 'der
Eine Cassiodor unter dem Gothischen Dieterich7, und Vom
Einfluss der Regierung (8. 78, künftig Bd. 9) : 'Theodorich
durch seinen Cassiodor'. Zu der ganzen Stelle von den
erliegenden Säulen des Schicksals muss man sich ver-
gegenwärtigen, was Herder in MAP AN AQA 8. 115
(künftig Bd. 9) über das Ende von Ananus und Jesus sagt:
'was ist schöner, als in einem verfallenden Staat das letzte
Zwei solcher Zeugen! Pfeiler, die das zum Sturz krachende
Gebäude noch stützen, noch tragen wollen . . . Meistens
aber haben sie auch das Schicksal dieser edlen Männer:
die Pfeiler erliegen unter dem Schutt'. Das Bild von
der 'Nadelspitze' wird in der handschriftlichen Vorstufe
wie in der Druckgestalt des Büchleins 'Auch eine Phi-
losophie' verwendet (5,534l. 546 4). In Übereinstimmung
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 235
mit der Recension eifert Herder immer und immer wieder
dagegen, dass man nicht 'in Voltairs Ton auf die Macht der
Geistlichen schmäle' ; ich verweise dafür nur auf 5, 363. 486.
679. 6, 284 Ä. 395. 7,180. 181. Wenn dem Recensenten
'der Autor da am ungefälligsten ist, wo er die Wege des
Pabats, der Karl M. nach Italien rief, verschönen . . . will9,
so regt sich hier dieselbe oppositionelle Stimmung, aus der
heraus Herder schon 1767 gegen Karl den Grossen als 'ein
Geschöpf von Rom, einen Sohn des Pabstes' sich ereifert
(1,365) und 1770 sein Gedicht 'Karl der Grosse9 verfasst
hatte (29,335); es sei auch noch auf 5,709 und 18,381
aufmerksam gemacht. Der in der höchsten Höhe gewählte
geschichtsphilosophische Standpunkt des damals noch frei-
gesinnten Herder kann nicht treffender gezeichnet werden,
als mit den Worten der Recension: 'Ein Geschichtschreiber
der Menschheit sollte eigentlich keine [d. i. im Zusammen-
hange: keine specielle] Religion haben dörfen'. Denn nie-
mand als ein Priester Gottes, im allerweitesten Sinne, war
nach Herders Meinung (7,300) befähigt und bestimmt, der-
einst die wahre Geschichte der Menschheit zu schreiben.
Sprachliche Einzelheiten darf ich, angesichts dieser
Beweismasse, übergehen. Die Recension ist ein Glanzstück
Herderischen Jugendstiles. Sie ist geschrieben aus der vollen
Begeisterung heraus, mit der sich Herder damals rüstete
zu den grossen schriftstellerischen Würfen, die er in 'Auch
eine Philosophie7 und in den 'Ideen' mit einem Erfolge
sonder Gleichen wagte.
6. Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie
(5, 436—440).
Von Herder selbst als sein Eigenthum anerkannt.
7. Semler, Paraphrasis Evangelii Johannis (5,440 — 444).
Heyne erkannte in der Recension sofort nach ihrem
Erscheinen Herders Feder (an Herder 6. August 1772). Der
Beweis lässt sich jetzt aus untrüglichen Stilparallelen er-
bringen.
Auf diese hat Suphan zuerst hingewiesen, als er 1884
im 7. Bande seiner Ausgabe einige Proben aus der 1773.
1774 entstandenen, aber nicht veröffentlichten Schrift 'Jo-
236 Steig, Herden Antbeil an den Frank! geL Anzeigen.
hannes1 darreichte. Man lese den hochpoetischen Ergn«»
am Eingang der Recension und vergleiche dann 7, 324 : "der
Adler Johannes schwingt hier schon, wie unter dem Sonnen-
lichte Flügel9; 7,323: 'Und wie sie [die Vorrede Johanne«'
auf Adlersflügeln fortschwebte1; Handschrift a pag. 8* : 'Hier
ist das Evangelium Johannes in seinem Adlerfluge an:
seiner höchsten, wärmsten Lichthöhe! neues urkundliche*
Evangelium der Sonne zunächst1 ; MAPAN A&^t 8. 32S
von Johannes : 'der Sonnenadler voll Schwung1 ; Lieder der
Liebe (8,549) vom Jesaias: 'der Sonnenfliegende Adler.
Wie in der Recension die 'reine, hohe Idee, mit der er
Christum auffasst1 gepriesen wird, so ruft Herder im * Jo-
hannes' bewundernd aus: 'Wie rein und Himmlisch du
deinen Meister vorstellest1 (7, 318). 'Licht und Leben7 ist
in der Schrift 'Johannes1 (7, 322. 324) und sonst (19, 379
stehende Bezeichnung Christi. Das die Einleitung der Re-
cension abschliessende Johannes-Citat von 'der strafenden
Herrlichkeit des Eingebohrnen1 findet auch 7, 324 warm-
herzige Auslegung.
Johannes1 Darstellung wird in der Recension verglichen
dem Gemälde eines 'Malers, der seinen Pinsel in Sonnen-
glanz tauchte1; in Herders Lobgesang auf Winckelmann
heisst's ebenso (29, 302) :
Doch wer vermag
in Sonnenglut zu tauchen
den Lobgesang, der Farben noch erlag!
Semlers Buch bringe 'keine mystische Deuteleien! keine
dogmatische Wortpressungen1 vor, betont mit Nachdruck
der Recensent; auch 7, 325 (vgl. 323) lehnt Herder alles
ab, was über gewisse Johannes- Verse 'Mystisch geschrieben
und Dogmatisch gestritten worden1. Allerdings furchtet der
Recensent, ob Semlers 'Paraphrase nicht den Sinn des
begeisterten Johannes oft ganz wegspüle1; jede 'Sinnweg-
spülende Paraphrase1 erregt auch 7,327 Herders Wider-
willen.
Das Eintreten für Semler ist verquickt mit polemi-
schem Hohn auf Michaelis. Wenn der Recensent erklärt,
dass ihm die auch Semler vorgeworfene 'Ketzerei blos als
eine Variante der Denkart gilt1, so redet hier Herder der
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 237
theologische Libertin', der sich bald 'in einen mystischen
Begeisterer' verwandeln sollte. 'Herr Semler sollte sich
also (so heissts wörtlich in der Recension) über vieles Ge-
quak so wegsetzen, als obs gar nicht da wäre, und wie
der Mond am Himmel wegscheinen, wenn auch
unten Geschöpfe4) bellen' — und wir erkennen darin
mit Carl Redlich (29, 104 und Anmerkung dazu) eine Selbst-
reminiscenz Herders an das schon im Silbernen Buch vor-
handene, und 1772 zuerst veröffentlichte Gedicht 'Der Mond':
Und grämt dich, Edler, noch ein Wort
Der kleinen Neidgesellen?
Der hohe Mond, er leuchtet dort,
Und lässt die Hunde bellen
Und schweigt und wandelt ruhig fort,
Was Nacht ist, aufzuhellen.
Der Recensent tadelt aber an Semler, dass er 'beinah Alles
streitend von sich giebt5 — dieser Tadel macht sich auch
in Herders Briefen an Lavater, in den Gefundenen Blättern
und namentlich in der Spottode auf Semler (29, 744) geltend.
Noch zwei sprachliche Kleinigkeiten. Die Crebillon-
schen 'Sinesischen Kaminpuppen' werden genau ebenso in
gleichzeitigen Schriften Herders erwähnt: 5, 260. 642. Die
wenigen Schlussbemerkungen über eine andre Schrift Sem-
lers5) führen sich mit folgendem Satze ein: 'Eben das ist
die Ursache, warum der Rec. von seiner freyen Unter-
suchung des Kanons .... wenig sagen kann'; genau die-
selbe formelhafte Wendung findet sich 1,534 (zu 35). 5,337.
649. 8, 533. 18, 108. 25, 329. Aus Herders Nachlass 2, 206.
Die Recension ist also von Herder. Sie ist seine
frühste publicistische Äusserung über das Johannes-Evan-
gelium. Die Samenkörner liegen ausgestreut, schon regt
sich ihr Trieb. 'Wer ist, der uns diese Zweifel nicht durch
Kritik, sondern durch Beispiel löse ?' fragt Herder. Wieder
eine Selbstankündigung. Dies Beispiel hat er selbst in der
Schrift Johannes zu geben versucht.
*) Gemeint ist: Michaelis.
•) Das auch 5, 268 citirte Buch befand sich in Herders Bibliothek.
238 Sieig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen.
8. Michaelis Versuch über die siebenzig Wochen Daniel*
(5, 445—447).
Es wurde schon oben (S. 227) darauf hingewiesen, d*&
Herders Autorschaft für diese Recension jetzt ausser Zweifel
gesetzt ist, da sich in Herders Nachlass eine handschrift-
liche Vorarbeit, den Baum einer Quartseite einnehmend,
gefunden hat. Die Recension ist vorwiegend kritisch-ne-
gativ ; Herder lehnt es am Schlüsse direct ab, als 'Zeitungs-
schreiber' eine eigne Auslegung der siebenzig Wochen
Daniels geben zu wollen. Wie eingehend er sich aber da-
mals mit Daniel beschäftigte, lehrt sein Buch BtlAPAS
AQA fast auf jeder Seite.
9. (Harmars) Betrachtungen über den Orient (5, 448 — 452).
Diese von Caroline und Passavant mit Recht Herder
zugeschriebene Recension kündigt sich, gleich derjenigen
über Semlers Johannes-Paraphrase, durch den schwang-
vollen Eingang an. All die prächtigen Bilder erscheinen
schon hier, die dem Abschnitt über Morgenland in der
Schrift 'Auch eine Philosophie' (5, 480. 483) und dem vierten
Buche der Ältesten Urkunde (Bd. 7) ihren Glanz verleihen.
Die 'Menschen, die noch halb als Gewächse leben9 werden
in jener z. B. auch als 'Menschengewächse' (5, 448) be-
zeichnet; vom 'Zauberboden' des Morgenlandes heisst es in
dieser (7,33): 'Orient aber ist ein Feenland'. In Herders
Manier werden 'Orient' und 'Morgenland' wie Eigennamen
ohne Artikel gebraucht. Mit dem von Herder vielfach
citirten Johannes-Wort 'Der Wind blaset' u. s. w. schliefst
der erste Abschnitt der Recension.
Harmar wird in der Recension vorgeworfen, dam er
viele andre Reisebeschreibungen auf die flachste Weise ge-
braucht habe; dasselbe Urtheil in den Liedern der Liebe
(8,529): 'In Harmars armen und einfaltigen Materialien zum
Hohenliede stehen sie auch (die Briefe der Lady Montague):
und diese sind fast ganz aus ihnen gezogen'. Harmar wird
demnach in den 'Liedern' sonst gar nicht, Hasselqnist aber
und Niebuhr häufig citirt. Der Recensent tadelt an Harmar
das 'Eümmelschneiden von Erläutern', dieses armselige Ge-
schäft eines kleinlichen Splitterrichters, eines — 'Kümmel- '
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 239
Schneiders7 (11,58). Die streitende 'Kommentarsuppe' er-
innert an den im gleichen Sinne van Herder gebrauchten
Ausdruck 'Brühe von Commentar' (5, 421). Dass 'der gute
gesunde Menschenverstand nicht aus dem Bibellesen ver-
bannt werde9 — das wird Herder nie müde seinen Lesern
einzuschärfen, nirgends vielleicht eindringlicher als im ersten
Briefe, das Studium der Theologie betreffend (10,1 ff.). Was
man unter 'Rubens Dudaim' zu verstehen habe, berührt
Herder auch 1, 82. 4, 84 und in den Liedern der Liebe
(8,523 f.). Wieder verdeckte Polemik gegen Michaelis!
Dieselbe Bespöttelung seiner 'berühmten und unmaasgeblich
entbehrlichen Fragen an Wallfahrten, die solcher entbehr-
lichen Fragen wegen entbehrlich gereiset sind', wie bei
Herder 1,133 und 6,466 Anm.6) Das Bild vom 'Golde'
in 'Schlacken' kehrt in Herders Schriften immer wieder:
z. B. in der Semler- Recension (S. 444), im Johannes-Com-
raentar (7,318). Die physische Erklärung des Flammen-
windes Sammiel wird am Schlüsse der Recension als lächer-
lich abgelehnt; Herder selbst giebt eine metaphorisch-sym-
bolische Deutung in MAP AN AQA S. 96, und schon in
der 1774. 1775 fertigen Vorstufe S. 30 b, welche künftig in
Bd. 9 aus der Handschrift ganz abgedruckt werden wird.
Nehmen wir noch orthographische Eigenheiten (z. B.
Sprachkänntniss) und musikalische Wortklänge (z. B. durch-
reiset sind) hinzu, so müssen wir bekennen: derRecensent
ist Herder.
10. Miliar, Bemerkungen über den Unterschied der Stände
(5, 452—456).
Miliare Bemerkungen sind eine Hauptquelle für Herders
Schrift Auch eine Philosophie; zwischen dieser Schrift und
der Frankfurter Recension ergeben sich entscheidende Pa-
rallelen des Inhalts und des Stils.
In beiden wird die Sklaverei besprochen. Wie der
Recensent voll Theilnahme darauf hinweist, 'was in dem
alten Deutschen Eigentumsrecht . . für Sicherheit . . ge-
•) Michaelis hatte nämlich 1762 seine 'Fragen an eine Gesell-
schaft gelehrter Männer, die . . . nach Arabien reisen' veröffentlicht.
240 Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen.
wesen', so bedauert Herder (5, 534) den Untergang der
'Altgothischen Freiheit - Stände - Eigenthums - Form9. Der
Feudalzustand hat nach dem Recensenten viel 'Grossherr-
liches, Kühnes und Kräfteerweckendes' gehabt; denselben
Zeiten rühmt Herder (5, 524) ihr 'Vestes, Bindendes, Edles
und Grossherrliches' nach; vgl. 8,400. Die Recension spricht
verächtlich davon, 'dass uns gegenwärtig [nach Abschaffung
der altdeutschen Beschränkung] ein Ordensband mehr
fesselt, als' u. s. w. — bitter tadelt Herder (5, 553), dass
seitdem das lächerliche [ironisch gemeint!] Ritterthum ab-
geschafft sei, 'Ordens [-Bänder] zu Leitbändern der Knaben
und Hofgeschenken erhoben' seien ! Wenn in der Anzeige
als Ziel geschichtsphilosophischer Betrachtung der 'Aufflog
des menschlichen Geistes in den Rath der himmlischen
Wächter' bezeichnet ist — so geschieht das schon im Stil
der Apokalypse, der sich auch bereits in der Schrift Auch
eine Philosophie ('Stimme der himmlischen Wächter', 5, 514)
ankündigt und geltend macht.
Ich will von auffalligeren Wortanwendungen nur be-
merken, dass Qeiog auch 2,135 und MAPAN A&A S. 322
steht; dass Behemoth — in dem Sätzchen: er sei Frosch
oder Behemoth — auch 29, 442 (1773) und in einem Briefe
Herders an Hamann (1774, Hoffmann S. 81) vorkommt, und
dass, ob Behemoth der Elephant oder das Nilpferd sei ? im
fünften Gespräch vom Geist der Ebräischen Poesie erörtert
wird. Zu der Construction von 'vorbeigehen' mit dem
Accusativ vergleiche man die ausführliche Anmerkung 5, 716.
Es kann nach allem nicht zweifelhaft sein, dass Herder
der Recensent ist. Er lässt, so anerkennend er Hillare
Buch im ganzen recensirt, doch an mehreren Stellen durch-
blicken, dass er nicht voll befriedigt sei; im selben Sinne
hatte er im Juni 1772 an Heyne geschrieben (Von und an
Herder 2, 139): 'Miliar hat weniger, als ich hoffte'. Die
von Herder zu Anfang aufgeworfenen Fragen deuten an,
wo seine Richtung abwich; aber sagt er, 'der Recens. ist
zu blöde, diese Fragen schon beantworten zu wollen'. Die
Antwort erfolgte erst 1774 in seiner Schrift Auch eine
Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
Steig, Herders Antheil an den Frankf. geL Anzeigen. 241
11. James Beatties Versuch über die Natur (5,456—462).
Die Recension ist Herder zu- und abgesprochen worden;
vgl. Neudruck 8. LXXXIV. Scherers farbenschimmernde
Abgrenzung Goethischer und Herderischer Recensionsmanier
hilft gewiss nicht in diesem einseinen Falle weiter. Es
läs8t sich aber der Beweis für Herder erbringen.
Herder las das Buch, wie sich aus jenem Briefe an
Heyne (Juni 1772) ergiebt, gleichzeitig mit Millars Unter-
schied der Stände ; sein Urtheil lautete : 'Beattie kann auch
noch nicht recht9. Der Frankfurter Recensent ist gleich-
falls nicht in allen Stücken mit Beattie einverstanden. Die
Entscheidung aber bringt Herders Brief an Hamann vom
1. August 1772 (Hoffmann S. 69): 'Beattie ist ohnstreitig
der groste unter ihnen dreien7): aber der gute Mann hat
in einem ganzen Buch weniger gesagt, als Sie auf der Einen
Seite von Sokrates Glauben und Nichtswissen'. Denn
diese Seite aus Hamanns Sokratischen Denkwürdigkeiten,
'die (nach den Worten der Recension) den Hauptinhalt des
Buchs angibt und mit ein paar feinen Zügen vielleicht mehr
als das ganze Buch [Beatties] saget9, steht in vollem Wort-
laut am Schlüsse der am 20. October gedruckt erschieneneu
Recension !
Das ist Beweis genug. Doch kann ich es mir nicht
versagen, noch auf zwei eclatante Dinge hinzuweisen. Herder
hatte die Gewohnheit, gewisse Lieblingscitate immer von
neuem anzubringen. Die in die Recension eingeflochtene
Vergleichung: 'so wie jener Kardinal denAriost fragte, wo
er alle solch närrisch Zeug zu seiner Epopee herbekommen
habe?9 hatte schon in der ersten Fragmentensommlung
(1,265) ihren Dienst thun müssen; denn da lesen wir (worauf
Suphan mich hinwies) bereits die Frage, 'die der Cardinal
von Este an seinen Ariost that: mein lieber Ludwig, wo
habt ihr alle das närrische Zeug herbekommen?9 Aus
21,122 gesellt sich dazu noch 'jene Cardinalsfrage: dove
ha pigliato9. — Und zweitens: das zweizeilige englische
Citat aus Cowley 'Alas! our sight's9 etc. wird genau in
derselben Weise auch 15,290 und 24,59 angebracht.
7) Vorher ist von Ferguson und Miliar die Rede.
Viertejjahnchrift Ar Iittentuigosohichte V 16
242 Steig, Herden Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen.
12. Hartes, de vitis philologorum volumen IV (5,463— 466).
Herder kannte die früheren Bände dieses Buches. Er
citirt 1769 den ersten Theil (3,242* b und 275). Er unter
zieht im Dritten Kritischen Wäldchen (3,441) die Tita
Klotzii einer abfälligen Kritik. Was er an ersterer Stelle
und bei ähnlichen Anlässen (5,272. 318. 319) bemängelt :
die breite Besprechung ge wohnlicher 'Lebensumstände7,
wird auch in unserer Becension getadelt.
Herders Autorschaft verräth sich aber schon durch zwei
äusserliche Merkmale. Die Frankfurter gelehrten Anzeigen.
Original wie Neudruck, bieten den Namen des einen Philo-
logen nur in der Form 'Caftel'. Der Mann heisst aber gar
nicht so, sondern nach Ausweis von Harles* Buche (Cassel\
oder nach Herders Art zu schreiben: 'CaSel'.*) Jeder, der
mit Herder-Handschriften zu thun gehabt hat, weiss, wie
schwierig bisweilen die Unterscheidung seiner Schriftzeichen
für ß und ft ist.*) Der Setzer hatte also ein Manuacript
von Herders Hand vor sich und las und setzte falschlich:
'Caftel'. Ein in seiner Gröblichkeit überraschendes Seiten-
stück bietet der Teutsche Merkur v. J. 1776 (3, 9, künftig
Bd. 9) in Herders frühestem Hütten- Aufsatz, wo kurz hinter
einander die Unformen 'Ulyftes' und 'Odyftee' stehen ge-
blieben sind. — Zweitens: Dreimal wird in der Becension
Ruhnken, der holländische Gelehrte, erwähnt; jedesmal wie
auch im Neudruck steht 'Ruhnke' (5, 730 zu 465). Wieder
Herders Spur: dieselbe Form 'Ruhnke' begegnet nämlich
auch in dem aus der Handschrift abgedruckten Journal der
Reise (4,424).
Bei Reiske und Tib. Hemsterhuis verweilt die Re-
cension mit sichtlicher Vorliebe; das stimmt mit Herders
Hochschätzung beider Männer. Reiske galt ihm als der
'gelehrteste Araber, den unsre Nation gehabt hat' (18, 40);
die Recension nimmt gleichfalls auf seine Verdienste im
Arabischen Bezug. Reiske hatte dem von ihm besorgten
Registerbande zu den ins Deutsche übersetzten Abhand-
•) Handschriftlich bei Herder z. B. stets 'Oßian', 'Leßing', 'Ronßeao'.
*) Verwechselungen von 'müße' und 'müfte* z. B. sind in Herders
Originaldrucken häufig.
Sieig, Herden Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 243
langen der Pariser Akademie der Aufschriften10) einige
Anmerkungen über die Abhandlungen selbst zugefügt : 'die
kurze Anmerkung (meint der Recensent), die Reiske über
einige Arbeiten der Herren von der Akademie macht, ist
oft mehr werth, als die Abhandlung selbst'. Damit ver-
gleiche man folgende Stelle der Ältesten Urkunde, wo
Reiske so citirt wird (6,236): 'S. Reg. zu den übersetzten
Bänden der Akad. der Inschr., wo der Deutsche Register-
band fast mehr werth ist, als die meisten Herrn in corpore
selbst'. Man wird nicht zweifeln, dass beide Stellen aus
derselben Feder geflossen sind — dass also die Recension
von Herder geschrieben ist.
14. Lettre sur l'homme et ses rapports, vom Jüngern
Hemsterhuis (5, 466—470).
Die Eingangsworte dieser Recension beziehen sich auf
die Anzeige von Hemsterhuis' Lettre sur les dfoirs, vom
12. Mai 1772 Nr. XXXVIII. Liest man beide Anzeigen
hintereinander, so empfindet man ganz bestimmt, dass sie
nicht von 6inem Verfasser herrühren können. Wenn es
zutrifft, dass die Anzeige der Lettre sur les dösirs von Merck
geschrieben ist, so muss für die Lettre sur l'homme ein
andrer Recensent gesucht werden.
Gewisse äussere Spuren, denen Scherer (Neudruck
S. XLII) nachgegangen ist, führen auf Herder, dessen nahes
litterarisches Verhältniss zum jüngeren Hemsterhuis bekannt
ist. Caroline war jedoch wegen Herders Autorschaft zweifel-
haft (ebenda S. LXV); Scherer fragt: 'rührt also die, ob-
gleich sehr ruhige Analyse des Essai sur l'homme . . . von
Herder her?9 Ich glaube, mit Ja antworten zu dürfen.
Es muss auffallen, dass die Recension über die wich-
tigsten Theile des Buches hinwegeilt und nach denjenigen
Dingen hindrängt, welche von Herder in seiner ersten
Preisschrift über den Ursprung der Sprache behandelt wor-
den waren. Die Preisschrift geht davon aus, dass Seufzer
und Töne, die ein 'leidendes' Thier, 'ein empfindsames
Wesen' ausstosse, schon Sprache seien; es gebe eine Sprache
*•) 'Aufschriften1 und 'Inschriften1 bei Herder in derselben Be-
deutung.
16*
244 Steig, Herden Antheil an den Frankf. gel Anseigen«
der 'Empfindung'; durch unwidersprechliche Anzeichen weide
erwiesen, 'dass der Mensch sie ursprünglich mit den Thieren
gemein habe9 (5,7). Ähnlich in der Becension: 'dies em-
pfindende Wesen verhält sich dabei leidend, und diese
Art, Ideen zu empfangen, hat der Mensch mit dem
Thiere gemein9. Herder lehrt ferner im Ursprung der
Sprache, dass die Sprachbildende Vernunft 'Zeichen' oder
'Merkmale' von den Gegenständen nöthig habe; nach der
Recension hat ein denkendes Wesen 'Zeichen, die nicht
die Gegenstände selbst sind, die aber mit den Gegenständen
übereinstimmen9. Der Recensent beleuchtet dann den Un-
terschied zwischen Mensch und Thier; Herder hatte sich
auch im 'Ursprung9 mit diesen Fragen beschäftigt und die
Hoffnung ausgesprochen (5,29*. 22), zu andrer Zeit sich
an die Theorie von den Fähigkeiten der Thiere und Menschen,
vielleicht nicht ohne manches Licht für beide Psychologien
wagen zu können. Es ist in Herders Anschauung und
Ausdrucks weise, dass das Thier bei dem beschränkten
Kreise seiner Bedürfhisse mehr 'Nationalcharakter9 habe
als der Mensch (vgl. 5, 22. 501. 550. 551. 568). Der Mensch
ist nach dem 'Ursprung' (5,112) ein Geschöpf der Heerde,
der Gesellschaft; 'wir gesellschaftlichen Menschen*
heissts ein andermal (5, 113); dazu nehme man die bisher
ungedruckte Stelle (5, 148): 'So wenig hat uns die Natur
als Inseln, als abgesonderte, einzelne Steinfelsen ge-
schaffen9 — und vergleiche damit den Satz der Recension,
'dass sich der Mensch als eine Insel, ohne Gesellschaft,
nur als ein verstümmeltes Wesen denken lässt9. Die An-
führung grösserer Stellen aus dem zu besprechenden Buche
im Wortlaut geschieht, ebenso wie in der Frankfurter An-
zeige, auch in den für Nicolais Bibliothek gearbeiteten Re-
censionen. Und es fallt bei allen diesen Ähnlichkeiten ins
Gewicht, dass der Recensent nicht durch den deutschen
Text des Buches beeinflusst war. Er besprach das fran-
zösische Original, keine Übersetzung.
Ich bedenke mich nicht, die Recension für Herder in
Anspruch zu nehmen. Allerdings hält sich ihre Sprache
ruhig. Aber das kommt daher, dass Herder sich mühsam
durch das seiner bisherigen Betrachtungsweise vorangeeilte
Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 245
Buch durcharbeitet. Sowie er sich aber frei fühlt, wie er
zur 'hellen Seite dieses Gebäudes9 gelangt ist, da bricht
die Fülle und Pracht seines Stiles hervor: 'Er müsse sich
begnügen (sagt er), die Leser durch den dunkeln Yorhof
und die wunderbaren Säulengänge dieses Tempels begleitet
zu haben'. Dasselbe Bild in der Bardenrecension (5,360):
4ists nicht, als ob man aus einem .... dunkeln und un-
geheuren Gothischen Gewölbe in einen freien Griechischen
Tempel käme, und da ... in einem schönen regelmässigen
Säulengange wandelte?' — und sonst oft z.B. 5,651. 11,58.
18, 244.
Freilich der Plural 'Organen' und das Compositum
'Thierenseelen' sind auffällig. "Wenn mir auch die erstere
Form aus dem frühesten handschriftlichen Nachlass und aus
einer Lavater-Reoension in der Lemgoer Bibliothek (10, 335,
künftig Bd. 9) bekannt ist, so scheint mir 'Thierenseelen'
schwerlich eine Herderische Wortbildung zu sein. Möglich
ist, dass die Druckerei dies wie sonst manches andre ver-
schuldet hat; vielleicht war es aber in diesem Falle der
Redacteur selber. Ich vermuthe nämlich, die rein formellen
Einleitungssätze, denen ich nichts Herderisches nachzu-
fühlen vermag, nämlich:
Wir freuen uns, diese neuere Schrift des Jüngern Herrn
Hemsterhuys anzeigen zu können. Sie ist eine Fortsetzung der
nur flüchtig in dem letztern Brief sur les desirs angegebenen
Hauptideen seines Systems, die sich noch ferner in einem grossem
Werk: sur les progres des sciences entwickeln werden —
dass diese Sätze weiter nichts als eine Redactionsanmerkung
von Merck sind; und dass Herder selbst erst mit den
Worten 'Es thut uns leid' u. s. w. voll einsetzt. Ähnliches
ist auch Herders Bardenrecension und seiner Besprechung
der Sulzerschen Allgemeinen Theorie von Seiten Nicolais
widerfahren.
14. Essays on Song-writing (5, 470—474).
Der Herderische Ursprung dieser Recension ist mehr-
fach vermuthet worden; Caroline zweifelte jedoch; Scherer
traut sie Herder nur unter Annahme der Selbstverleugnung
im Stil oder einer Merckschen Umschrift zu. Die Echtheit
lässt sich aber positiv erweisen.
246 Steig, Herders Aotheil an den Frankt gel. Anseigen.
Herder schreibt in dem nämlichen Briefe, worin er sieh
über Beattie äussert (oben S. 241), an Hamann folgendes :
'Eben bekomme ich von einem Freunde, der mich 20. Meilen
entfernt mit Englischen Büchern versorgt [d. i. doch Merck],
Essai on Song-writing, daran aber wenig mehr, als Prof ace
für eine Sammlung Engl. Modelieder, die unter die Klassen
von Ballade and Pastor. Songs, 2) passionate and descriptive
Songs, 3) ingenious and witty Songs gebracht sind, seyn
möchte'.
Die Recension hat dieselbe Stoffanordnung. Die 'vor-
ausstehenden Versuche über die Liedergattung' [d. i. die
Preface] erhalten das Lob, dass sie 'die Theorie dieser
Art Gedichte mehr auseinander setzen und bestimmen sollen,
als es bisher geschehn ist'. Dann werden die vom unge-
nannten Verfasser aufgestellten drei Klassen besprochen.
'Die erste Klasse nennet er Balladen und Hirtengesänge'
(S. 471). 'Die zweite Klasse sind die passionate and de-
scriptiYe songs' (S. 472). 'Und nun die dritte Sammlung,
ingenious and witty songs' (S. 473). Diese Übereinstimmung
zwischen Brief und Anzeige kann nicht zufallig sein.
Aikins Essai on Song-writing befand sich nach Suphans
Angabe in Herders Bibliothek; vertraute Kenntniss desselben
zeigt er auch sonst loh gebe ein paar Proben von Über-
einstimmung zwischen der Recension und den Volksliedern.
Die in der Recension erwähnten neueren Stücke 'Tickeis
Colin und Lucy Mallets William and Margret' werden hier
von Herder folgendermassen eingeführt: 'Roschen und Kolin.
Englisch. Man spürt wohl, dass die Romanze neu ist. Sie
ist von Ticker (25, 301. 669 zu 180) — und: 'Wem diese
alte Romanze [Wilhelm und Margreth 25, 192] nicht gefällt,
der lese die folgende neuere', die 'folgende neuere' aber
bezieht sich, nach Redlichs Anmerkung 25,669, auf Mallets
Ballade Gretchen und Wilhelm (25,561) aus den JSssais on
Song-writing. Ramsay, Gay, Prior, Shenston (so ist statt
'Jhenston' auf S. 472 ohne Zweifel zu bessern) sind gleich-
falls in den Volksliedern mit einzelnen Stücken vertreten,
loh kann Scherer nicht beistimmen, dass in der Recension
Selbstverleugnung des Stils oder Mercksche Umschrift vor-
liege. Die Sprache scheint mir durchaus Herderisch, von
Steig, Herden Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen. 247
Anfang bis zu Ende. Selbst eine solche Wendung wie
'Klassifikation . . , die eigentlich nie eine genaue Klassi-
fikation werden wird9 ist wieder vorhanden. Die Becension
fallt in das Gebiet derjenigen Bestrebungen, die Herder in
jener Zeit dem Volkslied zuwandte.
Schlussbemerkungen.
So hätten wir also vierzehn, wie wir glauben, für Herder
gesicherte Recensionen aus den Frankfurter gelehrten An-
zeigen vom Jahr 1772. Die Zahl vierzehn geht freilich
über diejenige hinaus, zu der (zwischen sieben und zehn)
sich Herder gegen Nicolai und Lavater im Unmuth selbst
bekannte. Die üble Stimmung, in der sich Herder damals
befand, und die Verschiedenheit der Selbstangaben ge-
währen uns allerdings einigen Spielraum. Aber allen Werth
darf man diesen Angaben doch nicht nehmen, wie Scherer
am liebsten thun möchte. Herder kann, nach dem ganzen
Zusammenhang der betreffenden Briefstellen, nur die
grösseren, eingreifenden Recensionen gemeint haben, die
ihm, wie sie persönliche Angriffe enthielten, auch persön-
liche Anfeindung und Verdruss einbrachten. Kleinere Stücke,
wie beispielsweise über Pindar oder Lambert, die er sich
mühelos gewissennassen aus dem Ärmel schüttelte, wurden
als gutwillige Zugaben nicht mitgerechnet.
Ich könnte hiermit meine Betrachtungen endigen, möchte
aber noch kurz auf zwei andre Frankfurter Anzeigen ein-
gehen.
In der neuen Bearbeitung von Goedekes Grundriss
(4, 289, 30) sind elf Anzeigen als Herders Eigenthum ver-
zeichnet. Von den oben besprochenen fehlen daselbst:
Benzler, Lambert, Lettre sur Phomme, Essais on Song-
writing; dagegen ist 6ine mehr eingetragen: Chalotais' Ver-
such über den Kinderunterricht (Frankfurter gelehrte An-
zeigen 1772, Nr. 29, S. 225—229). Das sachkundige Ur-
theil, dem die Aufstellung bei Goedeke entflossen ist, steht
mir besonders hoch, und es ist mir nicht leicht geworden,
von der Aufnahme der Chalotais- Recension abzusehen. Doch
wollte sich mir nicht genug positiv Beweisendes ergeben.
Es ist wahr: manches im Satzbau scheint Herderisch;
248 Steig, Herders Antheil an den Frankf. gel. Anzeigen.
manches aber spricht dagegen. Die Polemik gegen Schlözer
scheint für Herder nicht scharf genug. Aber die Rede-
wendung 'Lücken überstreichen' (Neudruck 189, 34) kommt
wieder in Herders Recension des Mosaischen Rechts von
Michaelis zum Vorschein (5,423). Der Recensent von
Brechters Anmerkungen über das Basedovische Elementar-
buch (Original 8. 438, Neudruck S. 364) nimmt in auf-
falliger Weise auf den 'Vorredner bey Chalotais' Bezug, so
dass man auf den Gedanken kommen mochte, beide An-
zeigen — über Chalotais und Brechter — rührten von
6inem Verfasser her ; Brechters Recensent ist aber unmög-
lich Herder. Heyne spricht auch am 6. August 1772, wo
er seine Freude über Herders Polemik gegen Schlözer
schlecht verbirgt, nur von der 6inen Recension über Sohlozers
Universal-Geschichte, während er genau weiss, dass über
Michaelis ein paarmal ein schreckliches Gericht ergangen
ist (Von und an Herder 2, 141).
Es sei aber die Autorschaft einer andern Frankfurter
Anzeige zur Discussion gestellt: nämlich derjenigen von
den Novi commentarii Societatis . . Goettingensis (Original
Nr. 56, Neudruck S. 369. 370). Sie könnte meines Er-
achtens, nach Inhalt und Form, durchaus von Herder ge-
schrieben sein. Nur von denjenigen Einzelabhandlungen
dieser Sammelschrift, zu deren Verfassern Herder nach-
weislich ein bestimmtes Verhältniss hat, wird in der An-
zeige näher gesprochen. Also ist von Kästners Ver-
theidigung der Bern ouilli sehen Hydraulik gegen d'Alem-
bert die Rede — alle drei erscheinen bei Herder öfters.
Sodann wird die Gelegenheit nicht versäumt, gegenMichaelis
zu polemisiren. Und endlich geschieht Heynes mit Wärme
Erwähnung. In der Form vergleiche man wegen der
Eingangsentschuldigung den ähnlichen Gedanken in Herden
Lessing-Reoension: 'Der Reo. findet sich' u. s. w. (5,339
Mitte). Der gegen Michaelis gerichtete Tadel: 'was Pensäe
[vgl. 5,324. 362] allenfalls seyn konnte, ist Vorlesung
geworden9 — dieser Tadel auch im Eingang von Herders
Anzeige des Mosaischen Rechts (5, 423). Das Wort
'superfiziell' begegnet auch in einer gleichzeitigen Re-
cension der AUg. D. Bibl. (5,313); es kommt sonst noch
Hedwig Waaer, Eine Satire ans der Geniezeit 249
'von der Oberfläche1 (3,448. 5,379) vor. Michaelis Ab-
handlung wird als 'eine alle Gelehrsamkeit verachtende'
bezeichnet; so wirft Herder demselben Autor vor, er ver-
stünde 'Gelehrsamkeit zu verläugnen' (5,423). — Über
'Heine' (so stets Herders handschriftliche Schreibung des
Namens!) ist wirklich alles in der Anzeige Gesagte 'sehr
merkwürdig'. Da heisst es: 'Cretenser .... Thyrrhener
nehmen in den Originibus ihrer Geschichte viel Licht' —
und an Heyne schreibt Herder nicht viel später (Von und
an Herder 2,152): 'Ihre Arbeiten über diese dunkeln
Originen . . . Sie wissen nicht, wie oft ich Ihnen zuwalle'.
Der Ausdruck 'eingestreute Nebenaussichten', die Ortho-
graphie von 'würklich' — wie bei Herder. Herderisch ist
das Verweilen bei der alten Kunst und Winckelmann, das
Anregen zu einer 'Geschichte Griechenlands, um deren
schwersten Theile [die Origines] er sich so verdienstlich
bewirbt'. So redet Herder an der genannten Briefstelle auf
Heyne ein, sich nach der Aufhellung der Anfänge, 'worin
Sie so viel, viel Verdienst schon haben', an die Abfassung
des 'Ganzen' zu wagen.
Je öfter ich die Recension überlese, desto gewisser
werde ich ihres Herderischen Ursprunges. Wenn mich mein
Gefühl nicht irre geführt hat, wärs immer noch möglich,
sie künftig in den Supplementband der Herder-Ausgabe
aufzunehmen.
Berlin. Reinhold Steig.
Eine Satire ans der Geniezeit.
'Das Geniewesen, ein Lustspiel in 5 Aufzügen. | Diffi-
cile est satyram non soribere. Juvenalis | Frankfurt und Leip-
zig 1781', lautet das Titelblatt eines 304 Seiten enthaltenden
Octavbändchens, das in der Stadtbibliothek Zürich liegt
(Gal. XXV. 285). Auf der vordersten Seite steht von
Bödme» Hand : 'donum auctoris'. Das Stück ist eine Satire
auf die litterarischen Zustände jener Zeit, deren bedeuten-
dere es von irgend einer Seite zu beleuchten sucht oder
wenigstens nennt. So bekommen wir ein Spiegelbild der
250 Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit
Zeit, meist verzerrt zwar und an vielen Stellen undeutlich,
aber nicht uninteressant.
Die Fabel des Stückes, in welches der anonyme Ver-
fasser seine satirischen Ausfalle eingekleidet hat, bt in
kurzem folgende:
Herr v. Fintach, ein alter abgeschmackter Litteratur-
und Kunstliebhaber, Mäcen und Dichterling, wird, da seine
Börse glücklicherweise nicht so leer ist wie sein Kopf, von
Genies und Schongeistern umschmeichelt und ausgenutzt
Dem ältesten und angesehensten derselben, Würde der
Wissenschaft heuchelnden Antiquar Exergus will Fintach
sogar die Hand seiner schönen und klugen Nichte Agathe,
an der er Vaterstelle vertritt, geben. Diese aber liebt einen
andern Gast ihres Oheims, Valer, den jungen und liebens-
würdigen Sohn eines Jugendfreundes von Fintach. Valer
hat schon früher ihre Bekanntschaft gemacht und ist nun
gekommen, um seine Werbung anzubringen, nicht, wie
Fintach glaubt, um bei ihm die Genieschule durchzumachen.
Der verhasste Bewerber Exergus macht sich nun allerdings
selbst unmöglich, da er als gemeiner Münzendieb entdeckt
wird. Um aber Fintach zur Einwilligung in die Vermählung
Valers mit Agathen zu bringen, wird ein Weg eingeschlagen,
den Fintach ohne Wollen selbst gezeigt hatte. Er hat
nämlich eine Schauertragödie im Stil des Sturmes und
Dranges verfertigt und träumt, durch seine Schmeichler auf-
gestachelt, von ihrer Veröffentlichung und von Dichter-
lorbeer. Desselben aber doch nicht ganz sicher, will er
sein Eunstproduct lieber zuerst unter fremder Etiquette dem
gestrengen Publicum der Hauptstadt vorführen lassen, um
erat bei entschiedenem Erfolg strahlend aus dem Dunkel
der Anonymität hervorzutreten. Valer nun wird von Fintach
die Ehre zugedacht, bei seinem Geisteskinde Gevatter zu
stehen. Dieser, der das Drama abscheulich findet, giebt
erst auf Agathens dringenden Bath seinen Namen her. Das
Stück erlebt natürlich ein unerhörtes Fiasco, und nun kann
Valer, wie Agathe vorausgesehen, dem verzweifelten Dichter-
ling drohen, den wahren Namen des Autors preiszugeben,
wenn dieser ihn nicht für die unverdiente Schande mit
seiner schönen Nichte tröste. Indem Fintach letzteres wählt,
Hedwig Waser, Eine Satire ans der Geniezeit. 251
verzichtet er, wüthend auf seine sauberen Freunde, die bei
der Aufführung lebhaft mitgepfiffen haben, von nun an auf
allen Umgang mit 'Schöndenkern, Genieruffern, Kraftmännern,
Alterthumsmaden'.
Als Lustspiel betrachtet, hat das Stück einige ganz
amüsante Scenen, so z. B. die 1. des III. Acts, wo der
Kammerdiener Fintachs, der schlaue Pasquin, der auch in
Sturm und Drang arbeitet wie sein Herr, dem Kammer-
mädchen Agathens, Lottchen, ein selbstgemachtes Liebes-
lied vorliest, das so beginnt:
So wie ein junger Low1 nach seinem Raube brüllt,
So brüllt mein zärtlich Herz, wenn ich auf bunten Auen
Mein Liebchen nicht mehr find1, das meinen Hunger stillt,
Des Herzens Hunger zwar — o schreckenvolles Grauen ! u. s. w.
Oder die 1. Scene des IV. Actes, in der Fintach mit feier-
lich geheimnissvollen Reden dem nichts ahnenden Yaler ver-
kündet, dass er ihm 'seinen theuersten Schatz, sein Kind, —
sein einziges Kind' anvertrauen wolle. Yaler glaubt schliess-
lich, darunter Agathen verstehen zu dürfen, und bricht in
feurige Dankeshymnen aus. Tiefgerührt über diesen 'seel-
zerschmelzenden Enthusiasmus9 holt ihm Fintach — sein
Drama aus der Bocktasche.
Kommen wir auf das, was für uns das Hauptinteresse
ausmacht, die litterarischen Anspielungen. Unser Verfasser
kannte jedenfalls die Producte der Genieperiode, gegen die
sich seine Satire in erster Linie richtet, ziemlich genau.
Fast alle wesentlichen Eigenthümlichkeiten derselben, die
ja auch augenfällig genug sind, hat er beobachtet, und in
diesem Stücke darzustellen unternommen. Er will damit
etwas beitragen zur Aufklarung und Besserung, in der Be-
sorgniss, was noch werden solle aus all dem zügellosen
Treiben, das ihm ein bitteres Lächeln entlockt.
In seinem Stücke sind die Hauptvertreter von Sturm
und Drang mehrmals ausdrücklich mit Namen angeführt,
so S. 35, wo Fintach sich rühmt, so weit wie er hätten es
im Drama nicht einmal Lenz, Wagner und Klinger ge-
bracht, während Valer, der so ziemlich des Verfassers An-
sichten zu repräsentiren scheint, Klopstock, Uz, Ramler,
Kleist gegen diese hervorhebt (S. 107).
252 Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit.
Die zwei eigentlichen 'Genies' unseres Stückes, im
Personenverzeichniss mit diesem Attribut eingeführt, Ram-
bold und Trimburg, sollen sich schon in der Kleidung als
solche qualificiren, es ist ihnen nämlich das Wertherkostüm
vorgeschrieben. Der Zug, dass die Genies unseres Stückes
für Mäcenengrossmuth und Freigebigkeit, besonders für
Gastfreundschaft nicht unempfänglich sind, ist auch nicht
aus der Luft gegriffen. Man erinnere sich, was gerade
Lenz und Klinger, eines Christoph Kaufmann u. a. gar
nicht zu gedenken, in dieser Beziehung beanspruchten.
Mehrmals spottet der Verfasser über die Menge von
Autoren, deren es heutzutage mehr gäbe als Friseurs und
Lakaien (S. 6). Die Gründe dieser Erscheinung legt er in
den Mund des Kammerdieners Pasquin, der zu dem Kunst-
richter Lucidus sagt (S. 25): .'Hab' ja ein paar Finger
zum schreiben, — länger als Ihre — Fahr' mit der Feder
von der Rechten zur Linken so rasch als sie — Was
brauchts mehr zum Autor? Latein versteh' ich freylich
nicht, schreib* aber deutsch — Je minder Lectur — je
minder Regeln — desto originellere Zeug — desto mehr
Spiel fürs Genie! '
Auch die Verachtung, mit welcher die Originalgenies
auf die Recensenten und das Publicum herabsehen, wie sie
sich ausspricht z. B. in der unserm muthmasslichen Ver-
fasser wohl bekannten Wagnerschen Satire 'Prometheus,
Deukalion und seine Recensenten', oder in ebendesselben
'Briefen die Seylersche Schauspielergesellschaft betreffend9,
wird parodirt. So nennt S. 289 Fintach das Publicum, darf
sein Schauspiel auszupfeifen wagte, 'eine Drahtpuppe —
ein Rindvieh — ein Ungeheuer'. Und Trimburg ruft aus,
da ihm ähnliches begegnet, S. 188: 'Mochtens nicht tragen,
die AusternSeelen, O Schande — o Brandmarkung des ge-
sunknen Geschmacks! Haben nicht Nase genug, ein un-
sterblich's Werk zu riechen! Freunde, Liebhaber — Kenner
des Wahren, des Schönen, des Guten — in welch1 unzu-
dringliche Höhle habt ihr euch verkrochen?'
Wohl auch besonders auf 'Prometheus, Deukalion und
seine Recensenten' bezieht sich folgende, von dem schon
etwas gewitzigten Fintach gemachte Beobachtung (S. 262):
Hedwig Woser, Eine Satire ans der Geniezeit. 253
'Hab* nun 's System unserer heutigen Kraftmänner und
Genieruffer entdeckt — Sieh selber — und seine Spiess-
gesellen mit Trompetenklang und Paukenschall loben —
wer kein Innungsgenoss ist, 's Gesicht mit Schlamm und
Kothe bespritzen — vom Dreyfuss herab sibillinische Macht-
Sprüch' orakeln!'
Das Hauptmotiv der Fabel unseres Stückes bildet eine
ebenfalls in der damaligen litterarischen Welt häufig vor-
kommende Erscheinung, die hier vermuthlich auch lächer-
lich gemacht werden soll, nämlich die Verwechslung von
Autoren. Man denkt daran, was z. B. Goethe damals un-
glaublicherweise alles verfasst haben sollte, oder wie Lenz,
der sich nicht getraute, die 'Soldaten' unter seinem Namen
in Straasburg auffuhren zu lassen, Klinger für sich ein-
treten liesß.
In unserm Stücke nun soll Fintachs Trauerspiel, das
wir ziemlich genau kennen lernen, das Geniedrama reprä-
aentiren. Wir hätten eigentlich ein solches eher von einem
der beiden 'Genies' erwartet, die freilich dem Bilde, das
wir uns heute mit abgeklärterer Deutlichkeit, als ein Zeit-
genosse dies vermochte, von einem Stürmer und Dränger
machen, ausser in den obenerwähnten Eigenschaften nur
wenig entsprechen. Vielleicht auch wollte unser Verfasser
die Richtung von Sturm und Drang dadurch, dass er ihr
wildes Strohfeuer unter grauen Haaren aufflammen liess,
noch unnatürlich-forcirter und lächerlicher erscheinen lassen;
oder er hatte, indem er Fintach zeichnete, eine bestimmte
Person oder wenigstens einzelne Eigenthümlichkeiten einer
solchen im Auge; eher nur letzteres, denn es giebt kaum
eine bedeutendere Persönlichkeit aus jener Zeit, die in ihrer
Gesammterscheinung das Vorbild zu einer Carricatur wie
Fintach hätte liefern können. Einzelne Züge dagegen lassen
sich wohl historisch belegen; so wäre es möglich, wie nach-
her ersichtlich werden wird, dass durch das Beispiel eines
umschmeichelten und gemissbrauchten Mäcens besonders
Lavater, vielleicht auch Bodmer, vor unwürdigen Prot6g6s
hätte gewarnt werden sollen.
Fintach also versucht sich im Drama, der in jener
Epoche beliebtesten Art der Offenbarung des Genies. Valer,
254 Hedwig Waaer, Eine Satire aas der Geniezeit.
als er dessen Trauerspiel lesen muss, seufzt (S. 239): "Der
Ebentheurer, ein Schauspiel9. — Zum Henker, immer Dramen!
meist weder comisch genug zum Lachen — noch tragisch
genug zum Weinen9. Auf die Frage, zu welcher Species
sein Schauspiel gehöre, ob zum weinerlichen Lustspiel oder
zum bürgerlichen Trauerspiel, antwortet Fintach (S. 29):
* Was bürgerlich! — weder weinerlich — noch bürgerlich
solls sein!' Darauf fragt Lucidus weiter: 'Folglich ein
heroisches Trauerspiel ?' Und Fintach antwortet: 'Bewahre
Gottl . . . Ein Schauspiel ist mein Drama im ächten Lenzi-
schen, Wagnerschen, Elingerschen Geschmack9. Jene Frage
läset sich wirklich, ohne bestimmt beantwortet werden zu
können, bei vielen Sturm- und Drangstücken, z. B. denen
von Lenz, der ja bewusst nach einer Mischgattung strebte,
stellen.
Die Beobachtung, dass verschiedene Geniestücke nur
tendenziöse Illustrationen zu Lehrsätzen und Reformplanen
sind, wollte wahrscheinlich unser Verfasser dadurch zum
Ausdruck bringen, dass er bei der Skizze von Fintachs
Drama am Schluss jedes Actes ein paar abstraot-tenden-
ziöse Tiraden und Reflexionen andeutet; z. B. S. 19 u. f.
hält der Held im I. Act, während er gefoltert wird, 'ein
Raisonnement über den Materialismus der Seele9; im II. Act
knüpft sich an Scenen aus dem damals so beliebten ameri-
kanischen Freiheitskriege, woran sich ja auch Klingers 'Wild1
betheiligt, eine 'Seelzerschneidende Tirade gegen Könige —
Dithyramb' auf die Freyheit9 ; im III. Act sind 'Scenen über
Toleranz — Schwermerey — Unglauben9.
Das Stück ist natürlich in Prosa, denn 'ich kann den
Zwang des Metrums nicht leiden — bin ein freier Deutscher — 9
sagt Fintach (S. 28). — Folgendes gilt als Stilprobe (S. 32):
Fintach (liest mit vielem Pathos): Erster Aufzug — erste
Scene — Eduardo allein im Gefangniss. — Brause, — brülle —
donnre — rassle, wetterwendische Fortuna! aufm schäumenden
Oceane des Lebens — im sichern Port ist Eduardo — Schwester
des Verderbens — Hure für den Leib des Pöbels, — trügerischer
Zauberbalg, deiner Wünschelruthe trotzt er! lacht deiner hirnlosen
Wuth ! Noch brüllt mir beym Lampenschein das wilde Geräusch
deiner wogenden Wellen entgegen, — dass mir die Sinnen da-
von 'rumfahren wie die Dachfahnen beym Sturm — (vgl. in
Hedwig Waaer, Eine Satire aus der Geniezeit. 255
Klingers Sturm und Drang 1, 1 : Wild: Heida nun einmal in
Tumult und Lernten, dass die Sinnen 'rumfahren wie die Dach-
fahnen beym Sturm!)
Und so gehts weiter in der uns wohlbekannten Tonart.
'Welch' ein Stiel!9 läset unser Satiriker Valer ausrufen
(8. 24t), 'scheints nicht bisweilen, den Trödelweibern und
Mietbkutschern hab' ihn der Verfasser abgelernt! und plötz-
lich wieder verliert er sich in den Wolken!9 — In der Genie-
spräche dagegen heisst man das (S. 34) (Qeniegeknirache —
Wuthaustoben — Siedend Blut in hochwallenden Herzen —
Pulsschläge der Natur!9
Den Zustand, in welchem solche dichterischen Ergüsse
entstehen, beschreibt Fintach (S. 29) so: 'Setz' mich an
meinen Pult, wie ich in meinen Wagen mich werfe —
Fahr zu, raff ich meiner Muse, wie Hanns zu seinen Pferden
spricht Hurra! Über Graben und Heken sprengt mein
Pegasus — Hören und Sehn vergeht mir — Hundert Hände
wünscht9 ich mir, meinen Geniestrohm abzuführen!* Fintach
hat sein Schauspiel 'in 8 Tagen erfunden — ausgeführt,
ins reine gebracht!9 (S. 28). Elinger brauchte, wie er selbst
sagt, um sein 'Leidendes Weib9 (hinzu8chmeissen9 bloss vier
Tage. Kein Wunder, denn für ihn und seine Dichtgenossen
gilt ungefähr dasselbe, was Fintach von sich sagt (S. 37):
'Mit Regelmässigkeit des Plans, — Verbindung der Scenen,
Ausfeilung und Correctheit des Styls geb9 ich mich nicht
ab. — loh arbeite als Genie — frisch drauf los, wies aus
Kopf und Herzen quillt — und was einmal geschrieben ist,
bleibt geschrieben!9 Sagt ja doch der bei den Stürmern
und Drängern so beliebte Mercier: 'Folg' deinem Feuer, du
kommst weiter damit als mit Regeln9. Gegen die den
Genies verhassteste Regel, die sog. Aristotelische, sagt
Fintach S. 1 8 : 'Einheiten des Orts, der Handlung, der Zeit —
Must dich d'ran nicht kehren — Elende Träume des
wachenden Aristo tels! — Eseleyen längstverrosteter Zeiten !
Papierne Fesseln, vom Zeigefinger des Genies zerdrückt —
Gängelwagen erwachsener Kinder! — — 9. Hierbei muss
wohl besonders an die entsprechenden Stellen aus Lenz'
'Anmerkungen übers Theater9 gedacht werden, die unser
Verfasser Agathen auf Befehl ihres Oheims lesen und dazu
256 Hedwig Waser, Eine Satire aas der Geniezeit,
bemerken lässt (S. 78): 'Anmerkungen übers Theater —
Ich denke, nur blos für Genien, wie der Autor, geschrie-
ben — Möcht' wissen, ob er s selber verstühnde? — Oraknl-
sprüche, vom Dreyfuss heruntergeschleudert! — , Welche
Gemssprünge! Welch' ein Ton!'
In einen womöglich noch tiefern Abgrund der Ver-
achtung werden natürlich die sog. Schüler des Aristoteles,
die französischen Klassiker, gestürzt. Lenz sagt in den
'Anmerkungen' von französischen Dramen, sie seien 'ein
Unding, eine oratorische Figur — eine Schaumblase über
dem Maul Voltaires und Corneilles ohne Daseyn und Rea-
lität9 . . Fintach rühmt sich S. 30, er überlasse 'den süssen
französischen Schaumlekern, den Corneillens, Bacinens und
Voltairens den Flittertand'. So spielt denn in Fintachs
Drama, die berühmte Regel verhöhnend, jeder Act in einem
andern Land, oder sogar in andern Welttheil. Fintach nennt
sein Drama (S. 16) passend: 'Eine beständige Galerie immer
abwechselnder Gemähide' ; und welcher Gemähide ! 'alle meine
Helden im Blute röchelnd — alle Todesarten angebracht9;
S. 37 sagt derselbe ebenso: 'In einem Huy versetz' ich
meine Helden aus einem Welttheil in den andern, — In
der gleichen Stunde seh'n sie sie — in der Schule — ver-
heyrathet, an der Spitze einer Räuberbande — im Gefang-
niss — aufm Rade. — Hier eine Gattinn mit dem Brodt-
messer durchbort — dort eine Geliebte auf dem Boden
sich 'rumwälzend — die Haare sich ausrauffend — vor
Wuth in die Steine beissend .... Wirbelwind der
Handlung!' Valer jammert (S. 239): 'Sechs und dreyssig
Personen! O Elend, o Jammer! Eine Sandwüste muss das
Gehirn des Dichters seyn,' der, um zu rühren, eine so über-
ladene Gruppierung von Figuren nöthig hat! — Sechs Ver-
änderungen der Scenen in einem Aufzuge! Guter Gott!
Shakespearisch sollte diess Unding seyn!'
Bei Anpreisung dieser 'Guckkästchenmanier5 (der cha-
rakteristische Goethesche Ausdruck wird auch genannt in
unserm Stück selbst S. 257: Fintachs Schauspiel sei 'ein
buntbeschmiertes Gukkästgen von Nürenberger Raritäten' 1))
*) Vgl. Pfeiffer, Klingers Faust 8. 107 ff.
Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit 257
beruft sich Lenz in seinen 'Anmerkungen' merkwürdiger
Weise auf die deutsche Vergangenheit, auf Hans Sachs, der
ja so wenig Bedenklichkeiten drin finde, seine geduldige
Griselda in einem Auftritt freien, heiraten und gebären
zu lassen, dass er vielmehr im Prolog seine Zuschauer vor
der allzu starken Illusion warnt und ihnen auf sein Ehren-
wort versichert, 'dass alle Sachen so eingerichtet, dass
keinem Menschen ein Schaden geschieht.9 Wie unser Ver-
fasser über Sachs denkt, merken wir aus einer Äusserung
Pasquins S. 5: 4da lob1 ich mir unseren grossen Hanns
Sachs — Wie viel Einfalt! Wie viel Deutschsinn! Wie in
seiner Comödie — 'David mit Batseba im Ehbruch' alles
so drolligt und natürlich zugeht — und doch' . . . nun folgt
das oben erwähnte Lenzsche Citat aus Hans Sachs. Die
Bemerkung Fintachs (S. 5): 'Zum unsterblichen Ruhme
Germaniens sollten seine (Sachsens) Schriften neu aufgelegt
werden — Allein, o Brandmarkung unsere schwammigten,
fütternden Zeitalters! Excidat illa dies Evo; nee Posteri
credant. Die Subscription kam nicht zu Stande!' bezieht
sich auf F. J. Bertuchs 'Frage an das teutsche Publikum
über die Erhaltung der poetischen Werke des alten deutschen
Meistersängers Hans Sachsens' im Teutschen Merkur 1778.
Die Idole von Sturm und Drang werden so ziemlich
alle, einige sogar an mehreren Stellen, andere nur beiläufig
genannt und jede dieser für unseren Verfasser meist zweifel-
haften Grössen bekommt ihren Hieb. Vor Shakespeare
selber zwar scheint er Ehrfurcht zu haben und sich nur
gegen dessen Epigonen wenden zu wollen; Valer sagt
S. 240: ' Armer Shakespear! Wie Hamlets Gespenste lass'
deinen Schatten auftretten, und unser Dichte rgeschmeiss in
den Abgrund der Vergessenheit jagen !' ein für jene Zeit
bei einem Gegner der Geniedichtung, immerhin bemerkens-
werther Standpunkt. — Von 'Ossianischem Feuer7 wird S. 39
geredet. — Rousseau ist zwar nicht ausdrücklich genannt,
aber an ihn erinnern häufig Redensarten wie iPulsscfaläge
der Natur' (S. 34), 'Alles Einfalt und Natur' (S. 37).
Herder wird angegriffen seiner schweren und oft dunklen
Sprache wegen. Fintach will ihn mehrere Male citiren,
Viortoljahrschrift Ar Litteraturgeechiohte V 17
258 Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit.
verirrt sich aber immer auf lächerliche Weise in den Irr-
gängen dieser Rhetorik, so S. 86. 111:
Fintach: Hättens mich nur ausreden lassen, Herr Exergus, —
Hätt' ihnen bewiesen, dass die Alten — eine gewisse Farben-
mischung der Töne — eine gewisse — Gonsonnanz der Figuren
haben — welche durch die Zauberkraft eines — karg ausge-
streuten — Glaro obscuro — durch eine gewisse — abgerundete
Harmonie — worinn (stotternd) unvermerkt die zerschiedenen
Accente zerschmelzen — vom erhabenen Laokoon herab — bis
aufs leidende Thier herunter — im Zusammenhang des Miss-
lauts — Werden mich verstehen — Herr Exergus — werden
mich verstehen — Herder hat hierüber eine erhabene Stelle —
Wissen doch! — . . (beiseite) Verwünscht — Werde Herdern
von Wort zu Wort auswendig lernen müssen — komm* mit
seiner Göttersprache niemals zurechte!
Auch Goethe wird kritisirt; wir stossen auf einige Aus-
fälle gegen 'Stella' und 'Werther':
S. 17: Fintach: Mein Held besitzt — vier lebende Weiber!
Pasquin: Ey bewahre Gott — gnädiger Herr — So verdient er
ja Rad und Galgen — Fintach: Einfaltspinsel! immer noch klebt
dir was an vom Dorfe — Ehdem wars so — Allein seit ein
paar Jahren — haben wir Genie's die Köpfe unsere Publicums
berichtigt. Gab ja der weltberühmte Goethe seinem Fernando
zwey Weiber — und kaum zwey Königreiche durchreiste sein
Held! — Alle 4 Welttheile durchwanderte mein Eduardo — In
jedem Welttheil ein Weib! — Raisonnabel genug, denk9 ich, mit
den Vorurtheilen gehandelt! Pasquin: Traun, mein Seele — ein
niedliches Ding ums Geniewesen! Hätts nicht geglaubt! — Sind
Herrn Doctor Göthe zwey Weiber erlaubt, wer untersagt ihnen
vier? — Sind ja ein Genie so gut als er! — Recht zu meinem
Fassungsvermögen ist diese Philosophie hinabgestimmt!
Und S. 286: Valer: Agathe, grausame Agathe — nicht
mehr ist's Zeit zu scherzen — in einen Abgrund von Schande
und Erniedrigung versenkt, was ist mir das Leben? Am Rande
der Verzweiflung schwank* ich einher, — Agathe: (schalkhaft
lächelnd) Wahrhaftig ein sehr galanter Antrag! — Nur noch ein
bisgen zu früh! Warten Sie, bis ich Madame Exergus bin, so
will's das Costume! — Ist's denn noch Zeit genug, Hut und
Kopf in einer Gewitternacht zu verlieren! ' Freylich müssen nun
wir deutsche Mädchen, Dank sey's Herr Doctor Göthe, an solche
Süssigkeiten uns're Ohren gewöhnen! Nur ein blauer Rock, gelbe
Westen und Beinkleider mangeln ihnen, um ganz Werther zu
seyn! — Allein Pistolen geb' ich ihnen keine!
Auch die antiken Lieblinge der Stürmer und Dranger
werden genannt, es wird geredet von 'homerischem Genie-
Hedwig Waeer, Eine Satire aus der Geniezeit. 259
schwung' und Agathe muss im Plutarch lesen, wie Guelfo,
Julio, Karl Moor. Unser Autor war übrigens ein Mann von
umfassender klassischer Bildung, was nicht nur aus den
zahlreichen lateinischen Citaten, sondern auch aus ver-
schiedenen anderen Stellen hervorgeht, S. 108 z. B. lesen
wir eine Vergleichung antiker und moderner Dichter :
Exergus: Meine Herren, was unsere Deutschen noch Gutes
haben, stahlen sie den Alten — Ohne Homers Dias hätte Klop-
stock niemals eine Messiade geschrieben — Sein ist Klopstocks
volle bilderreiche Sprache — sein sogar sein Silbenmass! — von
Ramlers Genie was blieb wohl noch übrig — raubten wir ihm seine
Mythologie — Nur auf Horazens Ambos hat Uz wohlklingende
Verse geschmiedet! — und sich mit Federn, die er dem Anacreon
stahl, geschmückt. Kleist — wie viele Bilder, Fictionen, Metaphern
aus Virgils Georgias? Ohne die Alten, wie leer, wie Öde die Ein-
bildungskraft der Neuern!
Ausser den genannten Anspielungen sind aber nament-
lich häufig solche, die ein Buch betreffen, auf das im vor-
liegenden Stücke verschiedene Mal direct hingewiesen wird,
und zwar in Anmerkungen am Bande der Seite 'Siehe
Allerley, Tom. p.' Gemeint ist das berüchtigte: 'Allerley,
gesammelt aus Beden und Handschriften grosser und kleiner
Männer. Herausgegeben von Einem Beisenden E. TL K.
Erstes Bändchen. Frankfurt und Leipzig 1776' und das
2. Bändchen, 'herausgegeben von keinem Beisenden E. U. E.'
mit dem anderen Titel : 'Vermischte Betrachtungen auf alle
Tage im Jahr, — Frankfurt und Leipzig 1777\ Das erste
Bändchen rührt von dem bekannten Apostel der Geniezeit
Christoph Kaufmann, auf den es unser Verfasser besonders
abgesehen zu haben scheint, und seinem Freund Ehrmann
her — das 2. wurde damals auch Kaufmann zugeschrieben,
ist aber von den beiden Lavaterschülern Häfeli und Stolz
verfasst. Sehen wir einige der parodirten Stellen an.
Zuerst ein alberner Ausfall Fintachs auf Moliöre, den
geschmäht sehen zu müssen, unserm Verfasser, wie es scheint,
ganz besondern Ärger verursachte, denn er macht ihm Luft
gerade am Eingang seines Stückes, das übrigens den Ein-
druck hervorruft, als hätte der Verfasser damit selber ein
Moli&risches Schauspiel liefern wollen. Schon Äusserliches,
z. B. einige französische Wendungen, oder der Name Valer
17»
260 Hedwig Waser, Eine Satire ans der Geniezeit.
für den Liebhaber erinnern daran. — Die betreffende Stelle
im Allerley Bd. 2 Nr. 42 (S. 158) lautet:
Moliere konnte allenfalls einen schlechten Charackter karrikatu-
rieren, aber einen guten Menschen wahr und treu zu zeichnen, eine
interessante Seite eines Charackters ins Licht zu stellen, einen ver-
worrenen, misskannten, verkrümmten Charackter eben, gerad, treu
und lebendig darzustellen, ein Problem des Lebens in einem
Drama aufzulösen, dazu fehlte ihm unendlich. Unausstehlich unter
anderm ists, was in seinem besten Stuck dem 'Geitzigen' Elise
und Valere gerad im Anfang einander im Punkte der Liebe
appliziren; wer in seinem Leben einmal von ferne verliebt ge-
wesen ist, speyt es an; alle seine Verliebte sind des marionettes
clouees sur la meme planche et tirees par le m€me fil. Zum Toll-
werden sind die vernünftigen Discurse, die seine Personen oft führen.
Ausprügeln würd* ich den elenden Kerl, der mir in ähnlichen
Fällen all1 das weise, untheilnehmende Zeug sagte, das er seinen
guten Gharacktern in den Mund legt. Kurz, wenn Msr. B. et Comp.
es nicht ungnädig aufnehmen wollten, Moliere war kein Menschen-
kenner und seine Karrikaturen von Tartüff, Harpagon etc. aus-
genommen, die, wenn man will, noch einigen Werth haben,
sind seine Stücke keinen Pfifferling werth.
Entsprechend meint Fintach (S. 4):
Wie? für die Schaubühne keine neuen Charactere mehr, Alle
von Molieren erschöpft — Ha ha, die Austernseelen ! Nicht einen
Pfifferling werth sind seine Stücke — anspeyen, ausprügeln möchf
ich seine Helden — Carricaturen hat er gezeichnet, Stocknarren
auf die Bühne gebracht — die auffallendsten Caractere — auf
der Oberfläche der menschlichen Gesellschaft schwimmend — leicht
weggeschöpft — Possenreisser mocht' er seyn — Menschenkenner
war er nicht!
Eine ergötzliche Beobachtung ferner im 'Allerley' ist
folgende (2,168 Nr. 5):
Unaussprechlich viel Physiognomick liegt im Küssen. In einem
dunkeln Gemach will ich unfehlbar den heiligen Kuss der Liebe
vom Kuss französischer Höflichkeit, und diesen vom Kuss eines
wolfischen Philosophen unterscheiden. Auch z. E., wenn im
Dunkeln zwanzig Menschen mich küssen würden, darunter einer
ein Christ wäre, wollt1 ich den Christen zuverlässig nennen!
Solches musste allerdings den Spott herausfordern und
wir finden ihn auch auf S. 75 unseres Buches. Pasquin
bittet nämlich Lottchen um ein 'pbysiognomisches Mäulchen',
so eins,
draus ich erkenne, ob du mich liebst, weil ich Pasquin
Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit. 261
und witziger Kopf — oder blos, weil ich Ehereifer Junggesell
bin — ob du mich nur aus Goquetterie küssest — einen Sclaven
mehr an deinen Triumphwagen zu fesseln, — ob du mich aus
französischer Höflichkeit küssest — nicht ein deutsches Zieräfgen
zu scheinen! — Ob du Freygeist im Reifrökgen — ob du gute
Christin bist? Lottchen: (lächelnd) Ha, ha — nun merk1 ich
dich — Habs Bücheigen auch gelesen, wo die herrlichen Sächelgen
stehen — ein schnurriges Ding. — Allein so der Nase nach gehts
nicht zu — die Augen musst dir erst verbinden lassen — oder in
einem dunkeln Gemach es probiren — im Kreise von hundert
Mädchen musst erkennen, welches Lottchen, welches Coquette,
welches gute Christin sey ! Pasquin : Hol1 der Henker die Probe !
Die hält der nur aus, der Alles kan, was er will, und Alles
will, was er kan!
Die letzte Bemerkung weist auf Kaufmann direct hin,
der demnach von unserem Verfasser auch für den Autor des
2. Bändchens gehalten wurde, wo die parodirte Stelle steht.
Besonders häufig werden lächerlich zu machen gesucht die
Abschnitte VI im 1. und 2. Bändchen 'Charaktere' und
'Charackterc im Profil und en face9 betitelt. Da wird z. B.
ein 'edler Jüngling9 beschrieben (1,90) mit ' Adlerskraft in
seiner Naswurzel, schnelle Willensthat in seiner Stirn! In
seinem Blick Trunkenheit vom Einathmen der Menschen-
freude'. Von einem andern heisst es (2,122):
Unter dem Vorgebürg seiner Stirn wälzt sich die Welt im
ergriffenen Bilde, sich wandelnd in tausend Gestalten. Oder 2, 1 16:
In der Tiefe der Naswurzel wohnen fürchterliche Leiden, ver-
schlungen in die Riesenkraft, die sie trägt und überwindet. Welch*
innige tragende gebende Liebe im Auge, dessen Durchblick durch
die Tiefen des Menschen unaushaltbar wäre ohne diese Liebe . . .
Schmachten nach Wonne, die ihm noch nie zu theil ward, sitzt
auf der Oberlippe und der ganze fleischigte, im Profil eckigte
Mund verkündigt uns weise Güte ohne Schwäche, und unerschöpf-
liche Salzdurchwürzte Laune ohne Bosheit.
Diese Stellen aus dem 'Allerley', das seinerseits die
physiognomischen Schlagwörter natürlich aus Lavaters
'Fragmenten' entlehnte, stehen aneinandergefügt in wört-
licher Wiederholung in unserm Stück als Anfang eines
Genieromans, dessen Helden sie beschreiben (S. 181). Alles
treibt Physiognomik in unserm Stück, nur die wenigen ver-
nünftigen Personen nicht, — sogar Pasquin meint (S. 6):
'Ein Pinsel kann Pasquin nicht sein! — Zu römisch, zu
262 Hedwig Waser, Eine Satire ans der Geniezeit
hapichtmässig seine Nase — Geruch der Unsterblichkeit
drinne! Zu tief die Naswurzel, der Sitz des Scharfsinns V
Diese genaue Kenntniss des 'Allerley', der verächtlich-
spöttische Ton gegen Kaufmann, und mittelbar, durch
Lacherlichmachung der Physiognomik gegen Lavater, mag
auf die Vermuthung leiten, wer 4er Verfasser des Lust-
spiels, das, wie es scheint, völlig unbekannt ist, sein konnte.
Dies nämlich und noch vieles Andere weist auf J. J. Hottin-
ger, den Autor der 'Brelocken ans Allerley9 und des ano-
nymen 'Sendschreibens' von 1775 gegen Lavater in dem
bekannten Streite, bei dem Bodmer auf Seite Hottingers
stand, — Bodmer, der ja das 'Geniewesen' als Geschenk,
augenscheinlich eines Gesinnungsgenossen, vom Verfasser
erhielt. Unter den Freunden Bodmers haben wir diesen
also jedenfalls zu suchen, und zwar unter seinen Schweizer
Freunden, wie ein entschieden schweizerischer Ausdruck in
dem Lustspiel S. 30 verräth: 'kommlich' für 'bequem, an-
genehm'.
Der hier in Frage kommende Hottinger, ist Johann
Jakob, 1750—1819, seit 1773 Professor der Eloquenz und
spater auch der Geschichte in Zürich. Es giebt noch keine
genügende Arbeit über diesen nicht unbedeutenden Mann. 2)
Heben wir einige der wichtigern seiner Werke, die an
dieser Stelle für uns Werth haben, hervor. Ich nehme um so
weniger Anstoss, dabei zahlreiche Äusserungen anzuführen,
als dadurch Hottingers Gesammtbild deutlicher wird.
Vorerst sei angemerkt, dass Hottinger als dramatischer
Dichter thätig war (1793 erschienen seine Schauspiele
'Karl von Burgund' und 'Ulrich von Regensburg'), so dass
ihm auch ein drittes Drama zuzutrauen ist. Beweiskraft
aber für seine Autorschaft am 'Geniewesen' bieten andere
seiner Schriften.
') Was über ihn schon zusammengesteUt wurde, ist folgendes:
H. Bremi, Denkrede auf Herrn J. J. Hottinger, Zürich 1820. H. Escher,
Biographie von Hottinger im Neujahrsblatt der Chorherrngesellschaft
in Zürich auf d. J. 1831, wiederholt in Ersch u. Gruber Encyclopadie
Sect. n Bd. 11. 6. y. Wyss, Allgem. Deutsche Biographie Bd. 13.
Ludwig Hirzel, Goethes Besiehungen zu Zürich, Neujahrsblatt der
Stadtbibliothek Zürich für 1888.
Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit 263
Aus dem Jahr 1775 stammt die ziemlich bekannte Farce
'Menschen, Thiere und Göthe', auf die wir noch zurück-
kommen. 1776 gab er heraus : 'J. J. Breitingeri IY Orationes
Solemnes. Interprete J. J. Hottingero' mit einer Widmung
an Semler. Hier schon wendet er sich gegen die Extra-
vaganzen der von ßousseaus Theorien oder vom Treiben
der deutschen Kraftgenies beeinflussten Jugend. 1777 er-
schienen die wegen ihrer Beziehung zu * Werther' bekannteren
'Briefe von Selkof an Weimar9, worin dem Selbstmörder
Werther ein seine Leidenschaft siegreich Überwindender
gegenübergestellt wird. Es folgten 1 778 die 'Brelocken ans
Allerley', auf die ich ebenfalls zurückkomme. 1784 — 86
trat in Zürich die von Hottinger gegründete 'Bibliothek der
neuesten theologischen, philosophischen und schönen Littera-
tur' ans Licht. Aus den hier erschienenen Abhandlungen
Hottingero über neuere Litteratur lassen sich einige Stellen
hervorheben, die auffallend mit den Anschauungen in dem
vorliegenden Stücke stimmen. Z. B. sagt Hottinger in einer
sehr scharfen Becension über die im »1783er Jahrgang des
Deutschen Museums erschienenen Gedichte des Grafen
Friedrich Leopold v. Stolberg, der ihm als Genie verhasst
war, 1784 Bd. 1 S. 343:
Wessen Muse eine Bacchantin, und wessen Pegasus ein un-
bändiger Gaul ist [ein bei Hottinger sehr beliebtes Bild] der die
gesunde Vernunft zu Boden reitet, der mag wohl den literarischen
Pöbel durch seine Sprünge belustigen: aber von den Weisen
seines Volks wird er weder Bewunderung noch Achtung ernten.
Der alte Spruch, dass der Dichter gebohren werde, behagt unsern
jüngsten Genien ungemein wohl! Es ist wahr: aber nach ihrer
Praxis zu urtheilen, sollte man oft glauben, sie verstühnden ihn
nicht änderst, als ob der gebohrne Dichter sogleich Epopöen und
Oden winselte. Der Mahler und jeder andre Künstler wird auch
gebohren, aber ohne fleissiges Studium der Grundsätze seiner Kunst
und der besten Muster, und jeder ächten Quelle von Wahrheit
und Schönheit wird man in ihm den Mahler vielleicht ahnden, aber
nur den Pinsler sehen.
Dann tadelt Hottinger an Stolberg 'einen lächerlichen
Stolz auf Dichtervorrang, Verachtung alles gründlichen und
methodischen Unterrichts und eine renomistische Gross-
sprecherey, die eben so oft Mitleiden als Unwillen erregen
muss'. In der Einleitung zu einer andern Becension (1785
264 Hedwig Wäger, Eine Satire aus der Geniezeit
Bd. 2 8. 3) wendet er sich gegen erzwungene poetische
Begeisterung :
Die Art, womit die meisten jungen Dichter ihre Existenz an-
kündigen, ist für den Mann von reiffem Verstand und gesundem
Urtheile ein wunderseltsames Specktakel. Statt den in die Seele
fallenden Funken aufzufangen und gelassen zu warten, bis die
Schäferstunde schlägt, arbeiten sie gewaltsam die Begeisterung von
innen heraus und setzen sich für einen oft bey kühlem Blut ge-
wählten Gegenstand in ein erzwungenes und mühsam angefachtes
Feuer . . . Ein klägliches Schauspiel giebt es, wenn der Dichter-
ling seine Phantasie auf die Folter spannt, so dass es scheint, als
ob ihn der Enthusiasmus auf der Stelle aufreiben sollte, und doch,
wenn man das Resultat seiner Pein und Marter von allen Seiten
betrachtet, am Ende nichts zum Vorschein kömmt, als ein paar
sehr alltägliche Gedanken und Empfindungen, in ein paar ebenso
gemeine Bilderchen eingehüllt und mit einem mächtigen Gebraus
vielversprechender Worte vorgetragen.
Dieses selbe Gebahren wird lächerlich gemacht auf
8. 9 f. unseres Stückes. Während Fintach und sein Kammer-
diener am Dichten sind, ruft dieser plötzlich aus:
Begaffens doch, gnädiger Herr — im Spiegel ein bisgen ihr
Gesicht und das meine! — Gestern in der Oper, von uns beyden,
der rasende Roland, — nur ein Schattenbild — Klaftertief die
Augen im Kopfe! — glühend die Wangen — Heil uns, dass wir
Perrücken tragen, — unsere Haare, ich wette drauf, empor-
sträubten sie sich wie Borsten ! — Fintach : Desto besser, — mein
guter Pasquin — desto besser — alles Geniedrang — Trieb und
Gluth. — Pasquin : (sich aufblasend) Ha — beynah zerplatz' ich
vor Genie! (Er setzt sich auf den Boden und staunt) Nein so gehts
nicht! — Die Dichtkunst will Schwung haben — (er wirft sich in
einen Lehnsessel) Gut — gut — die Schäferstunde schlägt — glück-
licher Pasquin ! Durch den dichten Nebel meiner Gedanken blitzen
Sonnenstrahlen meines Genies hervor — (den Kopf in die Höhe
richtend, als ob er niessen wollte) 's kömmt — 's kömmt (er
niest) — Heil dir, Pasquin — da ligts! (er fangt an zu schreiben).
Beachtenswerth ist ferner eine Recension der 'Räuber'
im 1. Bd. der Bibliothek 1784, worin den Theaterdichtern
der Zeit vorgeworfen wird, dass sie 'mit Shakespears Kalbe
pflügen, aber da, wo der Britte erndete, nur Unkraut
pflücken9. — Man erinnere sich, wie ähnlich die aus dem
'Geniewesen' angeführten Stellen über Shakespeare lauten.
Als Kenner und Freund klassischer Studien zeigt
sich Hottinger in seinem 'Versuch einer Vergleichung der
Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit. 265
deutschen Dichter mit den Griechen und Römern9 (von der
kurfürstlichen deutschen Gesellschaft in Mannheim gekrönte
Preisschrift). Hiemit ist zusammenzustellen der angeführte,
ebenfalls antike und moderne Dichter einander gegenüber-
stellende Passus im 'Genie wesen' (8. 108).
Aus Hottingerß Schriften sind für unsern Zweck be-
sonders noch zwei heranzuziehen, zunächst seine Satire:
'Menschen, Thiere und Göthe, eine Farce. Voran ein Pro-
logus an die Zuschauer und hinten ein Epilogus an den
Herrn Doctor — Altona 1775'. Auch hier tritt Hottinger
mit einer Satire in dramatischer Form auf gegen Sturm
und Drang, diesmal speciell gegen Goethe und seine An-
hänger. Die Schrift 'Prometheus, Deukalion und seine Re-
censenten', gegen welche sich Hottingers Farce richtet,
wurde ja fast allgemein Goethe selbst zugeschrieben. Hottin-
ger stellt ein albernes Recensentenvolk dar, das 'die Regeln
zum Teufel schicken9 will und 'Herrn Doktor Prometheus',
der Tadel nicht vertragen kann, in allen Tonarten lobhudelt
nach dem Motto: 'Wes Brod ich ess', desB' Lied ich sing!'
Man fühlt den Anklang an unser Stück. Nachdem in
Hottingers Satire Lavaters Physiognomik statt durch den
Pegasus von einem Esel in den Himmel der Unsterblichkeit
hinaufbefördert worden ist, muss sich der Herr Doctor
Goethe gefallen lassen, dass einer kommt, ihm seinen Jungen
('Werther') zurechtstutzt, damit er aussehe 'nach Menschen-
manier'. Über diese Misshandlung seines Sohnes (Nicolais
'Freuden des jungen Werther') ausser sich, fordert Pro-
metheus den Hanswurst auf, den Kerl zu züchtigen. Der
aber wagt sich mit seiner Peitsche nicht an Leute, 'die
klüger sind als wir beyd', nämlich er und Prometheus, tritt
aber dafür seine Harlekinsrüstung dem Herrn Doctor leih-
weise ab (für 'Prometheus, Deukalion und seine Recen-
senten'). Im Epilog folgt die weise Mahnung an Prome-
theus, nicht gleich jeden Biedermann anzugreifen, der nicht
nach seinem Gusto schreibe, dafür aber andern Leuten ge-
falle, sondern statt mit der Schellenkappe prangen zu wollen,
sich mit seinem Doctorhut zu begnügen. Also auch in
dieser Farce wie in unserm Stück will Hottinger die Genies
verspotten, die vernünftiges und gerechtes Recensiren nicht
266 Hedwig Waser, Eine Satire aas der Geniezeit
ertragen könnten und ihre Werke von schmeichlerischen
Genossen in den Himmel heben lassen.
Noch auffallendere Übereinstimmung aber mit den An-
sichten unseres Stückes zeigen die, welche Hottinger nieder-
gelegt hat in den 'Brelocken ans Allerley der Gross- und
Eleinmänner. Leipzig, zu finden in der Dykischen Buch-
handlung 1778'. Der Titel der II. Abtheilung: 'Aber eins
das Gott walt' für Enthusiasten, Genieruffer, Gefuhlselectri-
sirer, Physiognomisten und Modereformatoren' hat dem Ver-
fasser gewiss auch bei unserm Stück vorgeschwebt. In
Nr. 1 derselben Abtheilung findet sich die uns wohlbekannte
Klage über die derzeitige Massenanhäufung von ringsum
ausposaunten Genies, von denen man 'bei näherem Ergreifen
und Sichten den Nymbus wegfallen1 sähe. Nr. 2 beginnt
mit einem uns ebenfalls bekannten Ausdruck:
Ich fand zuweilen auch Freude daran, in die Raritätskästchen
zu gucken, und dem Stab des ehrlichen Savoyarden zu folgen,
der mir, wie die Hexe von Endor dem Saul, grosse Männer vor-
wies, und doch ärgerte mich's stets, nur Dratbpuppen gesehen zu
haben, die rumschwadronirten, ohne zu handeln! . . . Denn wenn
du ruffest: hier ein Genie und da ein Genie, und sie stürzen vor-
über wie Marionetten, dass nicht bleibe Denkmahl und Spuhr ihres
Daseyns; was sollen wir dazu sagen, was denken? Glaubs Bruder,
Laufzeddel und Affischen sind Scharlatanskünsteleyen ; das Genie
strahlt wie Sonnenlicht und bedarfs nicht, mit Fingern gewiesen
zu werden.
Nr. 22 richtet sich gegen die Physiognomik:
Meiner schwachen Einsicht nach bedarfs eben keines über-
grossen Genies zu sagen und zu schreiben: Dieser Mann hat so
ein Gesicht und so einen Character, wenn man diesen aus Thaten
schon kennt; — aber hoch und schnell auffliegende Einbüdung
brauchts, um den Sprung im Schluss nicht zu fühlen: Also hat
jeder Mensch mit einem solchen Gesicht auch gerade den Cha-
rakter und dieses Genie!
Nr. 23 zielt gegen die Nachahmer Lavaters:
. . . Wenn ich die Schaaren seiner winzigen Anhänger und Nach-
laller (die wahrlich seine Grösse und sein Genie weniger fühlen
und messen, als seine eifrigsten Gegner,) wenn ich die mit der
Brille auf der Nase, oder der Lorgnette in der Hand, jedes Ge-
sicht anstarren sehe, das ihnen aufstösst, sehe und höre, wie sie
mit der lächerlichsten Dreistigkeit über Äug9 und Stirn und Nase
und Kinn und Lippe glossiren und Männer ins Tollhaus senden,
denen sie nicht würdig sind die Schuhriemen zu lösen, so wünsch'
Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit. 267
ich oft, Er hätte an Physiognomik nie gedacht, oder er klopfte
sie auf die Finger und setzte ihnen den Kopf zurecht.
Aas Abtheilung III 'Grillen, Bitten und Wünsche an
Schriftsteller, Kritiker, Leser und Lobposauner' erwähnen
wir folgende Sätze des 'Geniereceptes' Nr. 16, zu denen
unser Stück eine Illustration zu liefern scheint:
3. Spöttle über Aufklärung, Verstand, Vernunftsgebrauch und
Ordnung. 4. Schreib9 allenfals auch ein Drama, wo du die
3 Einheiten bedreymaldreyest, und den Nestor, die Kleopatra und
den ewigen Juden in einen Topf schmeissest ... 6. Mach stets
Entwürfe und Pläne, für die Reformation in Sitten und Gesetzen ;
krame sie aus: tobe, rase, stampfe und klage über Thorheit und
Neid, wenns nicht nach deinem Kopfe gehen will. 7. Hab* eisen-
feste Gesundheit, männlich schöne Figur und laufe herum ohne
Ziel und Zweck wie ein brüllender Löwe. 8. Denke selten, lies
nichts, hasche auf, sprich über alles ab, lass Wissenschaften
Wissenschaften seyn und bleiben, und sammle dir Einsichten und
Kenntnisse aus den Brosamen, die von des Reichen Tische fallen.
9. Hänge dich an einen grossen Mann, strebe nach Herrschaft,
▼erachte allen Zwang, alle Einengung, und schmähe über Tyranney,
wo du nicht herrschen, nicht alles in allem, nicht der Erste seyn
kannst.
Wir haben gesehen wie Herders Sprache in Fintachs
Mund lächerlich gemacht wurde, gegen sie, die im 'Allerley'
in den Himmel gehoben wird, richtet sich Nr. 19:
Wer es weiss, wie leicht Bilder blenden, mit falscher Dämme-
rung beruhigen, und wie selten sie den Begrif umfassen oder
erschöpfen, der wird um den Vorzug nicht lange verlegen seyn;
auch zeigt die Erfahrung, dass die Herder'sche nur Weibern und
Unwissenden oder halbprüfenten Geistern gefalle. Wer überdies
aus eigner Erfahrung gelernt hat, wie leicht einem, mit Belesen-
heil und Einbildungskraft, sich die Bilder darbieten, und wie sie
im behaglichen Dunkel, jeden Begrif ganz darzustellen scheinen,
den man doch nicht ganz gedacht, nicht ganz entwickelt hatte,
oft nicht denken und entwickeln konnte, der wird eben keine
grosse Kunst darinn finden und auch sich nicht wundern, dass
Jünglinge sie nachahmen, und in ihrer Nachahmung sich Genies
dünken.
In Abtheilung VI 'Karrikaturen und Characktere' wird
Lavater wie oft vor Schmarotzern und falschen Schmeichlern
gewarnt. In Abtheilung VII 'Über Schriften und Schrift-
steller nach dem allerneuesten Geschmack' ist für uns von
268 Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit.
besonderm Interesse das Urtheil, das über Lenz (Nr. 24)
geföllt wird:
Lenzens Schauspiele, sein Hofmeister, sein Menoza, seine
Soldaten — wie seicht, wie obenweggeschöpft, wie allgemein oder
unnatürlich; wie wenig Entwicklungsgang in den Charakteren, wie
widersprechend unter sich! und doch allgelobt und — allver-
gessen! — Auch da, wo sie Natur athmen, welche versunk'ne,
schlammichte Natur! Wie tief bat sich der erniedrigen müssen,
der sie da suchte und sie so fand! — Und bey diesem Anlas
ein Wort über die Einheiten! Einheit der Zeit und des Orts
sind nun eben nicht nothwendig: allein wenn sie in die andern
miteinwirken, welche Erhöhung des Interesses, welche Kunst,
welche Illusion für den Zuschauer, wie viel leichtere Umspannung
des Ganzen, wie näher der Natur, die auch in Entschürzung der
Katastrophen Einheit hat. Freylich ist's leichter, alles durchein-
ander zu werfen, und allemal Mangel an Kunst oder an Genie,
wenn diese Einheiten verabsäumt werden. — Wichtiger aber sind
die Einheiten der Charaktere und des Interesses! und immerbin
rühme man Schäkspirs Genie; auf dem Theater bleibts doch
unausstehlich, in Zeit von drey Stunden den gleichen Mann nach
verschiedenen Grundsätzen handeln und nach entgegengesetzten
Leidenschaften Entwürfe und Plane machen zu sehn. — Und nun
denke man was und wie es seyn müsse, wenn diese Verschieden-
heit und diese Entgegensetzung nicht Anlage und Stimme der
Natur, nicht blos übereilte, aber doch wahre Entwicklung des
Herzens, sondern willkührliches Abändern des Dichters ist, das
seinen Grund nicht in der handelnden Person und nur im Be-
dürfniss des Schriftstellers hat, der neue Auftritte und Entwicklung
herbey bringen muss. Dann endlich dieses Ubermass von Maschinen
und Personen! Sind sie nicht Beweis der Geistesschwäche des
Dichters? und jede Person, die nicht unmittelbar zum Haupt-
character gehört, nicht unmittelbar auf die Lage Einfluss hat,
welche den Hauptcharacter zur Thätigkeit nöthiget und Ausschluss
gibt seines Innersten, ist sie nicht überflüssig, kahle Bekleisterung
der Blosse des dramatischen Schriftstellers? Das malerische Genie
zeichnet Natur nach Übereinstimmung und Mitordnung; allein
wenn es den Elephant und das Pferd und den Walfisch und die
Fichte und den Kokosbaum, jedes vortreflich, aber alles in eine
Landschaft zeichnete, was würdet ihr dazu sagen? und wie würdet
ihr lachen, ihr Bedreymaldreyer der Einheiten !
Aus dem VIII. Abschnitt weisen wir nur noch auf
Nr. 16, wo der Propheten- und Wunderschwindel, dessen
Vorläufer Lavater gewesen sei, angegriffen wird mit directer
Hinweisung auf Kaufmann, vor dem Lavater ausdrücklich
gewarnt wird.
Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit. 269
Zum Schluss möchte ich noch zwei Stellen besonders
hervorheben, in denen mir Hottinger anf das 'Geniewesen'
selbst hinzuweisen scheint. In Nr. 17 des VII. Abschnittes
spricht er die Absicht aus, etwas gegen Lavater, den er
nicht direct nennt, aber errathen lässt, zu schreiben, und
zwar, wenn niemand anders dies auf sich nehmen wolle, in
zwei Jahren von heut an. Die 'Brelocken' stammen aus
dem Jahr 1778, unser Stück aus 1781. Es ist allerdings
nicht gegen Lavater allein gerichtet, aber der Plan zu einer
Satire könnte sich ja wohl dann in Hottinger während dieser
Zeit weiterentwickelt haben. Die andere frappantere Stelle
ist in Kr. 19 der Abtheilung VIII. Zuerst lässt sich
Hottinger hier aus darüber, ob der Spott im allgemeinen
berechtigt sei, und kommt zu einem bejahenden Resultat,
vorausgesetzt, dass der Spötter ein vernünftiger, kaltblütiger
Philosoph sei, und dass er nicht spotte aus Mangel an Be-
weisen und Gegengründen, oder um die Lacher auf seine
Seite zu bringen und 'die Irrigen zu kränken, ohne sie be-
lehren zu wollen9. 'In diesem Fall9, urtheilt Hottinger, ist
ihr Zweck intolerant, ohne dass das Mittel es war, denn
der wahre Spott ist gründlich widerlegend! — Allein wenn
ich einem Geitzigen seine Unarten vorgestellt, ihm die
Schändlichkeit seiner Enickerey vorgepredigt, und mit
Gründen bewiesen habe, und er beharret doch darauf, sein
Laster Klugheit und wahre Schätzung der Güter dieses
Lebens zu heissen, so wirds mir ja gestattet seyn, ihn in
Moli&rens Schauspiel zu fuhren, ohne mich der Intoleranz
schuldig zu machen.'
Nachdem wir zwischen dem litterarischen Charakter
Hottingers und dem unseres anonymen Verfassers eine ge-
wiss auffallende Übereinstimmung gefunden haben, so be-
sonders in dem Yerhältniss zu Lavater, Kaufmann, Goethe,
in den Ansichten über Sturm und Drang, über Lenz, Herder,
Shakespeare, und alle übrigen Kriterien, z. B. die Heimat
des Dichters, damit zusammentreffen, so ist die Yermuthung
erlaubt, dies von Hottinger geplante 'Moliferische Schau-
spiel9, das zugleich spotten und belehren soll, mit dem
'Geniewesen' zu identificiren.
270 Hedwig Waser, Eine Satire aus der Geniezeit.
Nachtrag. Folgende Stellen aus Bodmers Correspon-
denz verdanke ich der gütigen Mittheilung Prof. Bächtolds :
J.J. Bodmer schreibt an J. G. Schulthess den 12. Sept.
1781:
In der Comödie von dem Geniewesen ist die Sprache der
Genies durch und durch; sie lässt sich am Pult wohl lesen, aber
für die Bühne hat sie zu wenig Handlung. Der Bühne muss man
Handlung, und zwar abenteuerliche, unglaubliche, bezügliche geben.
Der folgende, leider undatirte Brief, der einzige er-
haltene Hottingers an Bodmer, Hesse sich sehr gut als Be-
gleitschreiben zu dem an Bodmer von ihm überschickten
anonymen Büchlein 'Das Geniewesen' verstehen, in das ja
der Empfänger eigenhändig 'donum auctoris9 hineinge-
schrieben hat:
Ich wage es, Sie, verehrungswürdigster Greis, zu bitten, diese
Kleinigkeit als ein Zeichen meiner Hochachtung von mir anzu-
nehmen. Dass ich diese Bitte an Sie nicht eher gethan habe,
kam daher, weil ich unbekannt zu seyn gewünscht und gehofft
habe — nicht weil ich geglaubt habe, dass meine Freymütbigkeit,
in dem was Sie betritt, Ihnen missfallen würde, sondern aus andern,
leicht zu vermuthenden Gründen. Ich bin mit unveränderlicher
Hochachtung Ihr gehorsamster Diener Prof. Hottinger.
Allerdings scheint auf den ersten Blick das vorliegende
Stück nichts Bodmer selbst Betreffendes, wegen dessen der
Verfasser sich entschuldigen zu müssen glauben könnte, zu
enthalten. Aber doch hätte der empfindliche Greis leicht
auf die Idee kommen können, dass in dem unermüdlichen
und so schlecht belohnten Mäcenas der Genies, Fintach,
dessen eifriges Bemühen nach eignem Dichterlorbeer so
erfolglos bleibt, dass er schliesslich davon bekehrt wird, er,
Bodmer, selbst parodirt und belehrt werden solle. Jeden-
falls passt der Inhalt des Briefes zu keinem der andern
anonymen Werke Hottingers, auf die allein er bezogen
werden kann, besser; denn sein Lob Bodmers in den 'Bre-
locken' Abthlg. 7 Nr. 23 brauchte er nicht als 'Freimüthig-
keit' zu entschuldigen.
Zürich. Hedwig Waser.
B. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 271
Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
1. Ein unbekanntes Susannadrama.
Weder Pilger (Die Dramatisirungen der Susanna im
16. Jh. Zeitschrift f. deutsche Philologie 11,129-217) noch
Goedeke (im Grundriss und in den Götting. gel. Anzeigen
1880 S. 641—655) oder Bolte (Märkische Forschungen
18, 197 ff. Anm.) erwähnen ein Drama, über welches Arnold
in der Kirchen- und Ketzer-Historie 1,714 berichtet; er
sagt, 'die Preeceptores selbst9 hätten 'die arme Jugend aufs
schrecklichste durch ihr schändliches bezeigen geärgert:
'Wenn, zum exempel, jener Rector in Mähren Peristerius
mitten unter Papistischer Obrigkeit, denen Jesuiten zum
verdrußs und spott, mit seinen schuljungen eine comödie
von der Susanna in Teutschen reimen spielte, und darinnen
jene anzwacken machte, auch viel pickel-heringe mit Jesuiten-
mützen auskleidete, die an der ecken lauter narrenschellen
hencken hatten9. Worüber die Papisten und die Obrigkeit
selbst so erbittert wurde, dass sie bald darauf alle Lutheraner
vertrieben'.
Arnold verweist für diese Notiz auf Jeremias Hom-
bergenis ap. Fechtium epist. pag. 643 f. Dieses, wie es
scheint, sehr seltene Werk führt eigentlich den Titel:
Epistolarum Theologicarum Libri 11X. Adcurante Jo. Fechtio. 1683
nur auf einem vorgesetzten Stich, der wirkliche Buchtitel
lautet :
Historiae ecclesiasticae Seculi A. N. C. XVI. Supplementuni ;
plurimorum et celeberrimorum ex illo aevo Theologorum epistolis,
ad Joannem, Erasmum et Philippum, Marbachios, antehac scriptis,
nunc vero ex bibliotheca Marbachiana primura depromptis, constans.
Divisum in VIII. libros. Ad illustrandas plerasque ejus aetatis in
ecclesia pvriore historias, una cum Apparatv, ad totum opus
necessario, et tabulis chronologico-historicis, editum a Jo. Fechtio,
SS. th. lic. seren. March. Bad. Cons. Eccles. conc. aul. illustr.
gymn. Durlac. inspect. et theol. prof. ord. Francofurti & Spirae,
Impensis Christophori Olften, Bibliopolae. Dvrlaci, Typis Martini
Mulleri, Anno M DG LXXXIV.
In dieser für die Geschichte der Reformation sehr inter-
essanten, auch für die Biographie des 16. Jhs. ergiebigen
272 R- M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
Briefsammlung steht u. a. S. 642 f. ein Brief Hombergers
vom 17. Juli 1581, jedesfalls aus Graz (ygl. Krones, Ge-
schichte der Karl-Franzens-Universität in Graz S. 6). Darin
heisst es:
Nescio sane, an hie diu habitare queam: Omnem movent
lapidem Jesuitae, ut nie hinc prorsus exturbent, et quantum ex
Ammonio intelligere potui, denuö illustrissimus prineeps mihi gra-
vissime succenset, dicens, licet conciones ipse habere prohibear,
tarnen me reiiquis suggerere tela contra papatum, in qua re mihi
profectö fit injuria. Errores reprehendunt Dn. M. Freius et Stamb-
lerus, me nihil suggerente. Et Freius nunc quidem abit versus
Judenburgum, futurus ibi pastor et schote ac tractus illius In-
spector, loco Mylii, qui miseriis humanis defunetus est. Nisi
abiisset, in eadem forsan sorte mecum esset. Prineeps etiam Rectori
Peristerio tnfensus factus est, ex mera delatione. Nihil enim ille
adversus papistas in hac schola unquam dixit. Gantor autem egit
cum scholaribus comoediam, Susann am, in qua rythmi quidam,
me inconsulto, recitati sunt germanici, in quibus nihil contra aulam
aut papam animadverti: sed nescio sane quid delatores animadver-
terint et perverterint. Prineeps Rectori imputat. Hoc autem po-
tissimum male habet Jesuitas, quöd simulati moriones gesserunt
tiaras trianguläres ipsorum similes, quarum singulis angulis singula
cymbala erant adjuneta. Quod et ipsum me ignorante et incon-
sulto factum est, et tarnen omnis faba in me cuditur. Dixit prin-
eeps, non posse me quiescere, ejiciendum esse, ut pax sit, reliquos,
edito in me exemplo, tractabiiiores fore. Fiat saneta DEI voluntas.
Nach diesem Wortlaute kann Arnolds Behauptung, die
Sache habe sich in Mähren abgespielt, nur auf einem Irr-
thum beruhen, und in der That erwähnt d'Elvert in seiner
Geschichte des Theaters in Mähren und Österreichisch
Schlesien (Brunn 1852. Schriften der hist. - statist. Section
4,23 f.) nichts davon; wohl aber verzeichnet Krones a. a. 0.
S. 5 zum Jahre 1580 'Händel zwischen den Jesuiten und
den protestantischen Predigern und Lehrern9, was ich auch
auf diesen von Hornberger erwähnten Conflict zwischen
Peristerius und den Jesuiten glaubte beziehen zu dürfen.
Nun war Krones so freundlich, mich aufzuklären, er habe
damit den sogenannten 'Frohnleichnamsstreit' gemeint mit
Rücksicht auf den Aufsatz von Eindermann 'Beiträge zur
Yaterlandskunde für Inner-Oesterreich' (Graz 1790 1,32—58.
154_178. 277—320. 2,272—278; vgl. Peinlichs Geschichte
des Gymnasiums in Graz. Jahresbericht 1869 S. 19 f.).
B. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 273
Wirklich aber war Peristerius — der ursprünglich 'Tauben-
schlag9 geheissen haben mag — seit 1580 Rector der pro-
testantischen Landschaftsschule zu Graz und machte erst
1 585 Dr. Papius Platz (vgl. Peinlich, Lehrkörper der Stifts-
schule im Paradeis, Programm des Qrazer Gymn. 1866
S. 1 77). Cantor war seit dem Tode Jakob Schotts im April
1575 Kaspar Gastel bis zum Ende der Schule 1598 (vgl.
Peinlich a. a. 0. S. 16—19). Wie es nun mit der Verfasser-
schaft jener Susanna steht, mag dahin gestellt bleiben, jedes-
falls ist nichts Näheres über dieses Drama bekannt. Auch
Franz Martin Mayer in seiner interessanten Monographie
über Jeremias Hornberger (Ein Beitrag zur Geschichte
Innerösterreichs im 16. Jh. Archiv für österreichische Ge-
schichte 1889 74, 203—259) giebt keine Auskunft; ihm ist
leider das Werk Fechts entgangen, obwohl es mancherlei
Licht über die steirisohen Verhältnisse verbreitet und viele
Briefe Hombergers aufbewahrt Auch sonst enthält es für
die Geschichte der Reformation mehr als man vermuthen
würde, da man es so gar nicht erwähnt findet. Ich behalte
mir vor, auf einzelnes später zurückzukommen.
Arnold hat wahrscheinlich nur falsch citirt und kaum
anderes Material benutzt, trotzdem sich sein Bericht nur
zum Theil mit dem Briefe Hombergers deckt. Es wäre inter-
essant näheres über das Drama zu hören, oder wenigstens fest-
zustellen, ob Peristerius oder Gastel unter die 'österreichischen
Dramatiker' zu rechnen sei (vgl. über einige österr. Dra-
matiker des 16. Jhs. Joh. Bolte, Zeitschrift f. deutsches
Alterth. u. deutsche Litt. 32,9 — 21 und Jakob Minor, Neu-
drucke Heft 79 f. S. XXI f.).
2. Vom verlornen Sohn.
Infolge von Scherers Vorgang ist es Sitte geworden, das
Drama des 16. Jhs. nach den einzelnen Stoffen zu be-
handeln und Folgerungen auf Grund des scharf abgegrenzten
Materiales zu ziehen. So hat kürzlich Franz Spengler in
einem sehr kenntnissreichen Buche das Thema vom ver-
lorenen Sohn durch das Drama des 16. Jhs. verfolgt. Wohl-
gemerkt im Drama, ohne Rücksicht auf andere Werke zu
nehmen. Ganz theoretisch möchte man meinen, es könnten
Viorteljahrschrift für Litteratvgeschichte V 18
274 & M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
auch in Dichtungen anderer als dramatischer Form, welche
dasselbe Thema behandeln, Züge so wirkungsvoll gewesen
sein, dass sie den dramatischen Dichter zu beeinflussen
vermochten. Kann man einen Moment zweifeln, dass im
17. Jh. Roman und Drama sich nahe berühren? Aus dem
von Zesen übersetzten Romane der Frau von Scud6ry Soli-
man und Isabella nimmt Lohenstein den Stoff zu seinem
Trauerspiel Ibrahim Bassa und Haugwitz das Thema zu
seinem 'Mischspiel' Soliman. In England schöpft Shakespeare
Anregung aus italienischen Novellen. Theoretisch wäre
man nach Analogieschlüssen geneigt, dergleichen auch für
das deutsche Drama des 16. Jhs. anzunehmen. Nun aber
sehen wir, dass die Forscher sich auf das Drama be-
schränken, und fragen daher unwillkürlich, ob ein solches
Vorgehen sich begründen lasse. Spengler ist wie Holstein
in seinem Programm über dasselbe Thema geneigt, ein
lateinisches Drama (sacrum ?) für verloren zu halten, das An-
stoss gebend auf die Thätigkeit der damaligen Dramatiker
gewirkt habe. Was Spengler anführt, macht diese Meinung
sehr plausibel, er findet in deutschen, lateinischen, fran-
zösischen und holländischen Prodigusdramen Spuren jenes
nicht erhaltenen Archetypus.
Weder bei ihm noch bei Holstein oder bei v. Weilen
in seiner Besprechung (Anzeiger f. deutsches Alterth. u.
deutsche Litt. 16, 113— -119) findet sich nun eine Stelle ver-
werthet, welche zu denken giebt. Thomas Murner erwähnt
in seiner Göuchmatt (Kloster 8,920) im zweiten Artikel,
welchen der Cantzler im Auftrage der Venus verliest, das
Benehmen der Weiber gegen den verlorenen Sohn, indem
er sagt: 'Es soll ein yder gouch gewillig vnd richlich alles
sin vetterlich gut, oder sunst alles das er vermag den
wybern mitdeylen, vnd dz mit jn verzeren, on alles für-
geding vnd verschriben, sunder inen darumb gentzlich ver-
truwen, wo im desglich mangel zu handen ging, dann so
würdent sy jn nit verlassen, in synen nöten ouch ein trüw-
lichen bystand thun, vnd jm alles fürstrecken, was sy vff
erden vermöchten, darumb wil der Cantzler bürg seyn. Das
sy es aber dem verlornen sun nit haben gethon,
ist allein schuld daran, das er am morgen frü hyn-
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderte. 275
weg lieff, ee die frowen vff waren gestanden'.
Worauf spielt Murner an? Sein Werk ist 1515 entstanden,
aber erst 1519 zu Basel erschienen. Das älteste Prodigus-
drama, das wir besitzen, Burkart Waldis' Parabell vam ver-
lorn Szohn stammt aus dem Jahre 1527. Die Bibel gab
Murner keinen Anhalt weder für die eben citirte noch für
folgende Stelle des Kapitels 'Eyn ganss geben' (8,1105):
Dem verlornen armen kindt
Die wyber nachgelauffen sindt
Handt in mit kuncklen vssgeschlagen
Vnd fQr den süwtrogk hyngeiagen
Es wirdt nit lichtlich mer ersehen
Das me geschehe das im gschehen
Das einer wyder kum zu genad
So er das syn verbubet hat.
Unzweifelhaft kannte Murner eine moderne Bearbeitung
der biblischen Parabel, welche sich nahe mit den Prodigus-
dramen berührt haben muss, oder er spielt auf ein Prodi-
gusdrama selbst an. Dieses Zeugniss war jedesfalls be-
achtenswerth; es kommt noch etwas hinzu. Soviel ich sehe,
hat Murner in keinem seiner älteren satirischen Werke den
verlorenen Sohn angeführt, nur in der undatirten Strass-
burger Ausgabe der Schelmenzunft, welche Scherer (Deutsche
Drucke älterer Zeit S. 8 f.) mit B bezeichnet, findet sich
ein neues Schlusskapitel, das 48., Der verloren Sune, 'ein
Dialog zwischen dem verlorenen Sohn und seinem Vater
d. h. Gott, worin der erstere sich als einen Genossen der
Schelmenzunft zu erkennen giebt und einen Rückblick auf
dieselbe wirft9. Scherer lässt 'die Frage der Verfasserschaft
einstweilen dahingestellt'. Da nach Scherers Darstellung
aus dieser undatirten Ausgabe die erste Augsburger von
1513 geflossen sein soll — er Bagt aber nicht, ob hier auch
das Kapitel vom verlorenen Sohn enthalten ist — , müssten
wir sie 1512 oder 1513 ansetzen. Spengler erwähnt zwar
diese Notiz Scherers S. 3 ganz kurz, hat es aber nicht für
nöthig erachtet, sie zu analysiren und zu prüfen.
Der von Scherer beschriebene Strassburger Druck ist
mir nicht zugänglich, Ooedeke verzeichnet den Aufbewah-
rungsort nicht. Nun enthält aber auch die von Scheible
im Kloster 1 , 824 ff. abgedruckte Frankfurter Ausgabe von
18*
276 R- M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderte.
1567 das Schlusskapitel und es ist wohl anzunehmen, dass
es mit jenem Strassburger Zusatz identisch ist. Betrachten
wir nun diese Darstellung der Parabel, die jedermann zu-
gänglich ist.
Von der Erwähnung des Galgens sehen wir vorerst ab.
Was giebt hier Murner anderes als eine Umschreibung des
biblischen Textes? Auch im Versprach des verlornen Sons
wird über sein Schelmenleben nichts gesagt als
Ich hab gesund mit bösen berden,
vor dir mein Gott, vnd vff erden.
Vnd hab mein erbtheil gar verthan.
Auch dies entspricht ganz getreu der biblischen Erzählung.
Das Charakteristische der dramatischen Bearbeitungen be-
steht aber gerade in der Vorführung des Lasterlebens,
welches vom ersten Drama ab ziemlich gleichartig vorge-
führt wird. Dürfen wir nun nicht folgerichtig schliessen,
dass Murner um 1512 oder 1513 d.h. bei Abfassung dieses
Kapitels die Parabel vom verlorenen Sohne nur aus der
biblischen Erzählung kannte, und deshalb kein anschauliches
Detail aus dem Schelmentreiben des Prodigus andeutet?
Da er nun 1515 seine Göuchmatt dichtet, fuhrt er gerade
Momente vor, welche für das Prodigusdrama bezeichnend
sind. Man wäre darum geneigt, weiter zu schliessen, dass
Murner zwischen 1512/3 und 1515 eine Darstellung der
Parabel kennen gelernt haben müsse, welche die fürs Drama
charakteristische Weiterbildung schon umfasste. Man könnte
höchstens einwenden, dass Murner erst in der Göuchmatt
gegen den bösen Einfluss der Weiber loszog, welche er bis
dahin geschont hatte, dass er deshalb an der früheren Stelle
keine Veranlassung hatte, dem verlorenen Sohn Weiber
gegenüberzustellen. Allein wenn man überlegt, dass er in
der Göuchmatt so charakteristisches von der Bibel nicht ge-
botenes Detail kennt, dagegen in der Schelmenzunft auch
nicht das geringste davon verräth, dann wird man diesen
Einwand nicht gelten lassen. Es scheint nach dem Ge-
sagten wahrscheinlich, dass Murner zwischen 1512 und 1515
eine Darstellung der Parabel kennen lernte, welche schon
dem Treiben des verlorenen Sohnes in der Fremde grössere
Beachtung und eingehendere Schilderung gewidmet hatte
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 277
als das Evangelium Lucas 15,13 f. Keines der uns be-
kannten Dramen vom verlorenen Sohne reicht aber über das
Jahr 1527 zurück, also muss Murner aus einer anderen
Quelle geschöpft haben, da er als selbständiger Erfinder
dieser Weiterbildung sich nicht mit einer so kurzen An-
spielung begnügt hätte. Seine Quelle dürfte auch die Quelle
der deutschen Prodigusdramen gewesen sein. Durch genaue
Betrachtung der Stellen bei Murner gewinnen wir darnach
wenigstens festeren chronologischen Anhalt. Da sich Spengler
auf die Dramen vom verlorenen Sohne beschränkt, ent-
geht ihm dieses wichtige Zeugniss. Methodisch wichtig
wird dieser Umstand, weil er zeigt, dass auch wenigstens
für den verlorenen Sohn die scharfe Umgrenzung des Ge-
bietes nicht glücklich ist ; wir werden gleich einen weiteren
Fall kennen lernen.
Zu denken giebt nun noch die Erwähnung des Galgens
im Zusatz zur Schelmenzunft. Wir werden dadurch an die
besondere Form erinnert, welche unsere Parabel im 'Schul-
spiegel' erhielt. Mit dieser Notiz vermag ich nichts anzu-
fangen, sie ist zu allgemein gehalten, als dass ich sie in den
Zusammenhang einordnen könnte, wichtig bleibt sie, da
nach Spenglers Darstellung der erste ' Schul spiegel', die
Rebelles des Macropedius dem Jahre 1535, der erste 'Knaben-
spiegel' dem Jahre 1553 angehört. Dieser Punkt bedarf
also noch der Aufklärung.
Ein weiteres Beispiel für die Berechtigung meiner me-
thodischen Bedenken ergiebt sich aus einer anderen Stelle
in einem Werke Murners. In seinem Lutherischen Evan-
gelischen Eirchendieb- vnd Eetzerkalender vom Jahre 1527
(Kloster 10,204) erwähnt er unter den 'grossen Dieb,
Bchelmen, Bösswicht, leker vnd Buben, welcher Leben und
Thaten die Bibel selber unfrummet, verdammt vnd strafet:
Als da sind Cain ein Mörder, Bersabe ein Hur, Saphyra
ein lugnerin, Judas ein XIIBott, der Christum im Garten
küsst, Simon ein zauberer, Herodes ein Blutvergiesser der
unmündigen Kindly', also mitten unter bekannten Personen:
Saphyra ein lugnerin; es ist nicht zweifelhaft, dass damit
Potiphars Frau gemeint sein müsse; zuerst begegnet bei
Crocus (1535) der Name Sephirach für die von der Bibel
278 R» M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
namenlos gelassene Frau Potiphars. In der Göuchmatt
zählt Murner zu den sieben bösen Weibern auch Putifares
Hussfrouw (Kloster 8, 1055 f.), einen Namen für sie kennt
er noch nicht, obwohl er bereits eine Anrede Josephs an
sie ausfuhrt. Sie ringt mit ihm, er aber entrinnt ihr, vom
Mantel ist keine Bede.
Dürfen wir nach diesen beiden Stellen nicht wieder
schliessen, dass Murner zwischen 1515 bezw. 1519 und 1527
eine Behandlung des Josephstoffes kennen gelernt habe,
welche der Frau Potiphars den Namen Saphyra beilegte?
Jedesfalls kann man nach Murners Anspielung nicht mehr
mit Scherer (Deutsche Studien 3,29) und v. Weilen (Der
ägyptische Joseph S. 25) diesen Namen auf Crocus allein
zurückf&hren. Abermals werden wir wie beim verlorenen
Sohn auf eine Darstellung gewiesen, deren Bekanntwerden
in Deutschland wir chronologisch feststellen können, was
nur mit Zuhilfenahme von Werken möglich wird, welche
bei einer Beschränkung auf das 4Drama vom ägyptischen
Joseph' ausgeschlossen sind. Das erste der uns erhaltenen
deutschen Dramen dieses Stoffes, das Werk Greffs (vgl. Hol*
stein in der Zeitschrift f. vgl. Litteraturgesch. u. Renaissance-
litt. 1, 386) stammt erst aus dem Jahre 1534, das erste mit
dem Namen für Potiphars Frau aus dem Jahre 1535. So
gewinnt die Ansicht Scherers (Deutsche Studien 3, 37),
welche freilich von A. v. Weilen abgelehnt wird, uns sei
das älteste Josephsdrama verloren, neue Unterstützung (vgl.
Anzeiger f. deutsches Alterth. u. deutsche Litt. 15,46).
Ich begreife sehr wohl, dass gegenwärtig in Folge der
riesigen, für die Geschichte der Litteratur während des
16. Jhs. noch zu leistenden Arbeit die Beschränkung einen
praktischen Ausweg eröffnet, hebe nur hervor, wie unsicher
alle Schlüsse dadurch werden. Man wird alle bisher be-
handelten Themen künftig wieder aufnehmen müssen, um
sie auf breiterer Grundlage zu behandeln. Wie trüglich
die Folgerungen werden können, möge noch eine Kleinig-
keit erweisen.
Scherer (vgl. die Notiz bei Spengler S. 53 Anm.) und
Holstein scheinen geneigt, die Abschiedsformel des in die
Welt ziehenden Sohnes, den Vers: 'Ade, ade, ick far dar
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 279
hynn!', welchen schon Waldis braucht, für die Frage nach
der Abhängigkeit zu verwerthen. Nun bemerkt aber Spengler
S. 6 sehr richtig, sie finde sich ebensogut in den Tobias-
dramen, und S. 53 sagt er, man werde ähnlich lautende
Stellen in allen einander noch so ferne stehenden Prodigus-
dramen unschwer herausfinden. Auch Murner kennt diese
Formel : in der Gouchmatt (Kloster 8, 906) sagt die Scham :
'Alldee, Alldee, ich far dohyn'. Im Grossen Lutherischen
Narren (Kloster 10, 193) sagt der sterbende Narr: 'Aide,
aide, ich far dahin'. Und ähnlich ebendaselbst Luther
(Kloster 10,184): 'Aide far hin du öde Welt'. Darnach
haben wir es wahrscheinlich mit einem Citate, vielleicht
aus einem verbreiteten Yolksliede zu thun.1)
In den Prodigusdramen findet sich diese Formel seit
1527, seit dem ersten Werke dieser Art, das wir besitzen.
Wann sie sich im Tobiasdrama zuerst einstellt, das vermag
ich nicht festzustellen; Ackermann hat sie noch nicht, und
da der Tobiasstoff erst spät behandelt wurde, Hans Sachs
(1533) und Ackermann (1539) lange ohne Nachfolge blieben
(vgl. Holstein, Die Reformation im Spiegelbilde der dramat.
Litt. d. 16. Jhs. Halle 1886 S. 106), bo gebührt dem Pro-
digUBdrama jedesfalls die Priorität. Aber das Vorkommen
der Formel an verschiedenen Stellen von Murners Werken
beweist ältere Verbreitung, wohl nicht Einfluss Murners auf
das Drama vom verlorenen Sohn.
Typisch für diese Dramen ist die Scenenreihe, in
welchen die traurigen Erlebnisse des verlorenen Sohnes
während seiner Abwesenheit vom Hause dargestellt werden.
Die Erfindung, für welche die biblische Erzählung keinen
Anhalt bot, folgt im wesentlichen dem Spruche, den Se-
bastian Brant in der Übersetzung des Facetus V. 345 — 348
so ausdrückt (Zarncke, Sebastian Brants Narrenschiff. Leipzig
1854 8. 140):
Fluch disz ding, hoffart vnd spiel
Vor frowenhusz, würtzhuser ziel
») Vgl. Gaedertz, Gabriel Rollenhagen, Leipzig 1881 S. 40 und 126
die Parallelen zu dem Verse 'Ade, ade, du schnöde Welt1 und Böhme,
Altdeutsches Liederbuch Nr. 252.
280 & M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
Ob du das zier des lebens din
Wjlt suochen, vnd den hosten schyn.
Auch Hans Sachs verwerthet diesen Typus in seinem
Drama vom verlorenen Sohn 1556. Aber schon früher,
schon 1550, bringt er ihn ziemlich ebenso in seinem Fast-
nachtspiel Nicola und Sophia (Goetze, Neudrucke 2 [31.
32], 1 16 ff.) an. Die Ähnlickheit beider Darstellungen ist
ziemlich gross. Nicola hat zu Palermo seine Waaren ver-
kauft und 'Golt gülden viertzig vnd fünffhundert' einge-
nommen. Trotz der Warnung seines alten Freundes bleibt
er, weil ihn Sophia halt. Der Alte sagt ihm:
Innerhalb ein Monat vergangen,
Sie wirt dir deinen beutel schero,
Das wirst mit schaden jnnen wem.
Drumb sey gewarnt vnd fleuch vor jr!
Nicola spricht:
0, ich gib jr nichts, sie gibt mir,
Sie hat mir diesen ring geschencket,
Diss ketlein mir an hals gehencket.
Ich hab sie auch wollen begaben,
Hat nie nichts von mir wollen haben,
Sie meinte gut vnd trewlich mit mir.
Im verlorenen Sohn verhält es sich umgekehrt, Dulceda
sendet durch ihre Dienerin Hilla einen Gruss und diese be-
kommt dafür einen Bing und später eine goldne Kette. Im
Fastnachtspiel heisst es dann weiter:
Sophia kummet mit jhrer Magd vnnd spricht:
Metz, geh, kauft ein Vorhen vnd Esch,
Vögel vnd ander gut genesch
Vnd rieht vns zu ein köstlich mal.
Im verlorenen Sohn ertheilt dieser den Auftrag, Dulceda
solle eine Mahlzeit anrichten. 'Heiss sie kauffen vorrhen
vnd äschen, Mit schleckerbisslin, guten gneschen'. Dann
verliert Nicola durch Sophia sein Geld, sie " verleugnet Bich:
'Narren muss man mit kolben laussen.' Da klagt Nicola:
'Ach Gott, was soll ich fahen an? . . . Ach, ich bin hart-
selig, ellendt'. Ganz ebenso im verlorenen Sohn: er ver-
liert sein Geld, Dulceda verleugnet sich: 'Narren muss man
mit kolben lausen9. Da klagt er: 'Ach Gott, was soll ich
fahen an . . . Ach Gott, wie bin ich so ellendt9. Die Quelle
j
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 281
des Fastnachtspieles ist bekanntlich die 10. Novelle des
8. Tages in Boccaccios Decamerone. Darin heisst es nun,
sobald die Dame sein Geld in den Händen hatte, änderte
sie auch ihr Betragen; sonst sei ihr Salabaetto zu jeder
Stunde willkommen gewesen, jetzt aber hätte sein Besuch
allerlei Hindernisse gefunden, bei welchen es ihm unter
sieben Malen kaum einmal gelungen sei, vorgelassen zu
werden. Und wenn dies auch glückte, so habe er nicht
mehr dasselbe freundliche Gesicht, noch dieselben freund-
lichen Zärtlichkeiten gefunden, mit welchen er sonst von
ihr empfangen worden war. Man sieht bei Hans Sachs
dieses Motiv mit dem Motiv des verlorenen Sohnes ver-
knüpft und andererseits in seinem verlorenen Sohn Motive
der Novelle.
Wieder scheint klar, dass die Beschränkung auf das
Drama vom verlorenen Sohn im einzelnen zu falschen An-
sichten führe ; hier bemerken wir deutlich den Einfluss einer
Novelle auf die Dramenform.
Nach diesen wenigen Notizen schon zeigt sich deutlich,
dass mein methodisches Bedenken berechtigt sein dürfte,
ja ich glaube, dass jeder, dem die Litteratur des 16. Jahr-
hunderts in grösserem Masse zur Verfügung stände als mir
in Lemberg, leicht weitere Belege zu geben vermöchte.
Darauf kommt es aber nicht an; wenn schon aus einem so
geringen Material sich Schlüsse von Wichtigkeit ziehen
lassen, dann ist der Beweis erbracht, auf den es mir theo-
retisch ankommt.
Im Folgenden möchte ich nur an einem Beispiele
zeigen, dass auch die Beschränkung auf das 16. Jahrhundert,
welche freilich kaum jemals streng durchgeführt ist, zu den-
selben Unzukömmlichkeiten führt. Ich greife ein Stück aus
der Geschichte des Schuldramas heraus, um das Fortleben
des Stoffes zu zeigen. Gerade die Untersuchungen über die
einzelnen dramatischen Stoffe greifen in jene von mir Archiv
für Literaturgeschichte 15, 323 ff. geforderte konservative
Literaturgeschichte' ein, gerade sie müssten daher darlegen,
wie lange die Anregungen des 1 6. Jhs. bei den Dramatikern
nachzittern. Nun sind zumal die Schuldramen ein Abzugs-
canal für die Motive der grossen Litteratur, wie denn über-
282
B. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
haupt in der Jugendliteratur, an welcher unsere Litteratur-
geschichte meist achtungslos vorübergeht, die Motive weiter-
leben, die in den übrigen Zweigen abgebraucht wurden.
Es müsste von den Darstellern der einzelnen Stoffkreise
wenigstens das Schuldrama berücksichtigt werden, und
A. v. Weilen hat dies auch ganz richtig gefühlt (a. a. O. S. VI).
Ich verfolge also den verlorenen Sohn.
Erich Schmidt hat in seinem Vortrage 'Komödien vom
Studentenleben' (Leipzig 1880) Anm. 57 nach meinen Notizen
eines Dramas gedacht, welches den Titel führt:
Neuen Testa
Einer gar be
CASIMIRE, | der | Ungerathne Sohn | Im
ment. | Ein | Gar andächtiges Advent-Spil | Auss
wehrten alten Legent | mit sonderbaren Fleiss zusammen | ge
tragen. | SALZBURG, | Gedruckt bej Johann Joseph Mayr, Hof
und | Academischen Buchdrucker | und Handlern. | M.DCC.XX
10 Bl. 4°. [Salzburg.]
Da das Scenar interessant und schwer zugänglich ist
(vgl. Spengler S. 102; Bolte, Märkische Forschungen 18,201
Anm.), wird ein Abdruck jedesfalls willkommen sein.
Auftrettende Personen.
Achatius, dess Casimirs Herr
Vatter.
Aperl, dessen Frau Mutter.
Casimir der verlohrene Sohn.
Sepperi,i
Frantzl,» dessen Brüder.
Cäsperl,i
Herr Kilian, Casimirs Hofmeister.
Monicarl, verstellter Lagej.
Jacob, Lagey.
Sybilla, und
Camilla, so auf Casimir den Arrest
schlagen.
Lena,
Margareth,
Lutzl,
Reserl,
Urschl, und
Maurokana, Menscher, die sich
beurlauben von Casimir.
Brandolera , ein Paduanisches
Frauenzimmer.
Parometra, auss Neapel, ein der-
gleichen.
Postmeister.
Richter.
Piedro, und
Francesco, beede Banditen.
Corporal.
Briefftrager-Jung.
Bauer.
Gerichts-Diener.
Scharffrich ter.
Etliche Stumme.
[2*] Innhalt.
DAss oiftermahlen ein verschwenderischer Sohn das jenige ?er-
schlemmert, was dessen karge Eltern zu ersparen alle Mühe an-
gewendet haben, bezeiget Casimir (also wird er betitult) ein übel
gerathner Sohn reicher Eltern, welcher, als er sich unter der
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 283
wachtbaren Obsicht seines Hofmeisters in die Länder begeben, hat
ihne sein übel gesitter und verschwenderischer Lebens- Wandl dahin
genöthiget, dass er als ein Schwein-Hirt (obwohlen mit allzuspater
Reue seiner Missethaten) zu seinen Eltern zurück zu kehren ge-
zwungen worden. Verbleibet demnach also nach Zeugnuss Plinii
ein bestandiger Geleitsmann der Verschwenderey die allzuspate Reue.
[2bJ Erster Theil. | Den Aufbruch dess ungerathenen |
Sohns in sich enthaltend.
Erster Auftritt.
DEr verlohrn Sohn beurlaubet sich von seinen Eltern.
Anderter.
Es entstehet zwischen dem verlohrnen Sohn, und seinem
Hofmeister schon der erste Streit, welchen jener (unter andern
Praetext zwar) sich annoch suchet bej seiner Liebsten zu beur-
lauben.
Dritter.
Zwey Weibsbilder beschweren sich bey der Obrigkeit wegen
der Abreiss des Casimirs, und wollen einen Arrest auf ihne
schlagen lassen.
Vierdter.
Casimir der verlohrne Sohn will sich bey seiner liebsten
Monicarl beurlauben, wird aber von ihr beredet, sie als einen
Lageyen mitzunehmen.
[3»] Fünfter.
Da der Hofmeister dess jungen Herrn erwartet, stellen sich
unterschidliche Weibsbilder ein, von dem Herrn Casimir sich zu-
beurlauben.
Sechster.
t Hiezu kommet Herr Casimir, und nach abgelegt-beweglicher
Sermon, beurlaubet er sich von denen Schönen.
Sibender.
Nachdem Casimir die sechs Weibsbilder entlassen, stellet sich
der neu aufgenommene Lagey (die verstellte Monicarl) ein, und
wird, wiewohl mit Unwillen dess Hofmeisters, auf die Reyss ge-
nommen.
Achter.
Die zwey Weibsbilder wollen den Casimir arrestiren lassen,
aber zu spat.
Anderter Theil. | Dess verlohrnen Sohns Leben | und
Aufführung | in der Frembde in sich enthaltend.
Erster Auftritt.
DA sich Casimir zu Padua kaum ein wenig umbgeschaut, ge-
284 R« M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderte.
rathet er gleich in Bekanntschaft [3b] mit einem Frauenzimmer,
nemblichen der Madam Brandolera.
Anderter.
Von deren zwey Bedienten, als Ertz-Banditen, und Beutel-
schneydern, dem von der Madam Brandolera auss Befelch dess
Hofmeisters wachenden, hinnach aber einschlagenden Lageyen Jacob
der vor dem jungen Herrn bey sich habend : und erst neu erhebte
Wechsslgeld abgenommen wirdet.
Dritter.
Welchen unwissend: aber von weme geschehenen Diebstahl,
als der aufgewachene Jacob vermercket, machet sich derselbe auf
die Flucht.
Vierdter.
Der Casimir aber führet die Madam Brandoleram, nebst ihren
zwey gedungenen Banditen, so dem Jacob das Geld abgenommen,
zu seinem Hofmeister, umb dass derselbe von dem neuen Wechssl,
(dene er zu Verlurst gegangen zuseyn nicht gewust) das verspäte
Geld der gedachten Madam bezahlen solle.
Fiinffter.
Über welches sich der Hofmeister sehr erzornet, und auf
keine Weiss das verspilte Geld bezahlen will, jedoch wird er mit
Gewalt hierzu gezwungen.
[4*] Sechster.
Nach welchem, und zwar nach Abgehen der Brandolera,
sambt dero zwey Banditen der Hofmeister den Casimir zu züch-
tigen gedencket: aber vergebens.
Sibender.
Indessen beklaget sich dess Casimirs Vatter über disen seinen
Sohn, und dessen verschwenderisches Leben.
Achter.
Während diser Zeit hat sich der Diener Jacob in eine Ein-
öde begeben, worinnen er auch seinen dermahligen Lebens -Wandl
beschreibet.
Neundter.
Entzwischen seynd Casimir, und dessen Hofmeister zu Neapel
angelanget, allwo diser an seinem jungen Herrn ein neues Greulz
erleben muss.
Zehender.
Dessen superfeines Leben in einem Gesang bescbriben wird.
Eilffter.
Casimir will sich mit einem Frauenzimmer der Madam Paro-
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhundert». 285
metra zu Neapel versprechen! solches aber wird durch den ver-
stellten Lagey hintertriben, zugleich dass derselbe ein Weibs-Person
durch dise [4b] Occasion geoffenbaret, auch die Madam Parometra
mit dem Lageyen in Arrest geführet.
Zwölfter.
Da sich eben der Hofmeister Ober das lange Aussbleiben
seines Casimirs beklaget, kommet diser zurück.
Dreyzehender.
Die Parometra, und Monicarl werden constituiret, und zu
dem Pranger condemniret.
Vierzehender.
Der Hofmeister entrüstet, und entschliesset sich, sobald Ca-
simir wider etwas solte anfangen, denselben zu verlassen, worzu
Casimir gleich kommet, und ihme neues Unheyl verursachet.
Funffzehender.
Casimir findet sich ein, als Monicarl und Parometra auf dem
Pranger stehen, wird zwar von ihnen sehr prostituiret, achtet es
aber für nichts.
[Vignette.]
[5*] Dritter Theil. | Dess ungerathenen Sohns Arm-
seligkeit in der | Frembde, und Zuruckkunfft
in sein Vatter- | land begreiffend.
Erster Auftritt.
DEr Hofmeister referiret, wie sich der Casimir in den Ländern
gehalten.
Anderter.
Casimir beklaget sich schon, dass es ihm übel ergehe, und
muss auss der Stadt Neapel.
Dritter.
Die Monicarl, und der Einsidler Jacob kommen zusammen.
Vierdter.
Casimir wird von einem Baum zum Schwein-Hirten aufge-
nommen.
Fünffter.
Der Jacob beurlaubet sich von der Monicarl.
[5b] Sechster.
Da der Casimir sein elendigen Stand bedauret, findet ihne
Jacob, und resolviren sich beede nach Hauss zu kehren.
Sibender.
Als der Hofmeister dess Casimirs Bruder instruiret,
286 & M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
Achter.
Kommen alle zusammen, und Casimir wird zu Gnaden auf-
genommen.
ENDE.
[Vignette.]
Johannes Bolte hat a. a. O. die Vermuthung ausge-
sprochen, dass dies Stück 'wohl identisch mit dem in Weimar
befindlichen Salzburger Singspiel von P. V. H. B. v. G.' sei.
Darin irrt er jedoch. Der richtige Titel dieser Trilogie
lautet:
Der | Verlorne Sohn | In | Seinem Abschiede. | Verfasset von
P. W. H. B. G. | Und in die Musik gebracht | Von J. E. E. ,
SALZBURG, | Gedruckt bey Johann Joseph Mayrs, Hof- und Aka-
demi- | sehen Buchdruckers sei Erbin, unpag. 10 BH. 4°. Der
Verlorne Sohn | In | Seinem Elende | u. s. w. 11 Bl. 4°. Der
Verlorne Sohn | In | Seiner Rückkehre. | u. s. w. 12 Bl. 4°. [Salz
bürg.]
Der Componist heisst Eberlin. Diese Bearbeitung ist
eine weitläuftige allegorische Deutung der biblischen Pa-
rabel, so bedeutet im ersten Theile der Vater: die Vor-
sicht, die Mutter: die Liebe, Eleutheriphilus der Sohn: der
freye Mensch, Epithymius ein vertrauter Diener des Sohnes:
die Begehrlichkeit. Im zweiten Theile kommen zween Be-
diente des Vaters des Eleutheriphilus dazu, Deophorus: die
Furcht und Elpidius: die Hoffnung. Im dritten Theile tritt
noch der nicht weiter gedeutete ältere Sohn Epiphidius auf.
Der zweite Theil ist jedesfalls mit dem von Bolte S. 202
zum Jahre 1 763 aus Trostberg angeführten 'Eleutheriphilus,
der verlorne Sohn in seinem Elend9 (Gatalogus codicum
mscr. Monacensium 6, 452 Nr. 4400) identisch. Der Ver-
fasser dieses Oratoriums hiess P. Wolfgang Holzmayr, war
Benedictiner von Gleink, die Anfangsbuchstaben stehen auf
dem Titel. Darauf wurde ich von Prof. Hermann Wagner
in Salzburg freundlichst aufmerksam gemacht. In einem
handschriftlichen Verzeichnisse der Salzburger Dramen,
welches das Begierungsarchiv in Salzburg von der Hand
des verstorbenen Dr. Leopold Spatzenegger besitzt, werden
von diesem Benedictiner noch angeführt: Sedecias König
der Juden, Des erkannten Josephs erster und zweiter Theil,
Die in der Samariterin siegende Gnade ; sie alle wurden mit
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 287
Johann Ernst Eberlins Musik in Salzburg aufgeführt. Holz-
mayr war zu Steyr geboren, 1749 — 69 am Gymnasium,
1759 — 61 an der Universität in Salzburg thätig und starb
1791 (Zauner, Akad. Professoren S. 52).
Der Stoff vom verlornen Sohn war in Salzburg, wie es
scheint, ein nicht weniger beliebter, als in anderen Gegen-
den Deutschlands. Schon im Jahre 1639 wurde der filius
prodigus auf dem Benedictinertheater aufgeführt, wenigstens
besagt eine sehr alte Notiz in einem Sammelbande der
Salzburger Studienbibliothek: 'Anno 1639. Fuit Comoedia
de filio Prodigo. Composuit P. Alexander Hueber Ande-
censis. Synopses nullae distributae.' Und dieses Drama
mus8 so gefallen haben, dass es am 15. October 1669 noch-
mals gespielt wurde. Von dieser Aufführung besitzen wir
ein Programm, welches den Titel führt:
Libertas sibi permissa, domi pruriens, foris seducta, tandem
resipiscens: Seu Adolescens Prodigus: In debitum et humillimum
obsequium celsissimo et reverendissimo doraino domino Maximiliano
Gandolpho Ex Sac. Roman. Imper. Comitibus de Küenburg Archi-
piscopo Salisburgensi, s. juris apostolicae legato, Germaniae pri-
mati Ab Academica Juventuti Salisburgensi apud PP. Benedictinos
in Theatrum productus. Anno M. DC. LXIX. die 15. Octobris.
Ex Typograph6o Joannis Baptistae Mayr, Typographi Aulico-Aca-
demici. (12 SS. 4°.) [Salzburg.]
Der 'Catalogus Actorum' zählt 63 mitwirkende Personen
auf, dazu kommt noch ein Chorus.
Dieses Drama des 17. Jhs. ist im wesentlichen iden-
tisch mit den Fassungen, welche wir aus dem 16. Jh. kennen,
es lässt sich im einzelnen die Übereinstimmung aufzeigen.
In dem Programm folgt jedesmal auf eine lateinische die
deutsche Inhaltsangabe; diese lasse ich abdrucken, weil sie
durch die Namen der auftretenden Personen und einzelne
Dialektworte die interessantere ist. Vom allegorischen
Prologus, einer Huldigung für Max Gandolph, sehe ich ab.
Actus Primus. (Atrium).
Frau Curiositas oder Nasenwitz, darff sagen; sie seye aller
Weiber Gontrafet in originali, hoffet, wann Turbonius ein be-
rühmter Landfahrer von ihr das Kader entlehnet, er wurde in
Vranij Hauss einen guten Fisch fangen.
Scena I.
Turbonius machet sehr vil auss seinen Raisen. Machet dass
288 R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
Prodigus ein Lust zum Wanderen bekombt, süßtet ihn auch an,
er solle sein Erbtheil an Vatter fodern.
Scena II.
Pedanus Turbonij Auffwarter machet ein Legend über seinen
Herrn. Dessgleichen thun auch die Diener Vranij, sonderlich
Currelius, welcher zween Freund Vranij zu seinem Herrn abholet.
Scena III.
Vranius der alte Vatter hält Raht mit seinen Vertrauten, ob
er seinen Sohn solte also frey dahin lassen.
Scena IV.
Prodigus [incentore Turbonio] will mit Gewalt in die Länder.
Gibt noch weder umb den Vatter, noch umb die Mutter.
Scena V.
Der Nachtretter Turbonij [Pedanus] speyet ab gefressuer
Brügl-Suppen. Verlobt seinen Herrn an den Galgen, will doch
solche Fahrt selbst persönlich nicht verrichten.
Scena VI.
Vranij Hauss-Knecht ermatten ab der Arbeit, in dem sie alles
zur Prodigi Reiss fertigen. Der Bruder Prodigi [Adelphus], rühmet
sich, dass er vil besser gerahten sey, als sein Bruder.
Scena VII.
Prodigus nimbt Vrlaub Ton seinem Vatter; wird von ihme
mit kurtzen doch kräftigen Lehr-Puncten versehen.
Actus Secundus.
Scena I.
Das Frawle Nasenwitz [Guriositas] hüpftet vor Freuden, dass
Prodigus in das Garn gangen. Will, die Zuseher solten mit ihr
die gewaltige Zucker-Stadt Placenz in Lufft bawen [Jubet Specta-
tores Placentiam urbem struere].
Scena II (Hortus et Mare).
Die Tugend [Virtus] beklaget sehr, dass sie von Prodigo den
Korb bekommen. Entgegen führet Untugend [Virtus] Prodigum
bey der Hand in lustige örter, allwo er von dem Echo begrüsset
wird mit betrüglichen Versagungen. Die Heer-Fräulin [Sirenes,
4 Nymphae] thun auch das ihrige darzu, mit Singen vnd Hupffeo,
ob er mehr als ein Mensch wäre. Cupido zwar klein, will, er
seye gleichwol ein Mann [Cupido vires suas explicat. Neben dem
Cupido bonus erscheint Cupido malus im Catalogus Actorum].
Scena III. (Urbs)
Curelius ein hurtiger Bott Prodigi, bestellt zu Placenz für
sein Herrn ein Würts-Hauss. Kombt mit dem Thorhüter in ein
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 289
freundliches Gespräch, ob wechssleten sie mit einander Tölpl-
Thaler [cum atriensi domüs (wol Dromo) bonis dictis certat].
Scena IV.
Meister Sorbin Schlüsselraumer [parasitaster] will die Pasten
aussm Calender haben; bekommet fröliche Zeitung von Gomphio
seinem Mitgspan, weil Prodigus ankommen seye, solte es wider
Fassnacht werden.
Scena V.
Gurrelius sagt, er heisse Hurtig vnd nicht Lentz [Gurrelius
negat plumbeos sibi pedes esse, sed plumeos]. Poculio der Würth
ist zornig ob wärens Lugen, was von Prodigo spargiert. Diser
kommet an mit einer Eupl Schmarotzern vnd Schmeichlern, darunder
Fendrich ist Turbonius, vnd kehret bey Poculio ein. [Die Parasiti
hiessen nach dem Gat. Act.: Sorbinus, Gomphius, Mictirus und
Bucco].
Scena VI.
Turbonius weil ihm der Söckl vertrawet, machet Anstalt was
den Beitl l&hret, vnd den Bauch füllet [ad luxum et lusum].
Scena VII.
Es verwundert sich Pedanus, wie doch Turbonio die grobe
Schelmen-Stucken hier vnnd dort also glückten. Ihne aber die
kleinisten schier an Galgen bracht.
Actus tertius.
Scena I.
Die Fräwlin Alles-verschwend, Lieb-koss, Immer-
frisch, Allzeit-nichts vnd Lieb [Prodigalitas, Voluptas, Juven-
tus, Amor, Inopia] ziehen dem eingeschnurpfften Schlepsack Hab-
an-dich [Avaritia] die Haut auss, vnd wollen in gar Todt haben.
Hernach verfügen sie sich zum Juncker Alles-verthu. [Prodigus].
Scena IL
Poculio vergunnt disem Frauen-Zimmer die Herberg, achts
wenig was für Balg seynd, wanns nur Geld tragen. Gurrelius
wird mit einem Schreiben von Turbonio zum Vrani abgefertiget.
Scena III.
Ein gantzer Hauffen Spilleut kommen zum Poculio. Welcher
dann wohl lehret, wann der Würth solte die doppelte Kreiden
brauchen, [nach dem Catalogus Actorum hiessen die Fidicines:
Orpheus, Chordanus, Fidius, Choriambus, Arion, Lyranus, Vannius
sycophanta, Muselmannius].
Scena IV.
Den Bettl-Sack Inopia stosst man zur Thür hinauss, weilen er
sich vor Prodigo blicken lassen, vnd einen Scrupel eingejagt, aber
er trohet sich zu rechen.
Vierteljahnchrift ffir Litteratnrgeschichte V 19
290 R- M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhundert«.
Scena V.
Dem Prodigo ist nicht recht vmbs Hertz; aber das schmeich-
lerische Gesindl, ermuntern ihn wider: vnd geht man nun in die
nechste Gärten. [Parasiti metum Inopiae eximunt Prodigo, seceditur
in hortos suburbanos].
Scena VI.
Poculio ist froh, dass Inopia das Hauss geraumet, vemimbt
von den Köchen, was ein jeder koche [nach dem Cat. Act. hiessen
sie Cultrio, Ollanus, Prunus, Patellus, Carbon ius]. Er selbsten
gehet in Keller.
Scena VII. [Gella vinaria].
Poculio findet seltzame Gast im Keller die er verjagt. [Poculio
spectra reperit in cella vinaria, fugatque; da nun der Cat. Act.
vier Sagae vorführt: Sagala, Lagala, Trigola, Hircula, welche sonst
nicht vorkommen, so sind sie wol die Spectra].
Actus quartus.
Scena I. [Gonclave]
Der fromme Vatter Vranius leset das Böbische Schreiben
seines Sohns vor seinen vertrauten Freunden, fertiget Currelium
widerumb ab mit ernstlichem Befelch, er solle wider haimb
kommen.
Scena II [Atrium].
Die vertribne Inopia nimbt zu sich den Hunger vnd Kummer
[Farnes et Poenitentia], sich an dem Prodigo zu rechen.
Scena III [Hortus].
Der Prodigus lasst das Glück-Rad Laufen, ist guts muhts,
verspillet seine beste Sachen.
Scena IV.
Ein böse Zeitung verderbt den Muht [Ludos turbat infaustus
nuncius], dass nemblich Inopia, in dem Hauss Poculionis Quartier
gemacht Derowegen dann man die Garten lasset Garten seyn.
Scena V.
Pedanus vnd Levinus zween Spitzbuben beschreiben, diser
Poculionem wie er so abenthewerisch, jener Turbonum, wie dass
er ein Ertz-Vogl seye.
Scena VI [Urbs].
Poculio will bey leib nit Inopiam ins Hauss lassen, aber ver-
gebens. Schicket dann vmb die Schergen.
Scena VII.
Armuht, Hunger vnd Kummer, gehen auff Prodigum loss, zu
denen stosset der Geitz, verspricht gute Dienst zu leisten.
R. M. Werner. Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 291
Scene VIII.
Prodigus solle nun die Zöch "zahlen, weilen ers aber nit ver-
möchte, wird er von den seinigen allen verlassen [deseritur ä Tur-
bonio, parasitis; amasijs]; aussgezogen, vnnd nach empfangenem
Namen eines Verschwenders, von Schergen zur Stadt aussgeführt
[Lictores hiessen nach dem Cat. Act. Ligarius, Gryphus].
CHORUS.
Der Chor warnet, dass man den Ohrenmelckern [adulatoribus]
nit Statt gebe.
Actus quintus.
Scena I. [UrbsJ.
Der Bott Currelius ist vnwirsch, dass er Vranij Sohn niergent
finde, ist gleichwohl guts muhts, dass er zu Placenz sich wider
erquicken könde.
Scena II.
Aber es fählet ihm. Dann er vom Thürhüter Postino lächer-
lich abgefertigt wird. Vnd vernimbt der Sachen gantzen V erlauft.
Scena III.
Dem Currelio begegnet Prodigus als ein Bettler; weilen er
aber ihn nit erkennen wolt, beweinet er sein grosses Elend.
Scena IV.
Die Schmarotzer haben ein Haintzl an Prodigo. [Prodigus
Parasitis occurrit suis, iisque pro ludo est. vgl. Schmeller 2, 220].
Scena V. [Silva],
Fraw Nasenwitz [Guriositas] lachet über Prodigum, zaigl
welches der kürtzste Weeg seye zum Bettlsack.
Scena VI.
Die Tugent mit der heiligen Lieb nimbt sich wider vmb
Prodigum an, vertreibt von ihm den lasterhaften Cupidinem. Er
selbsten geht in sich, vnd will ernstlich wider zu seinem Vatter
kehren.
Scena VII.
Turbonius schließt abermahl in ein andere Haut, sucht sich
Weeg weiter, da er newe Hörner kundt aussetzen.
Scena VIII. [Aula].
Currelius bringt traurige Zeitung dem Vranio, wie sein Sohn
verdorben vnd gestorben, derhalben alles Trauren voll.
Scena IX.
Prodigus kombt wider heimb. Wird von seinem Vatter er-
kandt, vnd zu alten Gnaden vnd Reichthumb aufgenommen, wird
alles Freuden voll.
19*
292 R* M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
CHORUS.
Der Chor ladet zum Friden-Gesang, weil der verlohnte Solin
widerumb gefunden.
Ein Blick auf dieses Schema zeigt die Übereinstimmung
mit dem Drama des 16. Jhs. ganz deutlich. Einzelnes her-
vorzuheben ist nicht nöthig, weil ohnehin schon ziemlich viel
Platz für diese Frage weggenommen ist und jeder Leser
von Spenglers Buch sich leicht von der Richtigkeit meiner
Behauptung überzeugen kann.
Es sei gestattet noch weiteres Material vorzulegen. Im
Jahre 1705 wurde auf dem Salzburger Schultheater aber-
mals derselbe Stoff dargestellt und wieder hat sich das
Programm erhalten. Es führt den Titel:
Filii prodigi, | Sive | Homo | In peccandi licentiam, | DEUS {
In amandi vehementiam | effusus. | Uterque | Actione Parabolica
& alieno nomine | In Scenam datus, | Christiano verö Spectatori
In piam Redemptionis suae memoriam | Dedicatus | ä | Rhetorica
Salisburgensi | Ferijs Paschalibus, | Anno | ä Verbo Incarnato
M. D. CC. V. | 8°. 1 unpag. Bogen. [Salzburg.]
Der Verfasser ist nicht bekannt; er giebt der Parabel
gleichfalls eine allegorische Deutung, welche der Inhaltsan-
gabe jeder Scene beigefügt ist, überdies dienen rein allegorische
Scenen und die Chöre dieser Deutung. Ich begnüge mich
mit der Gliederung des Stoffes und sehe von der Allegorie
ab. Das Stück zerfallt in drei partes.
Pars I. Filij ä Patre abitus.
Scena I.
Libertus ob impetratam denique ä Patre Vranio substantiam
immane quantum sibi applaudens, itineri se accingit: Creontem et
Leonium, veteranos nequitiae suae conimüitones, ad conquirendum
hilarioris vitae sodalitium pramittit
Scena II.
Domesticorum super filij abitu et übertäte ominosa lamentatio.
Scena III.
Filij ä Patre Vranio non sine lacrimis dimissi Benedictio,
monitorum et Nummismatis patrii traditio, Eubuli in cubicularium
constitutio.
Scena IV.
Proemissi ä Liberto lurcones nequissimi, summa Prothei et
sodalium consolatione, juvenis desideria referunt ; ä quibus proinde
R. M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts. 293
cum ad omnigenum luxüs apparatum, tum praecipue ad texendas
suo tempore nequitias condicitur.
Scena V. [allegorisch]
Scena VI.
Theodinus, qua semper solicitudine, et amoris terteritate in
Libertum fratrem ferebatur, Fratri in exteras profecto pessime timere
incipit.
Scena VII.
Libertus in matriculam sceleratorum insertus, fit frater
draconum, et socius struthionum. Eubulus rei contrarius
cum ludibrio amandatur.
Pars II. Filius Prodigus et deceptus.
Scena 1.
Theodinus, curis suis per infelix Eubuli nuntium et ingentem
Patris dolorem confirmatis, ut quo citiüs eunti in preceps Fratri
succurat, cum duobus comitibus Eubulo et Selimo domo Patriä
digreditur.
Scena 11.
Libertus sociorum medius luxu, lusu, otio diffluit, et magnam
substantiae partem inter scorta dilapidans id agil, ut nihil non
agere videatur.
Scena III.
Theodinus susceptam de fratre inquirendo provinciam strenue
cum suis prosequitur, ad quaevis utut maxima viae discrimina se
cohortans.
Scena IV [allegorisch].
Scena V.
Bacchanalia Liberti et nocturna sacrificia: quibus ipse falsa
suorum adulatione tanquam Bacchus praeficitur.
Scena VI.
Libertus noctambulo ad fores Melaeae (Voluptatis) suaviüs
modulans, ex condicto k socijs personatis obruitur, spoliatur.
A supervenientibus Theodini comitibus liberatur, et vix non ad
meliora diducitur.
Scena VII [allegorisch].
Scena VIII.
Libertus hesterno adhuc raero ebrius, ne forte, qui jarn semel
poenituit, aliquando sociorum fraudibus omnino se subtrahat, Prothei
holophantee pessimi instinctu ad interulam usque exuitur, risum
daturus ulteriori tragoediae.
Scena IX.
Theodinus auditis Liberti . . . malis ad propria amplectenda
excitatior.
294 B- M. Werner, Zum Drama des 16. Jahrhunderts.
Scena X.
Flcbilis tectae falsitatis in Libertum conjuratae evolulio: qui
proinde omnium orbus, nudus, et desertus summa infamiä Protheo
Tyrannuni agenti subjugatur.
Pars III. Filius ad Patrem reversus.
Scena I.
Libertus subulcus miseriarum suarum non aliud, nisi fustes
et verbera, solatium accipit.
Scena II.
Submissi k Patre Vranio ob statum filiorum suorum nuntij
non aliud dem um, nisi Libertum jam dudum crepuisse, inaudiunt ;
eorum maeror, Prothei ad fraudes precavendas solertia.
Scena III.
Libertus k Protheo novis vinculis et niiserijs oneratus, faustö
tandem Amoris auspiciö, ä Theodino fratre, sub viatoris habitu
diu se dissimulante, redimitur: ipse ad Patrem k Theodini comitibus
«gre abstrahitur.
Scena IV [allegorisch].
Scena V.
Theodinus ä superveniente Protheo in vinculis conspectus
ultrö se furorum offert libidini : et cum Doctor Amorum sit, ad
oppugnandam hanc thesin invitat. An verum sit, quöd Pastor
bonus ponat animam pro ovibus suis? Joan. 10.
Scena VI.
Libertus doloris et amoris vehementiä regreditur ad Theo-
dinum, certus vel cum illo emori, vel suam ipse symbolam solvere.
Scena VII.
Doctoris Amorum in Areopago Dolorum Disputatio.
Scena VIII.
Nuntiorum ad Patrem revertentium solicitae conjectune.
Scena IX.
Theodinus in cathedra crucis vincit denique dolorum examina,
moritur; et Liberto pree dolore vix non emortuo, redivivus ipse
Vilam, Nummisma Patium, opes ab hostibus caplivatis direptas
restituit.
Scena X.
Vranius moerore ob filios suos perditos contabescens, novam
subito vitam ex laetabili utriusque reditu accipit : et postquam inter
mutuos complexus animorum facta est reconciliatio, ä Domesticis
prodigalitas Theogoni in amando extollitur.
Es war also ein wiederholt auf dem Salzburger Schul-
theater aufgeführter Stoff, welchen P. Leonhard Klotz aus
Bolte, Aus G. R. Weckherlins Leben. 295
Wessobrunn 1720 mit seinem Adventepiel 'Casimirl' paro-
dirte; denn Klotz wird als Verfasser genannt. Er war zu
Geltendorf in Nieder-Bayern 1685 geboren, 1713—21 Pro-
fessor der niederen lateinischen Schulen, 1721 — 23 der Uni-
versität in Salzburg, 1732—40 in Freising, ist gestorben
1742. Yon ihm wurde Verschiedenes in Salzburg gespielt,
1720 ausser dem Casimirl: 'Coelitum cura pro principibus
seu Friedericus Cognomine Placidus' (aufgeführt am 2. Sep-
tember), ferner 'Astaxerxes Ochus'. Ich werde demnächst
das Salzburger Schuldrama selbständig behandeln.
Wie fest die Scenenreihe des verlotternden Sohnes im
Bewusstsein sass 2), das beweist uns Gottsched, der in seiner
Critischen Dichtkunst 1730 S. 133 f. die verschiedene Ge-
stalt der Fabel in den einzelnen Dichtungsarten behandelt
und folgende 'comische Fabel' entwirft: 'Herr Trotzkopf,
ein reicher aber wollüstiger und verwegener Jüngling, hat
einen halben Tag mit Schmausen und Spielen zugebracht,
geräth aber des Abends in ein übelberüchtigtes Haus, wo
man ihm nicht nur alle seine Baarschaift nimmt, sondern
auch das Eleid vom Leibe zieht, und ihn so bloss auf die
Gasse hinausstösst. Er fluchet und poltert eine Weile ver-
gebens' u. s. f. Das ist Zug für Zug der verlorene Sohn.
Ich glaube, diese Stellen beweisen, wie schade es ist,
dass unsere Monographien die Geschichte der Stoffe nur
durch das Drama des 16. Jhs. verfolgen und das Schuldrama,
diesen Ableger älterer Motive gar nicht berücksichtigen.
Lemberg, Sommer 1890.
Richard Maria Werner.
Aus G. R. Weckherlins Leben.
Durch die freundliche Yermittelung von H. Albert Cohn
in Berlin erhielt ich einige Notizen, die der frühere Biblio-
thekar am Britischen Museum Herr W. B. Eye, den
deutschen Fachgenossen durch sein verdienstvolles Werk
'England as seen by foreigners' (1865) wohlbekannt, über
*) Vgl. auch Schupp, Der Freund in der Noth. Neudrucke 9, 14 f.
296 Bolte, Aus 0. R. Weckherline Leben.
den Dichter Georg Rodolf Weckherlin gesammelt hat und
dem deutschen Publikum zugänglich zu machen wünscht.
Darunter befindet sich der Brief Weckherlins, den Höpfner
schon 1869 in der Zeitschrift f. deutsche Philologie 1, 350 f.
nach Ryes Abschrift mitgetheilt hat, und mehrere Einzel-
heiten aus der Miltonlitteratur und aus der grossen Pob-
lication der State Papers, die auch den deutschen Literar-
historikern nicht entgangen sind.1) Neu dagegen und für
die Kenntniss der Familienverhältnisse des Dichters wichtig
ist vor allem die Copie des Grabsteins, welcher seinem 1667
verstorbenen Sohne in der Kirche zu Lynsted bei Sitting-
bourne, Kent gesetzt ist.
M. S.2)
Rodolph Weckerlin
De Champion Court in Comitatu Cant. Armig.3)
(Filii et heredis Rodolphi Weckerlyn Arm.)
Cui post varios casus, plurimaque discrimina
(Orbe Xtiano tantum non perlustrato)
Fata deraum quietas assignarunt sedes
Et in hoc tandem tumulo requiem dedere perenniorem.
Vixit annos quinquaginta,
Dies si numeres, parum,
Sin virtutes expendas, multum,
Adhuc funeri suo superstes in Aüternum duratums.
Posuit Anna conjux msestissima
Gul: Hugessen Equ: Aurat: filia
Quae maritum amplexibus ereptum
Hoc demum prosecuta est amoris pignore;
l) Zu der bei Goedeke Grundriss *3, 31 verzeichneten Litteratar
über W. kommt Alfr. Stern, Milton and seine Zeit 1879 3, 21. 26. 94.
288. 293. — Ein Vortrag von Herrn. Fischer im Staatsanzeiger für
Württemberg 1882, bes. Beilage Nr. 12 — 13, ein Artikel desselben
'Weitere Beiträge zur Biographie G. R. Weckherlins* in der Allgetn.
Zeitung 1888, Beil. Nr. 163, veranlasst durch F. Althaus' Aufsatz 'Bei-
träge zur Lebensgeschichte G. R. Weckherlins' ebenda 1888, Beil.
Nr. 144 — 145; endlich dessen Beiträge zur Literaturgeschichte Schwabens
Tübingen 1891 S. 1—39. — Drei Briefe von 1641—2 an den schwedischen
Kanzler Axel Oxenstierna bei A. Reifferscheid, Quellen zur Geschichte
des geistigen Lebens in Deutschland 1, 589 Nr. 511—513 (1889). Fait-
hornes Porträt von W. ist in Könneckes Bilderatlas zur Geschichte der
deutschen Nationallitteratur 1887 S. 114 reproducirt worden.
*) d. h. Manibus sacrum.
•) Armiger = Esquire.
Bolte, Aus G. B. Weckherlins Leben. 297
Monumentumque ideo erexit
Ut justi socios adscisceret doloris,
Et cum ipsa lugeat, ingemiscerent saltem reliqui.
Prseivit XXII Decerob. A. D. M. DCLXVII.
H. S. E.*)
Gideon Delaune Armig*:
Vir
Pietate, probitate, et jucunda gravitate
feliciter imbutus.
Mutavit locum Sept: 16. 1709 iEtat: 73.
Der hier genannte Rudolf Weckherlin, welcher fünfzig-
jährig am 22. December 1667 verstarb, muss also 1617 ge-
boren sein; er war somit das älteste Kind des Dichters,
der am 13. September 1616 seine geliebte 'Myrta' heim-
geführt hatte. Ein zweites Kind war die nach der Mutter
benannte Tochter Elisabeth, die später den Engländer
Trambull heiratete, wie sich aus Weckherlins Gedichten
1648 2, 828 Epigr. 109 ergiebt. Ihres Bruders Gattin Anna,
die Tochter des William Weston Hugessen in Provenders
(t 1675), war 1635 geboren, heiratete nach dem Tode ihres
ersten Gatten den Gideon Delaune of Sharsted (1636 bis
1709), überlebte auch diesen und starb bochbetagt am
13. November 1719.
Der jüngere Weckherlin nahm nach weitausgedehnten
Reisen seinen Sitz in Champions Court bei Lynsted; sein
Stammbaum und sein Wappen, ein goldener Bienenkorb in
schwarzem Felde, der über der dreizackigen Rangkrone als
Helmkleinod wiederholt und hier mit drei schwarzen Helm-
federn geziert ist, sind auf dem Herald1 s Office D. 18. fol. 60a
(Berry's Genealogies of Eent; vgl. Hasted's Mscr. im Briti-
schen Museum, Add. Ms. 5507) erhalten. Das Wappen ist
auch schon in einem lateinischen, mir nur im Auszuge vor-
liegenden Zeugniss (Rec. Office) beschrieben, das Sir John
Borough am 24. April 1639 dem Dichter G. R. Weckherlin
ausstellte; hier wird sein Vater Johann als fürstlicher Rath
unter drei auf einander folgenden Herzögen von Würtem-
berg bezeichnet, dessen berühmte Familie seit Alters in der
Gegend von Ulm angesessen war. Der erwähnte Stamm-
baum lautet:
4) Hoc eepulcrum exstruxit (oder gignum erexit).
298 Bolte, Aus 6. R. Weckherlins Leben.
Johannes Wecherlin = Ursula filia
de ducatu de Wertingberg ' ... Sadler
i
Georgius Rudolphus Wecherlin
de Givit: Westmonast:
Eliz. filia Francisci
Raworth de Dover.
Rudolphus Wecherlin de = Anna filia Willielmi
Champions Court in paroch: Hugessen mil:
de Newenham in Co. Can. arm.
1663.
Aus diesem Dokumente ergiebt sich die wichtige und bis-
her unbekannte Thatsache, dass die Gattin des Dichters,
die unter dem Namen Myrta in seinen Gedichten erscheint,
nicht, wie E. Höpfner (G. B. Weckherlins Oden und Ge-
sänge, ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung
1865 S. 30) vermuthete, Elisabeth Dudley, sondern Elisa-
beth Raworth war, deren Vater Francis Raworth of Dover
im Calendar of State Papers mehrfach unter den Jahren
1616—1635 erwähnt wird.
Zu den von Althaus und Fischer aus dem letztgenannten
Werke angeführten Notizen sei schliesslich nachgetragen,
dass im Calendar of State Papers 1636 — 1637, Domestic
series, ed. by J.Bruce 1867 p. 19. 63. 116. 143 Zahlungen
an Weckherlin, 'his Majesty's servant', für Aufwartung bei
Hofe und für Übersetzung von Staatspapieren gebucht sind.
In Le Neve's Enights wird er genannt 4of the City of West-
minster, esq:'.
Eine Herrn Rye von G. H. Simon in Berlin zugegan-
gene Mittheilung, dass Weckherlin auch die anonyme 'Be-
schreibung Der Reise : Empfahung des Ritterlichen Ordens :
Volbringung Des Heyraths: vnd glücklicher Heimfuhrung
Des Herrn Friederichen dess Fünften Pfaltzgraven bey Rhein
mit der Elisabethen, Jacobi des Ersten Einigen Tochter.
[Heidelberg,] In Gotthardt Yögelins Verlag. Anno 1613,
2 Bl. 205 -[-99 S. 4°' verfasst habe, erweist sich nach der
freundlichen Auskunft des H. Prof. Hermann Fischer in
Tübingen, der das Exemplar der Münchener Bibliothek
einsah, als irrthümlich, da Weckherlin unter den anwesen-
Bolte, Magdalene Sibylle v. Würtemberg. 209
den Personen und den Autoren der verschiedenen darin
aufgenommenen Gedichte nirgends erwähnt wird.
Berlin. Johannes Bolte.
Eine Handschrift der Herzogin Magdalene
Sibylle von Wttrtemberg.
Unter den geistlichen Dichterinnen des 1 7. Jahrhunderts
nennt Goedeke, Grundriss * 3, 327 auch die hessische Prin-
zessin Magdalena Sibylla, welche, 1652 zu Darmstadt ge-
boren, einundzwanzigjährig den Herzog Wilhelm Ludwig
von Würtemberg heiratete und 1712 starb; doch führt er
nicht die beiden von ihr herausgegebenen Andachtsbücher
an, welche Koch, Geschichte des deutschen Kirchenliedes s
5,24—36 (1868) und Bertheau in der Allgemeinen deutschen
Biographie 20,49 f. namhaft machen:
1) Gott geweyhtes Andachts-Opffer, zusammen getragen und
zu dem Druck befördert Von MSHZW [diese Initialen sind
künstlich verschlungen]. Stutgart, Paulus Treu 1690. 8° (Berlin
Es 18 520).
2) Das mit Jesu Gekreutzigte Hertz, verfasst vnd zusamen-
getragen Von MSHZW [wie oben]. Ulm, Daniel Bartholomae
1707. 2 Theile 8°. (Berlin Es 18524).
Noch völlig unbekannt ist meines Wissens eine von
der Prinzessin in ihrer am schwedischen Hofe bei ihrer
Tante, der Königin -Witwe Hedwig Eleonore, verlebten
Jugend (1665—1673) aufgezeichnete Liedersammlung, die
ich im Handschriftenverzeichniss der Grossherzoglichen Hof*
und Landesbibliothek zu Karlsruhe (P. Karlsr. 133) unter
dem Titel 'Schwedische und deutsche Lieder7 auffand und
später in Müsse in Berlin benutzen durfte. Es sind 94 Quart«
blätter in einem Lederbande, welche zumeist deutsche Lieder,
Sprüche und Gebete, doch auch einige schwedische ent-
halten. Bl. 62 b— 87 b sind von einer zweiten zierlicheren
Hand geschrieben; die Besitzerin hat sich mit ihrem auch
anderweitig bekannten Wahlspruche auf Bl. 90 b eingetragen:
'Honnenr est mon tresor Et Vertu ma conduite. Madelen
Sibyll C d H [d. h. Comtesse de Hassie] 1673'.
300 Bolte, Magdalene Sibylle v. Würiemberg.
Die Handschrift hat mit den beiden Druckwerken das
gemeinsam, dass in ihr manche Gedichte andrer Verfasser
ohne Angabe der Herkunft aufgenommen sind ; doch dürfen
wir wohl die meisten auf Rechnung der fürstlichen Schreiberin
setzen. Ich gebe ein Yerzeichniss der Lieder, unter denen
zwei schwedische und zwanzig deutsche sind.
Bl. 1*: Du Sorgh onythig sorg och gengande förtret
Som kommer och förstör mins sinness rolighet.
BL 3*: F& fangh oroo och qwaal förtraeteliga tank
Ängstian som altydh fins hwar stört bekymmer Tank.
Bl. 4b: Ess ist kein Creutz so schwer, dass unss wird auferleget.
Welchss nicht bald leichler wird im fall manss willig traget.
Bl. 5*: Wenn sich der Mensche recht bedächt,
Wie so schlecht dass Leben diesses Lebens (10 Str.).
Bl. 6*: Muss ich den sein dess Glückess Ball,
Will mein verhängnuss mich den ewig quälen (6 Str.).
Bl. 8*: Wass soll ich sein darumb so sehr betrübet,
Dass mich das unglöck mehr alss glucke liebet (8 Str.).
Bl. 9»: 0 Ehr-Geitz, Geldt, Wollüste!
Wass bösses stuftet ihr (14 Str.). Ein Liedt, welchess
ein armer Sünder selbst gemacht hat, alss er sollen ge-
rieht werden.
Bl. 16*: So lob ich nuhn ein frey gemühte,
Dass in sich selbst Vergnügung sucht (8 Str.).
Bl. 17b: Die schnöde Lust mag bleiben wor sie will,
Ich halts nicht mehr mit ihr (4 Str.).
Bl. 18b: Wass ist die Freundschafft dieser Wellt?
Ein hauss so auff den Sandt gestellt (5 Str.).
Bl. 19b: Wie kann dir dass Sündenleben
Ruhe undt Vergnügung geben (9 Str.). Dialog von Gott-
lieb und Weltlieb.
Bl. 22*: Wie lang soll so hefftig plagen,
Liebster Gott, mich diesse Wellt (9 Str.).
Bl. 24b: Nichts ist auf der Erden,
Dass nicht könte werden (3 Str.).
Bl. 26*: Weichet, weichet, ihr Gedanken,
Quelet mich nicht alzu sehr (4 Str.).
Bl. 27*: Wass ist doch entlich umb undt ahn
Der mensch undt ihr gantzes Wessen (5 Str.).
Bl. 30*: Gedult ist euch von nöhten,
Wen sorge, gram undt Leydt (14 Str.).
Bl. 33 b: Liebster Jesu, könt ich fligen
Alss ein adeler zu dir (2 Str.).
Bl. 51 b: Du schnödes Fürslenpaar, wie kanst du den verlassen,
Den so des Höchsten Heer in seinen Schutz thut fassen
(4 Str.).
Hirzel, J. H. Waaer. 301 .
Bl. 52*: Hingegen rühm ich den, der kan in Vnfalls blitzen
Des grossen Gottes Gnadt, des Kaysers Treu besitzen (3 Str.).
Teutsche Fürsten Treu im gegensatz.
Bl. 80b: Erbarmfe] dich mein Herr, der du mein Schöpfer bist
Und den gemachet hast, der ohn dich nichtes ist.
Bl. 83*: Wass betrübstu dich doch meine Seele,
Hast vnruhe früh vnd spat.
Bl. 86*: Valet will ich dir geben. (Die erste Strophe von V. Her-
bergers bekanntem Liede.)
In allen diesen Dichtungen herrscht durchweg dieselbe
Stimmung der Abkehr von der Welt, Zufriedenheit mit
einem bescheidenen Loose, festes Gottvertrauen und stille
Ergebung in das Unvermeidliche. Ebenso in den einge-
streuten Sprüchen aus älterer Zeit: 'Gott vertrau, nicht
verzag ; Geld undt guht komt alle tag. Geld ist geld, Wellt
ist weit: Wohl den, der Gott zum Freundt behält.5 — 'Gott
lieben, Tugend üben, beständig bleiben Kan niemandt ge-
reuen9. — (GeduIt in Noht, Hoffnung auf Gott, Ein guht
gewissen dabey Macht alle[r] sorgen frey\ — 'Bete fleissig,
folge freudich, Arbeite redlich, mein ess treulich, Sey ge-
dultig, bleib beständig, So bistu selig.' u. s. w. Ein einziges
Mal finden sich zwei zusammengehörige politische Gedichte
(Bl. 51 b. 52»), deren historischer Hintergrund — es ist von
zwei fürstlichen Verräthern des Kaisers und einem helden-
haften Vertheidiger desselben die Rede — mir freilich
räthselhaft bleibt. Von den prosaischen Stücken in deutscher
und schwedischer Sprache sind die meisten Gebete und
religiöse Betrachtungen; Bl. 60 b stehen Citate aus Seneca,
Bl. 48 * ein 'Salomonischer Hohen Lieds Calender'.
Berlin. Johannes Bolte.
J. H. Waser.
In meiner vor kurzem erschienenen Schrift 'Wieland und
Martin und Regula Eünzli, Leipzig 1891' ist des lustigen
Genossen Wielands und Künzlis, des satirischen Diaconus
J. H. Waser zu Winterthur, mehrfach gedacht, im Anhange
auch ein Yerzeichniss der Schriften Wasers gegeben worden»
. 302 Hirzel, J. H. Waser.
Indessen machte jenes Yerzeichniss auf Vollständigkeit
keinen Anspruch und ausdrücklich wurde es nur als der'
Anfang einer Bibliographie der Waserschen Schriften be-
zeichnet (Wieland u. M. u. R. Künzli S. 13. Anm.); Ver-
vollständigung, insbesondere nach den von Bodmer in seinem
'Denkmaal'1) gegebenen Andeutungen erschien als wünschens-
werte, ja nothwendig.
Denn Waser gehört zu den besten unter den nicht
eben zahlreichen humoristisch - satirischen Schriftstellern
Deutschlands im vorigen Jahrhundert. Er hat als solcher
das Lob eines Lessing, eines Herder geerntet, und auch
noch in neuerer Zeit ist durch die gelungene Ironie seiner
'Briefe zweier Landpfarrer die Messiade betreffend9 selbst
ein Leser wie Qervinus lustig in die Irre geführt worden. 2 <
Waser hat auch als Übersetzer für seine Zeit Vortreffliches
geleistet und wieder ist es Herder gewesen, der um seiner
Übersetzungen willen warm für Waser eingetreten ist. 3 *
Sollte dieses alles nicht hinreichen, uns zu veranlassen, den
Spuren dieses feinen Kopfes, soweit sie in der Litteratur
l) Denkmaal dem Übersetzer Butlers, Swifts und Luzians errichtet.
Deutsches Museum 1784, 1,511 ff.
*) Wie Muncker in seiner Lebensgeschichte Klopstocks, Stuttgart
1888, S. 152 richtig hervorhebt. Vgl. Qervinus, Gesch. d. d. Dichtung
4; 172.
•) In dem Aufsatze über die Schamhaftigkeit Virgils bittet Herder
seine Leser die schöne und treffliche Beschreibung des Hudibras in
der schätzbaren Zürchischen Übersetzung1 des Butlerschen Gedichte*
aufzuschlagen (Herders Werke [Suphan] 3,301). Als Fr. Just Riedel
in seinen Briefen 'Ober das Publicum1 wegen seines 'Hudibras' einen
'schiefen Seitenblick" auf Waser fallen Hess, nahm Herder sich seines
'lieben Waser1 an, 'dessen Laune doch gewiss nicht unglücklich ist, da
wir Deutsche noch immer wenig Schriftsteller von Laune haben*. Und
im Weitern sagte er: 'Seine moralischen Urtheile haben von Lessing
selbst ihr Lob erhalten, seine paar Briefe in der Langischen Sammlung
zeigen, dass Humour Wendung seines Kopfes sei und dann auch selbst
seine Obersetzung des Hudibras in eine fremde Sprache, in eine Prose.
in die Sprache eines zierlichem Volkes — selbst Englander verwundern
sich, dass sie soweit geglückt ist und uns wirds schon zu lange, in
ihr Spuren eines Deutschen Hudibras zu loben* Herder 4, 189 n. 491.
Diese Stellen seien hier als Ergänzungen zu den Wieland u. Künzli
S. 38 u. 185 herbeigezogenen angeführt.
Hirzel, J. H. Waser. 303
sichtbar geworden sind, mit Eifer und Gründlichkeit nach-
zugehen ?
In seinem schon erwähnten 'Denkmaal' Wasers hat
Bodmer Fabeldichtungen Wasers namhaft gemacht, denen
er eine absonderlich originelle Fassung zuerkannte.4) Zwar
wo die Fabeln, 'die wir von ihm haben', 'der Tauber und
seine Mutter', 'der Affe und der Ochs', 'der Kater und der
Hahn9, gedruckt sind, vermag ich leider auch heute nicht
anzugeben. Aber gedruckte Fabeln von Waser stehen —
und dies sei der erste Nachtrag zu dem von mir gegebenen
Verzeichnisse der Schriften Wasers — in 'Schweizerische
Blumenlese von J. Bürklf. Zweiter Theil, Zürich 1781
und Dritter und letzter Theil, ebenda 1783. Die Titel
dieser Fabeln lauten: 'Die Welt im Saturn' (Blumenlese
2, 57), 'Der Eber und der Widder, eine Fabel aus dem
Englischen des Hrn. Gay 1746' (Blum. 2, 112), 'Der Hage-
stolz9 (Blum. 2, 182), endlich 'Die Landsgemeinde der Thiere'
(Blum. 3,162).
Was das Gedicht 'die Welt im Saturn7 betrifft, so ist
man fast versucht, dasselbe mit dem von Bodmer 'Denk-
maal7 S. 115 citirten 'Der Trunk im Saturn1 für identisch
zu halten: die Frage, wie es um den Wein auf dem Pla-
neten bestellt sei und was dort an Stelle des Weines ge-
trunken werde, macht einen nicht unbeträchtlichen Theil
des kleinen Gedichtes aus.5) In der 'Landsgemeinde der
4) 'Waser hatte (Heideggers) ganzen Beifall, da er ihm die Idee
von einer neuen Art Fabeln mittheilte, in welcher die Thiere einander
Fabeln erzählen, die sie aus dem Reiche der Menschen nehmen, wie
die Menschen die ihren aus dem Reiche der Thiere holen1 u. h. f.
Denkmaal S. 514.
*) Blumenlese 2, 58 :
Wie schmeckt wol im Saturn — Herr Philosoph — der Wein?
Ja — von Lyäens Saft wird keine Rede seyn.
Der Landmann würde stets der Arbeit Frucht verlieren,
Die Reben würden dort zu Stein und Bein erfrieren,
Sagt nun, obs besser euch hienieden nicht gefallt?
Und läugnet länger noch den Satz der besten Welt!
Doch soll man im Saturn vortrefflich Wasser haben,
Mehr als Burgunder soll's, mehr als Tokayer laben,
Wär'8 minder geistig, nun — das ganze Jahr fror 's ein!
Auch trinkt man Kirschengeist daselbst und Aletwein u. s. w.
304 Hinsei, J. H. Waser.
Thiere' aber scheint in der That das Programm jener neuen
Art von Fabeldichtung aufgestellt zu sein, von dessen Aus-
fuhrung in den oben angeführten Fabeln Wasers, *der
Tauber und seine Mutter' etc. Bodmer im 'Denkmaal' redet :
Erzürnt darüber, dass die Menschen für alle ihre Laster
die Thiere als Symbole brauchen ('er frisst gleich einem
Hunde9, 'er ist ein schlauer Fuchs', 'ein Hasenherz' etc.),
beschliessen die Thiere, nun ihre Laster alle 'dem Menschen
auf den Bücken zu werfen9.
Aber Waser ist namentlich als Übersetzer ausländischer
Satiriker seinen Zeitgenossen bekannt geworden und vor-
zugsweise auch als solcher der Nachwelt im Gedacht-
ni88 geblieben. Seine Übersetzung von Samuel Butlers
Hudibras, deren bereits oben in den Zeugnissen Herders
gedacht ist, war eine seiner gelungensten Leistungen auf
diesem Gebiete. Indessen diese Arbeit war für ihren Ur-
heber mit vielen Unannehmlichkeiten verknüpft. Bereits
1737 hatte J. J. Bodmer die ersten zwei Gesänge des Butler-
schen Gedichtes ins Deutsche übertragen.6) Als nun aber
1765 Waser mit der Übersetzung des ganzen Hudibras her-
vortrat — und diese Übersetzung überragte den Bodmer-
schen Versuch bei weitem — , erhob die Censur in Zürich
Einsprache, trotzdem, dass an der Bodmerschen Über-
tragung seiner Zeit keinerlei Anstoss genommen worden
war.
Dieses Verhalten der geistlichen Behörde in seiner
•) Versuch einer deutschen Übersetzung von Samuel Butlers Hu-
dibras, einem satyrischen Gedichte wider die Schwärmer und Inde-
pendenten zur Zeit Karls I. Frankfurt u. Leipzig. 1737. Vgl. Gott-
sched , Beyträge zur Critik u. Historie d. deutsch. Sprache 5, 157 ff.
Gottsched spricht von der 'Schönheit des Originals, eines Meisterstücks
in seiner Art* und 'der Starke der Übersetzung*, 'die man gewiss aus
einer Sprache, die wenigen in solcher Vollkommenheit bey wohnet, dass
sie den Hudibras überall verstehen könnten, nicht leicht von Jemand
Anderem als dem gelehrten Herrn Bodmer hätte erwarten können' und
er fährt dann fort: 'Nachdem uns nemlich derselbe einen erhabenen
Milton in deutscher Sprache geliefert hat, so hat er uns auch einen
lustigen Butler gleichsam zur Zugabe schenken wollen. Wir wollen
theils aus der Vorrede des kunstverständigen Übersetzers, theils aus
dem Werke unsern Lesern einen Vorgeschmack geben*.
Hirzel, J. H. Waser. 305
Vaterstadt — der Antistes der zürcherischen Kirche 7) nebst
zwei Chorherrn und zwei Rathsherrn übte die Censur in
Zürich aus — scheint Waser in hohem Grade gekränkt zu
haben, zumal da es nicht aus rein sachlichen Beweggründen
hervorgegangen war: 'Seiner Person wehe zu thun\ sagt
Bodmer im Nekrolog Wasers, 'wandte ein mächtiger Priester
sein ganzes Ansehen an, die Übersetzung von Butlers Hu-
dibras zu unterdrücken. Die vernünftigsten Vorstellungen
und die Empfehlungen grosser Männer wurden lange um-
sonst versucht; denn was vermögen Gründe und Vernunft
gegen Leute, die sie nicht haben wollen? Eine Schutz-
schrift, die Waser für Hudibras schrieb, machte das Übel
nur ärger. Das Ding sezete dem rechtschaffenen Manne
sehr zu9. Dann führt Bodmer die Betrachtungen an, zu
denen die versuchte Unterdrückung des Hudibras Waser,
wahrscheinlich in mündlichen Äusserungen und in Briefen,
an Bodmer veranlasst habe. Man möge diese Betrachtungen,
'traurig und bedeutend' nennt sie Bodmer, im Nekrolog
Wasers selber nachlesen. Aber welches war die Schutz-
Schrift, die Waser für Hudibras schrieb?
Ich finde nicht, dass eine Schutz-Schrift Wasers für
seinen Hudibras damals eigens gedruckt worden sei; auch
ist in dem damaligen litterarisch-kritischen Organe Zürichs
1 Wöchentliche Anzeigen zum V ortheil der Liebhaber der
Wissenschaften und Künste' 3 Bände 1764—1766 (die ersten
beiden bei Heidegger, der letzte bei Füesslin u. Co. er-
schienen) nirgends von Wasers deutschem Hudibras die
Rede. Die Schutz - Schrift, die Bodmer im 'DenkmaaP
Wasers im Sinne hat, ist daher vermuthlich jener umfang-
reiche Brief Wasers an seine Verleger Orell Qessner u. Co.,
in welchem Waser sich über die von der Censur gegen
sein Buch erhobenen Bedenken ausspricht und von dem er
seinen Verlegern einen beliebigen Gebrauch zu machen ge-
stattet hat. Dieser Brief hat sich in protocollarischer Ab-
schrift im 24. Bande der Verhandlungen der geistlichen
Behörde zu Zürich d. h. der Acta ecclesiastica, welche die
*) Damals J. Konr. Wirz (1688- 1769), Verf. vieler theol. Schriften,
vgl. Finsler, Zürich im 18. Jahrh. Zürich 1884, bes. S. 135 ff.
Viertetiahnchrift für Litteratargeschichte V 20
306 Hirsel, J. H. Waser.
Stadtbibliothek in Zürich aufbewahrt, erhalten. 8) Das culfor-
historisch interessante Actenstück mag zur Vervollständigung
der Kenntniss Wasers hier folgen.
Schreiben Hrn. Diaconus Wasers von Winterthur an die Orell-
Gessners-Buclihandlungs Societät über das Verbot seinen deutsrh
übersetzten Hudibras zu drucken, sub 23. Hornung 1 765. Verbot.
Hanc satyram ludicris scurrilibus et obscoenis et pios castosque
lectores offendentibus rebus factam et regestam publica luce omnino
indignam censet Antistes.
Hochedle, Insonders Hochgeehrte Herren!
Sie fragen, was ich dazu sage, dass der deutsche übersetzte
Hudibras Anstoss finden wolle? Dieses, M. H., dass ich mir
solches nimmermehr hätte vorstellen können, nachdem nicht allein
unser Herr Bodmer die zwei ersten Gesänge schon vor vielen Jahren
mit Bewilligung einer hohen Censur hat abdrucken lassen und es hey
diesen zwey ersten Gesängen nicht um des übrigen Inhalts willen,
(der sich durchaus gleich ist,) hat bewenden lassen, sondern ganz
andrer Gründe wegen, wie aus seiner Vorrede zu diesen zwey
ersten Gesängen genugsam erhellet, — sondern auch erst vor
wenigen Jahren eine französische Übersetzung des ganzen Buches
erschienen ist, die, wie leicht zu erachten, in der ganzen Welt
herumkömmt und selbst in Zürich seit etlichen Jahren ganz un-
gehindert im Heideggerschen Buch-Catalogo feil geboten worden
ist. Ich dachte, was französisch ohne Anstoss und ohne Hinder-
niss gelesen werden kann, das Jässt sich auch ohne Anstoss
deutsch lesen, um so da mehr, als nicht zu vermuthen, dass viele
Leute seyn werden, die den deutschen Hudibras lesen werden,
welche ihn nicht ebenso gut in der französischen werden lesen
können: So dachte ich anfänglich; ich dachte aber, nachdem ich
Aufmunterung bekam, diese Arbeit zu übernehmen, noch weiter:
Ich wusste auf der einen Seite, wie sehr beliebt und berühmt
dieses Buch in England war und noch ist, und auf der andern
war mir doch der eigentliche Grund dieses Lobs, aus Mangel
genügsamer historischer Erkenntniss, die den Schlüssel dazu ent-
hält, noch grossen Theils verborgen. Damit ich also nichts unter-
nähme, das, anstatt Nutzen zu schaffen, Schaden brächte oder das
sonst persona mea indignum seyn möchte9), machte ich mir die
Geschichte jener unglücklichen und sündenvollen Zeiten, da die
berufene bürgerliche Rebellion in England wider Carl I ausbrach
•) Ms. Fn. 128. Wirziana IH.
•) Anspielung Wasers auf den Wortlaut eines ihm früher zuge-
kommenen Verweises der geistlichen Behörde wegen seiner Spottschrift
auf den sächsischen Oculisten Meiners, vgl. Wieland und M. u. R. Künxli
S. 12 Anm. 4.
Hirzel, J. H. Waeer. 307
und mit seinem tragischen Tod auf dem Schaffet und der von
aller Welt verabscheuten tyrannischen durch die gottlose Heuchelei
und Gewalt an sich gerissenen Usurpation endigte, besser bekannt
und sah hernach, da ich dieses wizzvolle Gedicht Hrn. Butlers da-
gegen hielt, den Englischen und nach meinem Sinn löblichen
Zweck des Verfassers offen vor mir liegen.
Und was war denn dieser? Gewiss nicht, ein Narrenspiel
aufzuführen, M. G. Herrn, nicht Scurrilia zu tractiren wie ein
Rubelius, oder einen elenden und thörichten Witz zu zeigen oder
pios castosque lectores zu offendiren, wohl aber scurros hypo-
critas und maxime impios homines durch eine Satyre an den
Pranger zu stellen, die nicht so vast durch die Dichtung ihr
satyrisches Wesen bekam, sondern vielmehr eine bloss historische
Erzählung und Auseinandersetzung derjenigen Rebellion und
schwärmerischen Principien ist, nach welchen diese tragische Ge-
schichte geführt ward, die sich in tausend unläugbaren gottlosen
Wirkungen und factis zeigt, wenn sie auch nicht, (wie auch
wiederum ohnläugbar geschah,) öffentlich wäre profitirt worden. Der
Zweck dieser Rebellion war nicht geeignet, als die alte monarchische
Regierung in England umzustossen und mit derselben die alte äussere
Kirchenverfassung, (ich sage die äussere, denn den Lehrsätzen nach
waren die Engländer schon längst Protestanten geworden,) in's Grab
zu stürzen, auf deren Ruine jede der Handlungspartheyen, die Pres-
byterianer sowohl als die fanatischen Independenten, ihr eignes
System von äusserlicher Kirchenverfassung aufzuführen suchte;
und diesen doppelten Zweck zu erlangen erlaubte man sich die
unerlaubtesten Mittel, Mittel, deren sich die Nation, da sie endlich
bey der Einsetzung Karls II vom Rausch erwachet, von Herzen
schämte und deren sich noch izo jeder rechtschaffene Engländer,
wenn er sich gleich zu der presbylerianischen Parthey hält, Ur-
sache von Herzen zu schämen hat, es sey dann, dass alles was
unsre Vorfahren gethan, und es mit Übereilung oder in der
Hitze ihrer Passion gethan, uns bloss deswegen heilig seyn soll,
weil sie unsre Vorfahren oder Glaubensgenossen sind.
Das berüchtigte lange Parlament, unter dem dieser unglück-
liche Krieg geführt worden, riss wider die Fundamentalgesetze
der Staatsverfassung in England alle königliche Macht und Vor-
rechte an sich. Man trieb mit Eid und Pflicht ein Spiel. Man
erfand die künstliche Distinction zwischen einem König de jure
und dem de facto oder zwischen dem politischen König und dem
persönlichen. Man gab die Befehle aus im Namen des Königs
und es waren Befehle, ihn in seiner Person zu bekriegen. Man
vermengte in öffentlichen Reden und Predigten die christliche
Freiheit mit der politischen. Man berief die Schottländer zur
Hilfe, beyde obgedachte Zwecke zu befördern, man machte die
Empörung zur Sache des Herrn, man ermunterte das Volk, die
20*
308 Hirzel, J. H. Waaer.
Kriege Gottes zu führen, die Amalekiter auszurotten, man hiess
sich selbst die Heiligen, die Auserwählten, und die Andern die
Gottlosen. Man log und betrog; man drückte und verfolgte und
deckte Alles mit der Religion zu. Da hernach die Independenten,
mit denen es viele andere Secten hielten, die Millenarians, die
Levellers, die Rauters etc. den Minister spielten, so ging es noch
ärger, diese gaben ein inneres Licht und Offenbarung vor ; dieses
war ihr grosses oder einziges Principium und der schlaue ehr-
geizige Cromwell wusste sich dieses principii besonders zu be-
dienen, dem König zuletzt den Kopf abzuschlagen und sich selbst
auf den Thron zu schwingen. Wer mag vor diesem bestehen?
Niemand betete mehr als dieser Heuchler oder Schweriner oder
beydes zugleich. Niemand stellete sich heiliger an und kaum war
doch ein Mensch, der mehr Ungerechtigkeiten begangen und
mehr andre Leute mit ihm sündigen gemacht als dieser Mensch.
Das sind alles facta, M. G. Herren, die in den englischen
Geschichtsbüchern erzählt und mit hundert speciellen Exempeln
bewiesen worden. Wer mir nicht glauben will, der darf nur
einen Clarendon, einen Thoyras, einen Walker und einen Hume
lesen, und sollen dann diese Dinge nicht dörfen gerüget werden?
Soll die Satyre das Laster der Rebellion, die Heucheley, den
mörderischen Schwermergeist, Meineid, Betrug und Unterjochung
eines freien Volkes nicht peitschen und bis aufs Blut peitschen
dörfen? Ich meine: Ja! und sage unverhohlen, dass, wer mir's
ausreden wollte, seine Mühe verlieren würde. Nun, das hat
Butler, der Verf. des Hudibras, gethan, und ich habe den Kupfer-
stich des berühmten Hogarth, da der so offenbare Zweck des
Verf. durch eben diese symbolische Action recht meisterlich vor-
gestellet wird, stets mit dem grösten Vergnügen betrachtet. Butler
hat ja diese Schandthaten und schändlichen Principia nicht aus-
geheckt oder selbst besungen, er hat nur, wie er sie gefunden,
zum Abscheu dargestellt und wie sie es verdienen, (sie verdienten
doch noch mehr,) mit seiner Satyrgeisel gezüchtiget und hat es
mit gutem Effect gethan. Der Vortheil, sagt der Geschichts-
schreiber Hume, den die königliche Sache aus diesem Gedichte
zog, da es die Schwermerey und die Scheinheiligkeit des vor-
maligen Parlaments lächerlich machte, war bewundernswürdig und
die Vortrefflichkeit dieses Werks rührte den König selbst, (das
war Karl II,) dergestalt, dass er sogar einen guten Theil des-
selben auswendig gelernt hatte. Noch einmal, M. HH., wer wird
dies obgedachte Laster, principia und Lasterthaten in Schutz
nehmen? Ich mag nicht mehr davon reden.
Ich habe oben gesagt, M. HH., dass Butler seine satyrische
Geisel zuzurichten, nicht vil eigne Empfindungskraft anwenden
dorfte? Er fand die meisten Thorheiten, das Judicrum u. scurrile,
(wenn es so heissen soll,) in wirklichen factis der damaligen
Hirzel, J. H. Waser. 309
Zeiten, er erfand es nicht. Glauben Sie, M. H., dass das Aben-
teuer mit dem Bär eine wirklich damals vorgefallene Geschichte
sey? Ich sage Ihnen, es ist ä la lettre I Ein gewisser CoJonel
Pride tödtete aus frommem Eifer in der Grafschaft Hurrey alle
Bären, die das Volk zur Ergetzlichkeit hielt und dann und wann
danzen sah. Ein andrer, Hug Hjör mit Namen that eben das in
der Stadt London. Ich habe authentische Schriften und Schrift-
steilen dafür aus denselben Zeiten. Der Verfasser des Hudibras
redet von Soldaten, OfBcieren etc., die damals die Kanzel bestiegen
und gepredigt haben. Glauben Sie, M. H#, dass dieses wirklich
geschehen? Ich sage Ihnen, es ist ä la lettre wahr; die schwer-
nierischen Independenten behaupteten und übten diesen Lehrsatz
aus, dass man keine ordentlich bestellten Prediger brauche, dass
jeder das Recht habe, ein solcher zu seyn, wenn er will. Crom-
weil hat demzufolge selbst gepredigt und ich habe noch selbst
eine solche Predigt, die noch Qbrig geblieben von diesem Schwermer
wirklich bey Händen, worin er aber Römer 1 7 (wer sollte glauben,
dass es über diesen Text möglich wäre?) wirkliche Empörung
gegen diesen König lehrt und sonst Sachen sagt, die seine gott-
lose Absichten, seinen Leichtsinn in Religionssachen, um nichts
mehrers zu sagen, öffentlich verräth. Butler durchziehet den
Meineid, Betrug, die Erhitzung des Volkes zum Fanatism, er
peitscht die damals im Schwung gegangne Wahrsagerei, die
öffentliche Strafgerechtigkeit über die eingebildeten Hexen und
Hexenmeister, wodurch in denselben Zeiten auch in Engelland so
viele Unschuldige das Opfer einer elenden Unwissenheit und Aber-
glaubens haben seyn müssen. Wem that er Unrecht? Wenn
solche Dinge einen Freibrief haben, so ist es wahrlich übel be-
stellt und ich sage Ihnen, dass so lange ich lebe, mein Aüsserstes
thun werde, denselben zu zerreissen und unnütz zu machen. Ich
halte es für eine grosse Pflicht.
Dies ist also, M. H., das Buch, welches ich, ein Geistlicher
und ein öffentlicher Lehrer, die Kühnheit gehabt habe, zu über-
setzen. In der That, ich will zugeben, dass ich zu tadeln wäre,
wenn dies Buch ohne Absiebt, nur um ein thörichtes Gelächter
auszuschlagen, geschrieben wäre. Aber nachdem es wahr ist,
dass es sich auf eine Geschichte gründet, worin Heuchler, Schwermer
ihre Rolle so ärgerlich zum Schaden und zur Verachtung der
wahren practischen Religion, zum Unglück und zur Verführung
vieler tausend Menschen und zu einem ewigen Denkmal, wohin
ein elender Fanatimus die Menschen bringen könne, gespielet
haben, so machte ich mir wirklich ein Verdienst daraus, durch
diese Obersetzung ein Mittel zu werden, dass eben diese Laster
auch allen deutschen Lesern in ihrer Schändlichkeit aufgedeckt
und sie davor gewabmet werden. Ich habe mir deswegen auch,
sobald ich genugsam Kenntniss der eigentlichen Beschaffenheit
3 1 0 Hirzel, J. H. Waaer.
dieses Buches hatte, kein Bedenken gemacht, es vielen Freunden
zu sagen, dass ich Author von einer solchen Übersetzung sein
werde und mache mir noch izt gar nichts daraus, dass es überall
bekannt ist. Sagen Sie es, M. H., wem Sie es wollen, aber sagen
Sie zugleich einem Jeden, der deswegen Anstoss nehmen wollte,
dass ich behaupte, er müsse die gehörige Kenntniss von der Natur
und dem Zwecke dieses Buches noch nicht haben, welche ihm
aber theils in einer Vorrede dazu, theils durch historische An-
merkungen gegeben werden solle, und dass ich hoffe, er werde
alsdann einsehen, dass ich nichts gethan, was mea persona in-
dignum könnte geheissen werden.
Ich bin ein Geistlicher, M. H., und ein öffentlicher Lehrer und
hören Sie noch, wie ich als ein solcher denke:
Ich hasse und verabscheue alle Irreligion von Herzen und
sie zu hintertreiben oder zu verbannen thu ich nach meinen
Kräften, aus Oberzeugung und in Aufrichtigkeit meines Herzens,
was ich kann und vermag. Ich setze die Irreligion in zwei Stücke:
In irrige und den Grund des Heils erschütternde oder gar um-
stossende Lehrsätze, diese soll ein Lehrer gründlich refutiren, das
ist meines Bedünkens das einzige wirksame Mittel dieses elende
Gift zu tödten; und demnach in practische Irrthümer, in Hand-
lungen, die den theoretischen Religionswahrheiten, zu denen man
sich bekennt, zuwider sind, kurz in Sünden und Laster. Diese
bedürfen keine Refutation, sie tragen die Refutation in ihrer eigenen
Natur, in dem Widerspruch gegen die offenbaren Religionswahr-
heiten mit sich; aber Beschämung, Aufdeckung ihrer Schande
und aller ihrer elenden Folgen bedürfen sie, den Leuten zum
Abscheu und zur Wachsamkeit über ihre Herzen; und wenn
ein Geistlicher, ein Lehrer Bücher befördert, welche die Hypocrism,
die Schwermerey und Alles, was Sündhaftes und Unglückliches
daraus geflossen, in ihrer Schädlichkeit züchtiget, was thut er
persona sua indignum? Ich meine, er thue was er soll, und was
ihm Lob und Dank verdienen solle.
Ich mag mich nicht darüber aufhalten, dass es keine Satyre
sein solle. Warum denn nicht? Das ist aber soviel als die Ruthe,
womit man ein Kind züchtigt, soll keine Ruthe sein. Ich lasse
es gelten. Es gibt noch andre Mittel mehr, das Kind zu züch-
tigen und andre zu warnen; aber mit diesen andern Mitteln gibts
doch die Ruthe als ein solches. Die Ludicria und sogeheissene
Scurrilia fallen, so viel ich verstehe, als eine satyrische Ruthe auf
die bösen Thaten, die er in ihrer Schändlichkeit aufdeckt, zurück
und ebenso die Dicteria, welche pios castosque lectores offendiren
sollen.
Was kann der Author dafür, wenn Cr seine Personen nach
ihrem Character, ihrer Denk- und Handlungsart reden lässt, eben
damit man sehe, wie sie gedacht und geredet haben? Redet aber
Hirzel, J. H. Waser. 3 1 1
der Autbor in seiner eigenen Person und es entstehen ihm da
oder dort einige Ausdrücke, die für unsere Sünden indecent sind,
so ist es däucht mich, zu hart, keine Nachsicht dafür haben
wollen, da man weiss, wie grob und ungeschliffen jene alten
Zeiten gewesen, so dass die besten Scribenten, auch die Theologi
selbst in ihren Streitschriften zu sagen erlaubt, was heute zu
Tage eine mehrere äusserliche Sittlichkeit verbiethet. Ich meiner-
seits und vielleicht noch viele andere mit mir kann um dieses
Fehlers willen den übrigen wichtigen und nützlichen Inhalt des
Buchs nicht verwerfen. Dieser rührt und nimmt mich ein und
ich glaube, so sollte es allen Lehrern begegnen, die den Geist
und die Absicht dieser Schrift richtig saisiren.
Das ist, M. H. was ich Ihnen auf die Nachricht, welche Sie
mir unlängst mitgetheilt, habe sagen wollen. Ich zweifle indessen
nicht, dass wenn die löbliche Censur einige Erläuterung über
dieses Buch bekommt, welche zu geben ich Sie hiermit in den
Stand setze, dieselbe ein billiges und günstiges Urtheil darüber
sprechen werde. Machen Sie zur Beförderung dessen von diesem
gegenwärtigen Brief einen Gebrauch, wie Sie es am besten finden
werden. Ich bin
Diac Waser
Winterthur d. 25. Hornung 1765.
Es scheint nicht, dass das vorliegende Schreiben Wasers
auf die Verfügungen der geistlichen Behörde Zürichs irgend-
welchen Einfluss geübt habe. Auch die Bemühung Bodmers
und Breitingers, welch letzterer Mitglied der Censurbehörde
war, blieb ohne Wirkung. In einem Schreiben Wasers
an Bodmer vom 14. Juni 1765 heisst es: 'Ich danke Ihnen
und Hrn. Breitinger und wer sich des gedruckten Hudibras
angenommen, für Dero Bemühungen verbindlich; dass die-
selben fruchtlos abgelaufen, ist eben ein schlechtes Zeichen
von der Beschaffenheit unseres Zustandes'. Aber freilich
war der Eifer des zürcherischen Antistes und seiner Ge-
nossen auch nicht stark genug, zu verhindern, dass der
übersetzte deutsche Hudibras ans Licht trete. Die Herren
Orell Gessner u. Co. setzten einfach : 'Frankfurt und Leipzig9
als Verlagsort auf den Titel des Buches, das zu Anfang des
Jahres 1766 von Haller in den Gott. Gel. Anzeigen (1,33)
kurz angezeigt wurde und das ohne Zweifel von Waser
selbst (trotz des gegenteiligen Anscheins) mit einer Vor-
rede versehen war, an deren Schlüsse, auf der Rückseite
des Blattes, die Verse Hallers gedruckt sind:
3 1 2 Poppenberg, Gedichte Zach. Werners.
Für seines Gottes Ruhm gilt Meineid und Verrath!
Was ßöses ist geschehn, das nicht ein Priester that?
wobei jedoch Waser eigenmächtig das Wort 'Priester' des
zweiten Verses in 'Heuchler7 umgeändert hat.
Bern. Ludwig Hirzel.
Zwei Gedichte Zacharias Werners.
In E. J. Veiths, des Convertiten und katholischen Mysti-
kers, Taschenbuch für 1823, exotisch 'Balsaminen' genannt,
finden sich zwei Gedichte Zacharias Werners, die in der
unkritischen und unvollständigen Grimmaer Ausgabe fehlen,
deren Fundort auch Goedekes Grundriss nicht verzeichnet.
Den Wiederabdruck des ersten Liedes verbietet seine,
wie der Verfasser selbsterkennend in einer Note sich aus-
drückt, 'Bandwurmsart und Länge', es zählt nicht weniger
als 80 siebenzeilige Strophen. Unter dem Titel 'Unstats
Morgenpsalm' behandelt es wirr und conras, mit qualvoll
erzwungenen Reimen eine Pilgerfahrt nach Mariazeil, die
Werner Gelegenheit giebt eine grosse Generalconfession ab-
zuhalten. Nach einer kindlich-einfältig sein sollenden, aber
abgeschmackt wirkenden Paraphrase des Schöpfungsberichtes
der Genesis in Versen wie:
Fisch, Vogel, Wurm, Getier und Wild
Schwimmt, fliegt, kriecht, stampft und bebet,
kommt er auf die Liebe. Werner zeigt sich hier als Dichter
der 'Weihe der Unkraft", die das Bekenntniss enthalten hatte:
Durch falsche Lust verlocket und durch das Spiel der Sinne,
Doch wissend, dass aus Liebe der Quell der Wesen rinne,
Setzt ich der kranken Wollust Bild keck auf der Liebe Thron,
Und durch dies Gaukelblendwerk sprach ich der Wahrheit Hohn.
Der Gegensatz zwischen himmlischer und irdischer Liebe
oder wie Werner sagt, Karitas und Minne sind das Thema,
aber während er vordem jene 'Gnadenlose, Selbstsüchtige
für das Hauptmotiv des Höchsten in uns' hielt, gewiss auch
jener schwülen Lehre anhing, die ein ekstatischer Schwarm-
geist in Heyses 'Kindern der Welt' predigt, dass der sinn-
Poppenberg, Gedichte Zach. Werners. 313
liehe Iiiebesgenuas ein Symbol für die Aufgabe des eigenen
Selbst und für das Aufgehn in die Göttlichkeit sei, wendet
er sich jetzt ein friedensbrünstiger Waller zur Madonna
Urania.
Das Bild des Pilgers hat der Nimmerweilende übrigens
oft gebraucht, so im Weimarer Abschiedslied von 1 808, im
'Sonnenkoloss und der Wanderer9, in der 'Ankunft zu Köln9 ;
in einem (unter den Gedichten, Werke 1 , 1 23 mitgetheilten)
Prolog zu den 'Söhnen des Thals' nennt er sich den 4Un-
stät, der da wandert, wehklagt, warnt'. —
Sehr interessant für das Studium des Naturgefühls bei
Werner ist das zweite Balsaminengedicht, das wohl ver-
dient aus dem Vergessenheitsschacht eines Almanachs ge-
hoben zu werden. Es lautet:
Das Eismeer zu Chamouny!
(i. Sept. 1809)
Wir Nonnen, wir frommen, wir wohnen
Unter marmornen Wänden,
In silbernen Schleiern
Und smaragdnen Gewänden
5 Die Stunde des Todes wir feiern:
Dein Opfer, Entsagung!
Die Stürme, die sausenden, freien,
Brausen her und versäuseln,
Sie rasseln und hauchen,
10 Ha, wie sie um uns kreiseln;
In unsre Schönheit sich tauchen
Sie möchten, die Starken!
Wir Süllen, wir sitzen, wir sinnen!
Gerne möchten wir rauschen,
15 Gleich Töchtern vom Rheine,
Und Umarmungen tauschen
Wie, im siebenfach wonnigen Scheine
Die Sergen vom Staubbach!
Doch Nebel, die schmelzenden, schweben,
30 Schwimmen her, ziehen weiter.
Sie lauschen und lauern,
Unsre grauen Begleiter,
Ob keusch auch und treulich wir trauern
Im Fluch der Erstarrung!
25 Wir Jungfrauen, wir trauren, wir keuschen,
Dass zur Stunde, der düstern,
Wir haben verloren
314 Poppenberg, Gedichte Zach. Werners.
Wonneseliges Flüstern
Der Brautnacht, zu der wir erkoren,
so Die einsam verschmachten!
Lawinen, die reinen, die weissen,
Sturzen her und zerfliessen.
Die alten Alpen weinen,
Dass wir Schönen so büssen.
85 Sie können nicht tröstend erscheinen
Drum senden Sie Thränen.
Die trostlos wir thronen, uns trösten
Nicht die Thränen der Guten,
Ob wohlig wir wollten
40 Mit jungen Wogen fluthen;
Der Schwur, den wir Thörichte zollten,
Einklammert sein Bann uns! —
Auch Strahlen, die klaren, die färb 'gen,
Tanzen her und verschwinden.
45 Die Sonne sie sendet,
Uns zur Lieb* zu entzünden,
Doch der Mont-Blanc, unser Meister, er wendet
Den Blick — wir erstarren! —
Wir Armen, wir harren und haschen 's
50 Wenn er wegsieht, der Meister,
Dann zum Urlicht sich bäumen
Unsre Glieder und Geister,
Doch will uns kein Lichttröpflein schäumen;
Wir rasen — und darben! —
55 Kommt ein Mensch, ein Jüngling, ein Lichtsohn,
Kommt er her, kehrt nicht wieder!
Wie Riesinnen umschlingen
Wir ziehn ihn nieder!
Die ihn einschlang kann sein Glanz dann durchdringen,
60 Sie lässt ihn nicht — nimmer! —
Uns Bangen einst klang ein Gesangton,
Weissagend und vergangen:
'Mont Blanc ist gefallen,
'Die eis'gen Banden sprangen,
65 'Des Sühnungsbluts Oceane wallen;
'Christe Eleison!9 —
F. L. Z. Werner.
So Hess Werner, statt die Naturschönheiten mit offenem
Auge zu geniessen sie durch den Nebel seiner unklaren,
symbolistischen Mystik, der sich stets gefuhlsverwirrend Sinn-
lichkeit gesellt, verdunkeln. Alles wird ihm zum Gleichniss.
Er sieht im Chamounygletscher ein Kloster, im Mont-Blanc
Englert, Heine and Schad. 315
den Hüter desselben, in den im Sonnenglanz wie Silber
strahlenden Zacken die Schleier der Nonnen. Soweit wäre
die Naturphantasie durchaus massvoll, nun aber kommt das
fatale, Oefühlsdumpfheit athmende Ausmalen der begehr-
lichen Wünsche der Nonnen, die verloren 'wonnseliges
Flüstern der Brautnacht'. Das mystisch-erotische Gedicht,
das noch jener Epoche der Vermengung himmlischer und
irdischer Liebe angehört, schliesst, wie bei Werner zu er-
warten, mit einer Apotheose des Opfertodes Christi.
Grosse Verwandtschaft, nicht nur durch die Amalga-
mirung von religiösen und sexuellen Momenten, sondern
auch durch den ganzen Ton, hat das 'Eismeer von Cha-
mouny' mit dem Dithyrambus auf den Rheinfall bei Schaff-
hausen ( W. 1 , 1 63). Die Gewässer sind hier 'kosende wogende
Jungfrauen9, die schauernde Lust treibt 'zu schwelgen an
Bräutigams Brust', dieser aber ist der Heiland, zu ihm
stürzen sie durch 'Sündenpein und weinende Schuld', 'zu
schlingen von Aussen und Innen ihn ein' in 'seliger,
sühnender, süsser Umarmung'. Ähnliche Saiten werden im
'Staubbach' angeschlagen. Heranzuziehen wäre schliesslich
noch das 'Frühlings nach tmahl', wo der Schönheitszauber
einer italienischen Frühlingsnacht das katholische Hochamt
symbolisiren muss. Die Blumenkelche sind 'duft'ge Opfer-
schaalen', worin der Mond das 'goldne Blut' giesst, die
Wellen schlürfen unter 'Sterhchoralen' 'Pausilipps bekränzten
Leib', der Vesuv, den 'die Stola von Rubin umkreist', ist
der Priester. —
Zacharias Werners Schöpfungen haben alle etwas Un-
gesundes, Krankhaftes, das zeigt sich auch hier wieder;
seine Bedeutung ist nicht so sehr litterarhistorisch, als
psycho-pathologisch.
Berlin, Felix Poppenberg.
Heines Beiträge zu Schads Almanach.
Mein Freund Dr. Georg Schad in Schweinfurt hat mir
vor einiger Zeit in liebenswürdigster Weise die Durchsiebt
316 Englert, Heine und Schad.
und Benutzung der Briefe gestattet, welche an seinen Taler,
Christian Schad l), von den Mitarbeitern an dessen 'Deutschem
Musenalmanache' gerichtet wurden. In dieser sehr umfang-
reichen und zum Theil sehr interessanten Briefsammlung
finden sich die im Nachfolgenden abgedruckten Briefe von
Heine, Wihl und Duesberg, sowie zehn Briefe von Henri
Julia, deren Hauptinhalt unten mitgetheilt wird.
Chr. Schad hatte wahrscheinlich vor Erscheinen des
1850 veröffentlichten ersten Bandes seines Deutschen Musen-
almanaches Heine um einen Beitrag angegangen.*) Wenigstens
schreibt Heine am 1. November 1850 an Meissner*): 'Ich
habe mehrere Deutsche in Bezug auf den Musenalmanach
befragt, z. B. den trauernden west-östlichen 8chwalben-
RabbiWihl*), welcher mich soeben verlässt, aber Niemand
') Unterfrftnkischer Dichter, geb. 1821 in 8chweinfurt, gest. 1871
in Kitzingen; Heransgeber des Deutschen Musenalmanachs 1850.
1852-69.
*) Von den Briefen Schads an Heine findet sich keine Abschrift
im Schadschen Nachlasse.
■) H. Heines Werke, hg. v. Karpeles, 9,375.
4) Ludwig Wihl, 1807 in der N&he von Aachen als Sohn jüdischer
Eltern geboren, besuchte das Gymnasium in Köln, studirte in Bonn
und München klassische Philologie und orientalische Sprachen, war
dann in Frankfurt Mitarbeiter am 'Phönix', besuchte London und
Paris und arbeitete einige Zeit in Hamburg an Gutzkows Telegraphen*
mit. 1810 kehrte er nach Frankfurt zurück, hielt sich dann längere
Zeit in Amsterdam und Utrecht auf und begab sich 1818 nach Pader-
born. Wegen eines politischen Zeitungsartikels zu einem Jahr Festung
▼erurtheilt, flüchtete er sich nach Paris. Später erhielt er eine Pro-
fessur in Grenoble. 1870 musste er Frankreich verlassen und begab
sich nach Brüssel, wo er am 16. Januar 1882 starb. Seine beste Dich-
tung sind die 'West-Östlichen Schwalben', Mannheim 1847, die ihm bei
Heine den Namen Schwalbenvater oder Schwalben-Babbi eintrugen.
Wihl hatte Heine bei seinem ersten Aufenthalte in Paris, im
J. 1837, kennen gelernt. Nach Deutschland zurückgekehrt, veröffent-
lichte er im Telegraphen (1838) einen Artikel (H. Heine in Paris', der
für letzteren compromittirend war, ohne dass dies freilich der Ver-
fasser beabsichtigt hatte. Mit Rücksicht darauf Hess auch Heine an-
fangs Wihl «einen Ärger nicht fühlen, sprach sich aber wiederholt in
Briefen an Campe und andere über die litterarische Klatschsucht und
die Dichtereitelkeit Wihls aus, der ihn nur 'zum Piedestal seiner Gross-
manns8ucht' habe benutzen wollen. Bald darauf kam es zur offenen
Fehde zwischen ihnen. Als dann Wihl später als Flüchtling nach Paris
Englert, Heine und Sehad. 317
wusste mir Etwas davon zu sagen . . . Ist es sicher, dass
der Almanach in Bälde herauskommt, oder sind Sie mit
dem Redakteur . sehr befreundet, so würde ich keinen An-
stand nehmen, einen Beitrag zu liefern9.
Da, wie es scheint, Schads Brief an Heine unbeant-
wortet blieb, so wandte sich ersterer später an den ge-
genannten Wihl, um durch Vermittlung desselben einen
Beitrag von Heine zu erbalten. Ich theile die diesbezüg-
liche Antwort Wihls vollständig mit, weil dieselbe einen
Beweis für die Richtigkeit der Schilderung liefert, die Heine
und Meissner von der Eitelkeit dieses Poeten entwerfen.
Paris 25 Aug. 1852.
Werthgeschätzter Herr!
Sie haben zweifelsohne das Verletzende nicht gefühlt, das in
der Bemerkung liegt, 'einige1 meiner willkommenen Beiträge
dem M. Alm. einverleiben zu wollen, wenn Sie mich gleichzeitig
auffordern, Ihnen Beiträge von andern zu verschaffen, sonst würden
Sie sicher dieselbe unterdrückt haben. Ich selbst würde auch
davon keine Notiz genommen haben, wenn mich der eine Um-
stand, den Sie nicht übersehen dürften, nicht dazu zwänge, dass
meine Beiträge einen in sich zusammenhängenden Cyclus bilden,
der entweder ganz wie er ist oder gar nicht publicirt werden
soll. Ich hielt es für überflüssig, darauf besonders aufmerksam
zu machen. Jetzt aber kann ich nicht anders als Ihnen die Alter-
kam, n&herte er sich Heine wieder. Aber anch diesmal dauerten
die Beziehungen zwischen beiden nicht lange. Wihls Person war
in unbedeutend, um Heines Zuneigung zu gewinnen, der sich nur an
der barocken Erscheinung und an der Poeten ei telkeit des 'Schwalben-
Rabbi' ergötzte. Am 1. März 1852 schreibt Heine an Meissner (K. 9,415):
'Den Schwalbenvater sehe ich, gottlob! nicht mehr, wie überhaupt
mein Haus jetzt sehr von west- östlichem Gesindel gereinigt ist1. —
Näheres über Heines Beziehungen zu Wihl s. in Heines Briefen; Tgl.
4Wihr im Personenregister bei Karpeles Bd. 9. — Vgl« auch Meissners
H. Heine; Erinnerungen, Hamburg 1856, S. 114—137. Trotz der Be-
merkung Meissners auf 8. 240, dass die beiden in einem früheren Ka-
pitel [S. 125 f.] angeführten Witzworte Heines über den 'Schwalben-
vater' mit Unrecht auf einen deutschen Dichter L. W. [Ludwig Wihl]
bezogen wurden, ist es zweifellos, dass Meissners 'Schwalbenvater* oder
'Rabbi Faiwisch* kein anderer als unser Wihl ist.
Mit dem Ausdruckten trauernden . . . Schwalben-Rabbi Wihl'
in der oben citirten Briefstelle spielt Heine wohl auf das tragi-komische
Liebesabenteuer an, welches Wihl nach Meissners Mittheilung damals
erlebt hatte.
318 Englert, Heine und Schad.
native stellen, entweder alle oder gar keines der Gedichte mfeu-
theilen.*)
Trotz alledem und alledem habe ich Hartmann*) ersucht,
Ihnen noch eine Obersetzung aus Petövi zu geben. Er schien
indessen darauf nicht eingehen zu wollen. Sie sehen, er ist nicht
so freigebig wie ich und darum bettelt man bei ihm. Bei Heine
kann ich nichts für Sie thun, da ich seit einem Jahre und zwar
Hartmanns wegen mich von ihm getrennt und jede Beziehung
aufgegeben habe. Im vorigen Jahre habe ich Ihnen aber un-
willkürlich bei ihm geschadet, wo er nach Ihnen und Ihrem
Unternehmen mich fragte. Ich wusste von beiden nichts und so
sagte er mir: Das scheint mir, wenn Sie keine Aufforderung er-
halten7), eine Pflanzschule der Mittelmäßigkeit, die meinen Namen
als Aushängeschild benutzen will.
Hiller8) ist noch nicht zurück. Mit ihm stehe ich so, dass
falls Sie meiner bedürfen, ich Ihnen nützen kann. Ihrer gefalligen
Antwort entgegensehend
Dr. Ludwig Wihl
rue Mazagran 10.
Da Schad durch Wihl seine Absicht bezüglich Heines
Betheiligung am Musenalmanache nicht erreichen konnte,
wandte er sich nochmals direct an Heine und erhielt fol-
gende Antwort:
Paris 26 April 1853.
Werthester Herr Schad!
Es betrübt mich ungemein dass ich Ihnen auf Ihren freundl.
Brief vom 4 d* erst heute und nur wenige Zeilen antworten
kann; ich bin nämlich seit 4 Wochen kränker als je, und die
gegenwärtigen Zeilen sind die ersten, die ich seitdem diktire, was
freilich nicht ohne die grösste Anstrengung geschieht. Ihr Pech
») Schads Mu8.-Alm. für das J. 1853 brachte vier Gedichte Wihl«
unter dem gemeinschaftlichen Titel 'Erinnerungen an die Heimat*. Im
darauffolgenden Jahrgang erschien noch ein Gedicht desselben 'Dichter-
loos\ Die späteren Jahrgänge enthalten nichts von ihm.
•) M. Hartmann war damals in Paria.
7) Damit wollte Heine wahrscheinlich den eitlen Wihl, der sich
nach Meissners Mittheilung einbildete, Deutschlands grösster Dichter
zu sein, mystificiren.
*) Ferd. Hiller, der Gomponist und Mosikschriftsteller aus Frank-
furt a. M., war 1829—36 in Paris. Im Winter 1851—52 dirigirte er
die italienische Oper daselbst. Er war mit Heine befreundet. — Im
Schadschen Musenalmanach für 18f>3 erschien als Musikbeilage ein
von Schad verfaßtes und von Hiller componirtes Lied.
Englert, Heine und Schad. 319
in Bezug auf ihre Zusendung9) ist mir sehr verdriesslich. Die
zwei bedeutendsten chefs de bureau beim hiesigen Postamt sind
persönliche Bekannte von mir, und untergeordneten Beamten ist
hier alle Dummheit zuzuschreiben. Ich würde Sie gerne, herzlich
gerne für die fatalen Tribulazionen durch irgend einen guten
Beitrag für Ihren Almanach zu entschädigen suchen. Aber es hat
mich jüngsthin mein Buchhändler Campe, bei einer veränderten
Ausgabe meiner 'Neuern Gedichte'10), bis auf den letzten Vers
ausgebeutelt, ich besitze nur Fetzen einer grössern epischen Ar-
beit11), die nur im Zusammenhang etwas taugen möchten, und
in meinem physischen Zustande, gelähmt und drei viertel blind,
wie ich bin, wäre es mir unmöglich in diesem kränkern Augen-
blicke in meinen Papieren herumzustöbern, um einige Gedichte
hervorzusuchen , die vielleicht doch am Ende nicht rathsam zu
publiziren wären. Ich will Ihnen aber ganz gewiss für den
nächsten Jahrgang frühzeitig eine Einsendung vorbereiten. — Mit
Porträten habe ich kein Glück. Als ich einst von der Weid-
mannschen Buchhandlung so lange gequält wurde, bis ich mich
entschloss, einem talentvollen Freunde, Tony Johannot13), ganz
eigens zu einem Porträte zum Musenalmanach zu sitzen, und
dieses Porträt auch ganz vorzüglich gut ausfiel, gerieth der deutsche
Stahlstich lI) doch so schlecht, dass eine wahre Fratze zum Vor-
schein kam. Vor anderthalb Jahren konnte ich es meinem Buch-
händler Campe bei seinem Hiersein nicht abschlagen, einem
Zeichner14) zu sitzen, dessen Arbeit ebenfalls nicht schlecht war:
zu meinem grossen Ärgerniss aber hat Campe davon einen grossen
Steindruck verfertigen lassen, der wieder eine scheussliche Fratze
wurde, worin noch obendrein das vorherhängende Glotz- Auge eine
nachträgliche Erfindung des Lithographen ist. Es ist ein em-
•) Wahrscheinlich der 3 bereits erschienenen Bande des Musen-
almanachs.
l0) Neue Gedichte, 3. veränd. Aufl., Hamburg 1851.
1 ') Ohne Zweifel das Gedicht 'Bimini', das Strodtmann im Suppl.-Bd.
der 2. Gesammtausgabe der Heineschen Werke aus dem Nachlasse des
Dichters veröffentlichte. Die obigen Worte Heines sprechen für die
Annahme, dass derselbe ursprünglich eine breitere Ausführung des
Gedichtes beabsichtigte. (S. Strodtmann a. a. 0. S. 401.)
") Kupferstecher und Maler, geb. 1803 zu Offenbach, gest. 1852
in Paris.
'*) Erschienen im Chamissoschen Musen- Almanach 1837.
u) E. B. Kietz, Porträtmaler, geb. 1815 zu Leipzig. — Im Sommer
1851 fertigte er in Gegenwart Campes eine Kreidezeichnung an, welche
den kranken Dichter im Lehnstuhl sitzend darstellt. Campe und
Meissner fanden, ebenso wie Heine selbst, das Porträt sehr ähnlich.
Eine Reproduction dieses Bildes ziert den Romanzero, Hamburg 1851.
320 Englert, Heine und Schad.
pörender Missbrauch des Vertrauens, mein armes unschuldiges
Gesicht dergestalt zu prostituiren. Von filtern Porträten kenne ich
nur eine Lithographie, die nach einer Zeichnung von Oppenheim ' 5 )
im Jahr 1831 herausgekommen, u. obgleich sie blutwenig ge-
schmeichelt ist, dennoch der Ähnlichkeit wegen gerühmt werden
kann. Ich empfehle Ihnen diese letztere, so wie auch einen Stahl-
stich, welchen die Revue des deux Mondes einem ihrer Hefte vor
etwa 9 Monaten beigegeben hat und [welcher] von allen meinen
Freunden der Ähnlichkeit und der guten Auffassung wegen ge-
priesen wird. u) So viel erlaube ich mir, Ihnen zu bemerken,
in Bezug auf Ihr gütiges Vorhaben, eine Copie meines Gesichtes
Ihrem Almanach voranzustellen. Ich danke Ihnen für diese
freundliche Theilnahme.
Graf Auersperg, unser lieber College, der mir ein edler
alter Freund ist, befindet sich in diesem Augenblick hier, ich habe
ihn aber bis jetzt nur wenig sehn können.
Indem ich Ihnen nochmals freundlich für Ihre unermüdliche
Güte danke, verharre ich
Ihr aufrichtig ergebener
Heinrich Heine
(50, rue d'Amsterdam.)
Im zweitfolgenden Monat sandte Heine an Schad drei
Gedichte, 'Narrethei', 4Das Hohelied9 und (Lied der Marke-
tenderin9 und fügte folgendes Schreiben bei:
Paris, 7 Juni 1853.
Werthester Herr Schad!
Sie bezeugen mir so viel Freundlichkeit, dass es drückend
auf mir lasten würde, wenn ich Ihnen nicht einen Beitrag für
Ihren Musen- Almanach schicken könnte; ich habe daher die oben-
stehenden Verse angefertigt, die ich Ihnen vorläufig einsende. Den
Musen- Almanach nebst Ihren ZeUen habe ich erhalten und hierüber,
so wie auch über Ihr jüngstes Schreiben kann ich Ihnen erst
später etwas sagen, da ich in diesem Augenblick gar zu leidend bin.
Ihr freundlichst ergebener
für Heinrich Heine.
'*) Oppenheim, Mor., Genremaler, geb. 1801 zu Hanau. Er malte
Heine bei dessen vorübergehendem Aufenthalt in Frankfurt im Früh-
jahre 1831. Von diesem ölbilde existiren mehrere Vervielfältigungen.
S. R. Proelss, H. Heine, Stuttg. 1886, S. 379 Anm. 240.
") Dieser Stahlstich, welchen die Nr. vom 1. April 1852 der
Revue des deuz Mondes brachte, ist von J. Francois nach einem Bilde
des fr. Malers Charles Gleyre (geb. 1807, gest. 1874) gefertigt, das
ebenso wie das Porträt von Kietz den kranken Dichter im Fauteuil
Bitzend darstellt.
Englert, Heine und Schad. 321
Vierzehn Tage später schickte Heine folgenden Brief
an Schad:
Paris 22 Juni 1 853.
Werthester Herr Schad!
Ihr werthes Schreiben vom 14 d" habe ich richtig erhalten.
Als ich Ihnen zuletzt schrieb, war ich so krank, dass ich mich
darauf, beschränken musste, Ihnen vorläufig meinen Gedichte-
Beitrag einzusenden. Unter dem Worte vorläufig habe ich mir
keine nachfolgende Sendung gedacht; eine reichlichere Einsendung
vermag ich erst Ihnen zum folgenden Jahrgang zu versprechen.
Ich beeile mich, heute Ihnen aus dem besondern Grunde zu
schreiben, weil ich das Marketenderinlied für etwas zu stark ge-
färbt halte und ich eine Strophe darin verändern will. Ich glaube
es ist die 5to Strophe, welche lautet:
Gleichviel von welchem Heimathland n),
Gleichviel von welcher Sekt ist
Der Mensch, wenn nur der Mensch gesund
Und der Mensch nicht angesteckt ist.
Ich bitte Sie, statt dieser Verse folgende Variante zu drucken :
Gleichviel von welcher Heimath, gleichviel
Von welchem Glaubensbund ist
Der Mensch» er ist mir lieb und werth,
Wenn nur der Mensch gesund ist.
Ich habe den mir zugeschickten Almanaeh gelesen oder viel-
mehr mir vorlesen lassen, und ich ersah daraus mit Vergnügen,
dass die süsslich girrende Sentimentalität der Entsagungs-Poesie18)
in Deutschland sehr abgenommen hat. Ich hoffe, dass das Porträt,
von welchem Sie sprechen, nicht eine Copie desjenigen ist, welches
Campe herausgegeben, und worin er mir, wie ich Ihnen schon
gemeldet, ein scheussliches Schellfisch-Auge angehenkt hat. *•)
Wahrscheinlich und hoffentlich haben Sie sich das Porträt der
Revue des deux Mondes zu verschaffen gewusst.
") In dem von Heine am 7. Jnni abgeschickten Manuscript lautet
dieser Vera: 'Gleichviel von welcher Landsmannschaft'.
'•) In einem Briefe an Aug. Lewald, 25. Jan. 1837 (s. Karpeles
9, 161) schreibt Heine: . . . 'ich war immer der Meinung, dass man in
der Liebe besitzen müsste, und habe immer Opposition gebildet
gegen die Entsagungspoesie' . . .
") Vgl. Heines Brief an Campe, 7. Jnni 1852 (Karpeles 9, 425) :
'Was Sie mir über Herrn Kietz gesagt haben, hat mich äusserst ver-
wundert; ich muss ihm jedoch die Gerechtigkeit widerfahren lassen,
dass sein Croquis unendlich viel besser war, als der Steinabklatsch,
die Karikatur meines Gesichtes mit dem geborgten Schellfischauge, das
Sie mir mal überschickten'.
Viertaljahrschrift für Litteraturgeschichte V 2t
322 Englert, Heine nnd Schad.
Indem ich Ihnen für Ihre Freundlichkeiten und collegialische
Theilnahme heiter danke, verharre ich
Ihr ergebener
Heinrich Heine.
P. S. In dem Exemplar des Almanachs, das Sie mir schickten,
fand ich auch einige Zeilen von Ihnen, worin Sie mir den Aus-
zug aus einem Briefe mittheilten, der eine Anfrage von mir in
Bezug auf Ihren Almanach besprach.20) Von einer solchen An-
frage weiss ich nichts, und ich begegne hier wieder der windigen
Wichtigmacherei des miserabelsten und stinkigsten Dichterlings,
der mir je vorgekommen. Ich glaube, Sie sind es den Geruchs-
nerven Ihrer Leser schuldig, dass Sie von dieser herumkriechen-
den Wanze21) keinen versifizirten Gestank in Ihren Almanach
aufnehmen. Belohnen Sie aber nicht durch Indiscretion meinen
guten Rath. — Dingelstedt hat. mich unlängst hier besucht; er
bleibt doch immer einer der talentvollsten. Herr Wille22) aus
Hamburg, der in Zürich lebt, hat mir über Herwegh, der eben-
falls dort residirt, sehr betrübende Mittheilungen gemacht, näm-
lich Mittheilungen über die vielen Quälereien, die dieser doch
immer sehr geistreiche Mensch vom Pöbel zu erdulden haL Der
litterarische Klatsch zerstreut mich in meiner Misere.
Diese drei Briefe sind, ebenso wie die drei obengenannten
Gedichte, von Heine dictirt. Der Schreiber ist wahrschein-
lich Heines damaliger Secretär R. Reinhardt. Der erste
und der dritte Brief sind von Heine eigenhändig unter-
zeichnet.
Der Musenalmanach für 1854 (4. Jahrg.) brachte eine
von Weger und Singer hergestellte und bereits zuvor in
*°) Es handelt sich hier offenbar um Heines Anfrage bezüglich
des Musenalmanaches bei Wihl, von welcher in dem oben abgedruckten
Briefe des letzteren an Schad die Rede ist, sowie um die ebendaselbst
berührte Äusserung Heines über den Almanach. Wenn Heine übrigens
von einer diesbezüglichen Anfrage bei Wihl überhaupt nichts wissen
will, so ist er zum mindesten im Irrthum, wie die eingangs citirte
Stelle aus einem Briefe desselben an Meissner beweist
") Am 19. Mai 1839 schreibt Heine an G. Kühne (Karpeles 9,231):
'Ja, gegen den Wihl kann ich nicht selbst auftreten, er ist eine
Wanze, die ich nicht mit den Fingern anrühren kann, ohne mich
widerwärtig zu beschmutzen, die ich nicht zertreten darf, wenn ich
mich nicht dem Mistduft seiner Stinkereien, die er verübt, aussetzen
will'.
,4) Dr. Francois Wille, geb. 1811, Hamburger Journalist, verlies 3
im J. 1851 Hamburg und bezog ein Gut bei Zürich.
Englert, Heine und Schad. 323
Baumgärtners Allg. Moden-Zeitung erschienene Nachbildung
des Heineporträts, welches der Aprilnummer des Jahrgangs
1852 der Revue des deux Mondes beigegeben war; das
unter dem Bildnisse befindliche Facsimile war nach der
Namensunterschrift des Dichters in Beinern Briefe an Schad vom
22. Juni 1853 hergestellt worden. Yon den drei Gedichten,
welche Heine an Schad gesandt hatte, erschienen zwei in
dem Almanach: 'Das Hohelied'23) und das 'Lied der Mar-
ketenderin'.24) Das Gedicht 'Narrethei' hatte Schad nicht
aufgenommen. Es repräsentirt eine wahrscheinlich ältere
Fassung des zweistrophigen Liedes 'Ich habe verlacht, bei
Tag und bei Nacht' (Elster 2, 78). Die letzte Strophe ist
in beiden Varianten gleich. Das Gedicht lautet in der
Handschrift:
Narrethei.
Thorheiten begangen, Thorheiten gemacht,
Ich mache deren noch immer.
Ich hab sie gemacht bei Tag und bei Nacht,
Die nächtlichen waren weit schlimmer.
Ich hab sie gemacht zu Wasser und Land,
Im Freien wie im Zimmer.
Ich machte viele sogar mit Verstand,
Die waren noch viel dümmer.
Die Magd ward schwanger und gebar —
Wozu das viele Gewimmer?
Wer nie im Leben thöricht war,
Ein Weiser war er nimmer!
Die beiden folgenden Jahrgange des Musenalmanachs
brachten keine Gedichte von Heine; auch findet sich in
dem Schadschen Nachlasse kein weiterer Brief von ihm an
den Herausgeber des Almanachs.
") HL Heines s&mmtl. Werke, hg. v. Elster, Lpz. 1887—90, 2,34. —
In dem Schad gesandten Manuscript ist V. 9 'Der Leib des1 ausge-
strichen und 'Fürwahr, der Leib1 darüber geschrieben. Heine wollte
also zuerst dictiren: 'Der Leib des Weibes ist fürwahr1.
") Elster 2,116. — In der Handschrift ist V. 10 'Das sind meine
Lieben und Braven1 durchstrichen und dafür gesetzt 'Ich liebe sie alle,
die Braven'. V. 12 ist aus Versehen geschrieben: 'geschlummert1 für
'geschlafen1, das auf 'Braven1 reimt. Dieses Versehen hat sich auch in
den Musen -Almanach nnd in Eisten Ausgabe eingeschlichen. V. IG
liest die Hs. 'liebe1, wofür der Mus.-Alm. 'lieb1 setzt. Die 5. Str. hat
die von Heine nachträglich für den Alm. bestimmte Fassung, (s. o.)
21*
324 Englert, Heine und Schad.
Nach Heines Tode ersuchte Schad die Wittwe des
Dichters brieflich um Überlassung eventuell vorhandener
unedirter Gedichte von Heine für den Almanach. Der
Rechtsfreund der Wittwe, Henri Julia, antwortete als Ver-
treter ihrer litterarischen Interessen, dass er bereit sei,
einige der von Heine Unterlassenen Gedichte gegen ein
noch festzusetzendes Honorar zur Veröffentlichung im Musen-
almanach an Schad zu senden. Am 1 1. Juli 1856 schickte
H. Julia dem letzteren folgendes Verzeichniss einer grösseren
Anzahl Gedichte85) behufs Auswahl:
Pi&ces de po6sie inldites d'Henri Heine. 1. Citronia.
2. A tädouard G. 3. Cantique. 4. Chanson de la cantiniere.
5. Le chien vertueux. 6. Le cheval et T&ne. 7. Äne Ier.
8. Les änes 61ecteurs. 9. Cälimöne. 10. Le rat voyageur.
11. Hymne. 12. Attaque de Sentimental^. 13. Le Nouvel
Alexandre. 14. Sonnet. 15. Sonnet burlesque. 16. La Soiree
bruyante. 17. Les Duels. 18. Ramsgate. 19. La Demoiselle.
20. Edouard. 21. La vall6e de douleur. 22. Conciliation.
23. L6gende26).
Pikees sans titres, dont voiei le commencement: 1. La
mort vient, etc. 2. Au ciel, etc. 3. II brfile, etc. 4. Mon
jour fut beau, etc. 5. La petite ville, etc. 6. Ma journäe
6tait belle, etc. 7. L'amour commen^ait, etc. 8. Je vis
**) Einige derselben waren übrigens schon im Druck erschienen.
*•) 1. Citronia. Elster 2, 82. — 2. An Eduard G. 2, 79. — 3. Das
Hohelied. 2, 34. — 4. Lied der Marketenderin. 2, 115. — 5. Der tugend-
hafte Hund. 2, 154. — 6. Pferd und Esel. 2, 156. — 7. König Langohr 1.
2,192. — 8. Die Wahlesel. 2,196. — 9. Celimene. 2,41. — 10. Die
Wanderratten. 2,202. — 11. Hymnus. 2,166. — 12. Sehnsüchtelei. (?)
1, 296. — 13. Der neue Alexander. 2, 174 (Nr. III). — 14. 'Sie küssten
mich mit ihren falschen Lippen1. 2, 105. Die Abschrift, die Schad
durch Julia später geschickt wurde (s. unten), hatte den Titel 'Sonett'. —
15. Burleskes Sonett. 2, 67. — 16. Zum Polterabend. 2, 18. — 17. Duelle.
2, 74. — 18. Ramsgate. 2, 16 (Nr. 29). — 19. Die Libelle. 2, 150. -
20. Eduard. 2,124. — 21. Jammerthal. 2,124. — 22. Vermittlung.
2, 188. — 23. 'Wälsche Sage1. ? Unter diesem Titel befand sich eine
Variante der 'Schlosslegende' (s. Strodtmanns 2. Gesammtausg. 17, 251.
Wegen des Berliner Polizeiverbotes nicht bei Elster und Karpeles) in
den Gedichten aus dem Nachlasse, die Julia spater an Schad schickte
(s. u.).
Englert, Heine und Schad. 325
dans le saldier, etc. 9. La nuit, lorsque, etc. tO. Les enfans
du bonheur, etc. 11. Qui a un coeur, etc. 12. Le Bouquet
que Mathilde, etc. etc.37)
Als Honorar bestimmte Julia 200 Francs für je 24 Seiten
Musenalmanach-Format und verpflichtete sich seinerseits,
die durch 8chad zur Veröffentlichung gelangenden Gedichte
nicht vor Ablauf dreier Monate von dem Tage ihres Er-
scheinens im Almanache ab zu einer Publication zu be-
nutzen.
Am 26. September 1856 übersandte Julia eine Ab-
schrift einer Anzahl von Gedichten, welche sich Schad in-
zwischen erbeten hatte. Da sich dieselben jedoch zum
grossen Theil zur Veröffentlichung im Almanach nicht recht
eigneten, so wählte Julia selbst 17 unanstossige Gedichte
aus und schickte sie am 9. October 1856 an Schad mit dem
Ersuchen, das Manuscript der nicht verwendbaren Gedichte
wieder zurückzugeben.
Der Musenalmanach für 1857, welcher gegen Ende des
Jahres 1856 herauskam, brachte folgende 20 Gedichte von
Heine, mit der Bemerkung: 'Aus des Dichters Nachlasse
mitgetheilt durch Henri Julia9 (S. 374 ff.):
Die Wahlesel, Der tugendhafte Hund, Pferd und Esel,
Jammerthal, Eduard, Vermittlung, 'Nicht gedacht soll seiner
werden' (Elster 2, 107), 'Die Liebe begann im Monat März',
Sehnsüchtelei, Die Libelle, Ramsgate, Zum Lazarus. 1. 'Wer
ein Herz hat', 2. 'Nachts, erfasst', 3. 'Ganz entsetzlich un-
gesund' (2,87), 4. Mein Tag war heiter', 5. 'Ich seh im
") 1. 'Es kommt der Tod1. Elster 2, 52. — 2. Wohl zweifellos das
Lied 'Am Himmel Sonn*. Vielleicht stammt der Titel 'Halleluja' (zuerst
Mus.-Alm. 1857), ebenso wie der Titel 'Miserere1, den das Lied 'Die
Söhne des Glückes1 (s. u. Nr. 10) im Mns.-Alm. 1867 führt, von Schad.
2,85. — 3. 'Mir lodert and wogt1. 2,98. — 4. 'Mein Tag war heiter1.
2, 89. — 5. 6. Offenbar eine in der Eile geschehene Wiederholung von
3 und 4, wobei der Schreibende, bezw. Dictirende von dem Liede 'Mir
lodert1 diesmal aus Versehen den Anfang der 2. Str. 'Das Städtchen1
notirte. — 7. 'Die Liebe begann1. 2,22. — 8. 'Ich seh1 im Stunden-
glase schon1 2, 41. — 9. 'Nachts, erfasst1. 2, 109. — 10. 'Die Söhne des
Glückes1. 2,89. Vgl. Nr. 2. — 11. 'Wer ein Herz hat1. 2, 108. — 12. 'Den
Strauss, den mir1. 2,42.
326 fingiert, Heioe und Schad.
Stundenglase schon9, 6. 'Den Strauss, den mir1, 7. 'Ich war,
o Lamm1 (2,42), Miserere, Halleluja.28)
Yon den Gedichten, die Schad als nicht geeignet für
den Almanach wieder zurücksandte, behielt er sich eine
Abschrift zurück. Es sind dies folgende Stücke:
Citronia, König Langohr I., Wälsche Sage, Der neue
Alexander ('Mein Lehrer, mein Aristoteles9), Ein Sonett
('Sie küssten mich'), 'Welcher Frevel! Freund! Abtrünnig'
(2, 40), Aus der Zopfzeit. Fabel (2, 1 53), Duelle, An Eduard O.,
Zum Lazarus: 'Wenn sich die Blutegel1 (2, 100).
Schads Abschrift weicht von den bekannten Drucken
in manchem ab. So:
Citronia. Y. 7 Nach Mädchen ein Komma.
V. 18 ff. Das harmlos einen Fehl beging —
Das Röcklein wurde aufgehoben
Nach hinten, und die kleinen Globen,
Die dort sich wölben, rührend schön,
Manchmal wie Rosen anzusehn,
Manchmal wie Liljen, wie die gelben
Violen manchmal, ach! dieselben
Sie wurden von der alten Frau
Geschlagen, bis sie braun und blau!
Im Druck schliessen die zwei letzten Verse (mit der nöthi-
gen Änderung) an den ersten hier ausgehobenen an. —
Y. 25 Das ich einst V. 38 lieblich V. 49 wonach V. 61 toller
66 nackten. Nach V.* 70 Nicht mehr im Geiste unsrer Zeit —
folgen noch die beiden Verszeilen:
Es heiligt jetzt der Sitte Codex
Die Unantastbarkeit des Podex.
Nachwort: V. 8 End ein V. 12 Oflerdmgen*9)
*•) 'Ramsgate' war schon im Taschenb. für Damen 1829, 'Die
Wahlesel' und 'Sehnsfichtelei' im Cyclus 'Zur 011ea\ Neue Ged., 3. Aufl.
1852, erschienen.
*') Mit diesen beiden Lesarten steht das 'Nachwort' auch S. XVI
des Suppl.-Bd. von Strodtmanns 2. Gesammtausgabe; anders in des-
selben 1876er Ausgabe 18,382 (darnach: Engel, Heines Memoiren,
Hamburg 1884, 8. 291, Karpeles und Elster, der die Varianten des
Supplementbandes übersah). Hat Strodtmann zwei Fassungen vor sich
gehabt oder aus den 'Schicklichkeitsgründen', die ihn zuerst (Suppl.-Bd.
S. XVI und 402) überhaupt hinderten, 'das Gedicht ganz zu veröffent-
lichen, seine Vorlage verstümmelt, wie Schiller die gleiche Scene aus
F. L. W. Meyers Königin Kobold strich (Vierteljahrschrift 2, 159)?
Englert, Heine and Schad. 327
König Langohr I. V. 40 mein Kaier.
V. 97—99 Die alten Esel! Sie trugen zur Mühle
Geduldig die Säcke; denn ihre Gefühle,
Sie wurzelten tief in der Religion,
V. 103 Frassen sie friedlich ihr tägliches Heu!
Wälsche Sage. S. Schlosslegende a. a. 0. V. 1 Turm,
7 Eines Fürstenstamms, 9 Ja, sie hatten Alle wenig, 1 1 Sarden-
König.
V. 13—16 Stets brutal zugleich und blöde,
Stallgedanken, jammervoll,
Ein Gewieher ihre Rede,
Eine Bestie jeder Zoll.
V. 18 Letzter, 19 und hast ein achtes.
'Welcher Frevel! Freund! Abtrünnig.' V. 10 Es ver-
irret. Am Rande hat Schad mit Bleistift bemerkt: Er?
Aus der Zopfzeit. V. 10 er statt sie.
Duelle.
V. 17 Und ein Zweikampf, die Beiden stiessen.
ein ist mit Bleistift unterstrichen und dazu von Schad am
Rande bemerkt: im? — Strodtmann im Suppl.-Bd. S. 120:
Ein Zweikampf [folgte], u. s. w.
Nach Erscheinen des Almanachs hatte Schad an Frau
Heine ein Exemplar desselben sowie ein Trostgedicht ge-
sandt, welches J. Duesberg30) für die Wittwe ins Fran-
zösische übersetzte. Frau Heine liess dem Ubersender durch
H. Julia und J. Duesberg ihren Dank aussprechen. Einem
späteren Schreiben des letzteren an Schad legte die Wittwe
ein kleines gepresstes Sträusschen von Vergissmeinnicht
und Stiefmütterchen bei, welche sie auf dem Grabe ihres
*•) Wohl derselbe Duesberg, der an der Ordnung des Heineschen
Nachlasses theilnahm. Vgl. Engel, H. Heines Memoiren S. 33 (hier:
Düsberg). — Einigen Aufschluss über seine persönlichen Verhältnisse
giebt folgende Stelle ans seinem Briefe an Schad vom 30. Juli 1857:
'Ich habe einen Band französischer Gedichte zum Druck parat. Ein
Theil des Faust ist bereits in der 'Revne de Paris* erschienen. Ehe
ich aber meine französischen Arbeiten veröffentliche, liegt mir daran,
die deutschen erscheinen zu lassen, damit die 'guten Freunde' nicht
wieder meinen Patriotismus verdächtigen. Ich bin ein guter ehrlicher
Deutscher geblieben und denke es zu bleiben". — Vielleicht ist der in
Lorenz, Cat. de la libr. fran«?., als Verf. einiger französischer Bücher
vorkommende Joseph Duesberg identisch mit dem unsrigen.
328 Englert, Heine und Schad.
Mannes gepflückt hatte. Die beiden Duesbergschen Briefe,
welche von Mathildens treuer Anhänglichkeit an ihren Gatten
Zeugniss ablegen und eine neue Bitte Schads um Gedichte
bezeugen, theile ich im Auszüge mit:
Frau Heine trägt mir auf, Ihnen für Ihr treffliches Trost-
gedicht zu danken : Sie ist in der That ganz davon entzuckt, und
lässt sich meine Obersetzung oft vorlesen, und wird dann immer
leichenblass, und sagt: Ich meine immer ich höre mon pauvre
chien — so heisst sie nemlich ihren Mann unter Freunden. . .
Meine französische Übersetzung habe ich nebst Ihrem Ge-
dichte in Frau Heines Stammbuch befestiget . . .
J. Duesberg.
Paris 2 März 1857 [abgesandt 18. April].
Frau Heine ist dieser Tage gegen ihre Gewohnheit am frühen
Morgen aufgestanden, um der drückenden Hitze zuvorzukommen,
und hat das Grab ihres pauvre chien besucht, und wie gewöhn-
lieh knieend gebetet und die beiliegenden Blumen gepflückt. Sie
können sich etwas darauf zu Gute thun, und haben diese beson-
dere Gnade besonders Ihrer Pietät für das Andenken Heines zu
verdanken. Frau Heine dankt Ihnen herzlichst für alles liebe
und Schöne, das Sie ihr sagen.
Leider müssen Ihre beiden anderen Wünsche unerfüllt bleiben.
Es ist nicht möglich, nochmals Gedichte aus Heines Manuskripte
zu veröffentlichen, ohne Gefahr zu laufen, mit dem Verleger Händel
zu bekommen, mit welchem noch nicht abgeschlossen ist. Und
Frau Heines Album fährt in der Welt herum ; sie ist trostlos und
nicht ohne Besorgniss, dass es abhanden gekommen. Sobald es
wieder zum Vorschein kommt, werde ich mich beeilen, Gedicht
und Obersetzung dem talentvollen Verfasser zu senden. . . .
Paris 30 Juli 1857. J. Duesberg. st)
München. Anton Englert.
") Hier sei beiläufig erwähnt, dass die Wittwe von Charles Heine
in Paris, wie mir ans sicherer Quelle bekannt ist, ein Exemplar von
Heines Reisebildern, 1. Theil, Hamb. 1826, besitzt, in welches der
Dichter eigenhändig ein im 8eptetnher 1825 in Norderney ver&sstes
humoristisches Gedicht zum Geburtsfest seiner Tante Frau Salonion
Heine eingetragen hat. Dasselbe ist 'Sonnenaufgang' betitelt und in
dem freien Rhythmus der Nordseehymnen gedichtet. Es beginnt:
Sonne, purpurgeborene,
Glänzend im Glanz der Rubinenkron
Und des goldenen Mantels
Steigst du empor
5 Aus deinem Palast von Kry stall;
Schröder, Kirchners Coriolanus. 329
Kirchners Coriolanus.
Zu Vierteljabrschrift 4,566 ff.
Hermann Kirchners * Coriolanus' (Marburg 1599) ist
ausser auf der Züricher Stadtbibliothelc auch in Oiessen
(Sign. 26 290) und — nach freundlicher Mittheilung Boltes —
in Zwickau vorhanden. Der Dichter ist in der Geschichte
unserer Universität keine unbekannte Persönlichkeit: um
von andern Quellen zu schweigen, kann sich aus Strieders
Grundlage einer hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-
Geschichte 7,112—122 jedermann ausführlich und bequem
über seinen Lebenslauf und die Titel seiner zahlreichen
Schriften unterrichten.
Was Th. Odinga a. a. 0. aus der lehrreichen und leben-
digen Vorrede des Coriolan mittheilt, ist von Fehlern und
Irrthümern dermassen entstellt, dass ich keine andere Er-
klärung habe als die: mindestens der zweite Absatz auf
S. 567 muss aus dem Gedächtniss niedergeschrieben sein!
In einer seit Jahren vorbereiteten Geschichte des Schau-
spiels in Hessen und den Nachbargebieten soll auch Kirchner
seinen Platz erhalten. Ich mochte aber wenigstens einen
Punkt, die EntstehungBzeit des Coriolan, schon heute richtig
stellen und die neue Mythenranke beschneiden, die sich von
da aus um den Landgrafen Moritz zu schlingen droht.
Kirchners Drama ist 8 Jahre früher, als es gedruckt
wurde, also 1591, niedergeschrieben worden, und zwar in
Vor dir, wie Blumenmädchen am Festtag,
Tanzen die jungen Morgenlichter
Und streuen dir Rosenblätter,
Und unter Trinmphportalen,
10 Gewölbt ans Wolkenmarmor,
Wandelst du siegreich
Ober die leuchtende Wasserbahn,
Und wohin du gelangst,
Entflieht die Nacht
is Mit hastigem Schattenschritt,
Und lichtgeweckt erschliessen sich freudig
Die bunten Augen der Blumen
Und die lieben Herzen der Menschen,
Und aus den grünen Dornen erschallt
so Befiederte Jubelmusik.
330 Schröder, Kirchners Coriolanos.
einem Zuge, wie der Verfasser ausdrücklich berichtet. l) Die
Inscenirung und der Druck wurden durch den Ausbruch
einer Epidemie verhindert. Kurz vorher hatte der junge
Magister — denn Professor wurde er erst 1595 — bei fest-
lichem Anla8s die 'Sapientia Solomonia' des Xystus Betuleius
(Sixt Birck) in Marburg (bei Paul Egenolph 1591) drucken
und durch Studirende auffuhren lassen8); in der Rolle des
Marcolphus zeichnete sich dabei, wie wir durch Otto Me-
lander wissen, der Student Caspar Crato aus, der auf einem
Esel auf die Bühne geritten kam.
Prinz Moritz war damals kaum 19 Jahr alt und be-
stieg erst im folgenden Jahre (1592) den Thron: als Land-
graf von Hessen-Kassel, an das Marburg erst 1604, nach
dem Tode des Landgrafen Ludwig IV. (Testator) von
Hessen-Marburg zurückfiel. Auch der Marburger Landgraf
war ein Freund dramatischer Darstellungen wie eines ele-
ganten Lateins, und der junge Kasseler Erbprinz hat bei
seinen Marburger Besuchen gewiss mehr gelernt als an-
geregt. Die Liebe zum Theater freilich hatte Moritz vom
Vater geerbt: vor dem Landgrafen Wilhelm IV. führten
die Schüler der durchaus nach Joh. Sturms Recepten ein-
gerichteten Kasseler Gelehrtenschule lateinische Stücke auf,
für ihn schrieb Hans Wilhelm Kirchhof seine leider nicht
zum Druck gelangten deutschen Komödien.
Das Vorbild Strassburgs kannte man auch in der hessi-
schen Universitätsstadt: Kirchner selbst beruft sich auf Sturm
im Vorwort zur 'Sapientia Solomonis' und er steht durchaus
in der Tradition des lateinischen Schuldramas, das in Mar-
burg mit dem 'Job' des Joh. Lorichius (1543) zuerst debütirt
und durch die Schwaben Frischlin und Hunnius die grössten
Erfolge erzielt hatte. Nichts ist verkehrter, als den Ver-
fasser des 'Coriolan' zu den litterarischen Bestrebungen am
Hofe Moritzens in Beziehung zu setzen: er hat sein Stück
Sedichtet lange vor dem Eintreffen der englischen Komö-
ianten in Kassel und vor dem Beginn jener Kette drama-
tischer Anleihen und Experimente, welche leider resultat-
los verlaufen sollte.
Marburg i. H. Edward Schröder.
*) Die Angabe einer Hauptquelle, Dionysius Halicarn. (Antiq.
Rom lib. VIII) hat Odinga S. 575 übersehen.
*) Exemplar in Erfurt Kgl. Bibl. Lat. Eec. 185; vgl. 8cherer, Allp.
Deutsche Biographie 2,657.
Fischer, Don Quijote in Deutachland. 331
Don Quijote in Deutschland.
Die erste deutsche Übersetzung des Don Quijote, welche
wie die zunächst folgenden nur einen Theil des Romans
enthält, ist vom Jahr 1621; vier Jahre früher ist ein ein-
zelner Abschnitt des ersten Theils ins Deutsche übertragen
worden (Goedeke 2 2, 577 f.). Durch einen Zufall habe ich
aber eine Erwähnung des spanischen Romans in einem
deutschen Buch gefunden, welches schon aus dem Jahr
1613 ist, neun Jahre nach dem Erscheinen des ersten Theils
des Originals. Ich kann nicht finden, dass jemand schon
darauf aufmerksam gemacht hätte, doch steht mir hier die
einschlägige Litteratur nicht vollständig zu Gebote.
Im Jahr 1613 fand die Vermählung Elisabeths, der
Tochter Jacobs I. von England, mit Friedrich V. von der
Pfalz statt; die Heimführung nach Heidelberg wurde mit
grossem Gepränge gefeiert, allegorische Darstellungen und
Aufzüge wurden in grosser Zahl veranstaltet. Wir haben
eine ausführliche Schilderung in der Schrift: 'Beschreibung
der Reiss: Empfahung dess Ritterlichen Ordens: Volb ringung
des Heyraths : vnd glücklicher Heimführung . . . des Duroh-
leuchtigsten, Hochgebornen Fürsten vnd Herrn, Herrn
Friederichen dess Fünften' u. s. w. (In Gotthardt Vögelin s
Verlag, 1613. 4°, 205 u. 99 SS.). Schon Höpfner hat in
seiner schönen Schrift über G. R. Weckherlin auf dieses
Opus Bezug genommen und darauf hingewiesen, dass die
pfalzischen Festlichkeiten für manche andere massgebend
geworden sind.
Unter jenen Festlichkeiten befand sich als komische
Schaustellung auch ein 'Kübelrennen', das am 13. Juni 1613
stattfand. Wie für die andern Wettkämpfe, wurde auch
dafür ein 'Cartell' aufgestellt, das a. a. 0. S. 51 ff. abgedruckt
ist. Es trat bei diesem Eübelrennen Don Quijote mit den
Seinigen auf und das Cartell bezieht sich auf seine Ge-
schichte in einer Weise, dass man wohl annehmen darf,
sie sei als bekannt vorausgesetzt. Ich will als Probe nur
die Unterschrift des Cartells geben:
. . . dess verschmitzten Adelichen Don Quixote de la Mancha,
Rittern von der trawrigen Gestalt, Herrn dess allerbesten Bosses
Rozinante, der da gekrönet ist mit der hofnung vnd einbildung
dess grossen Keysersthumbs Trapezund, Ein Zerstörer vnd vber-
winder der Caraculiambrischen Riesen auss den Malindranianischen
Insuln, vnd einiger Sclave der Schönheit der vnvergleichlichen
332 Richter, J. ü. Königs Gevatterbriefe.
Dulcinea de! Toboso, genannt Aldonca Lorenza: Ich, der Ritter
dess Phoenix, der einige vnter vielen: der ich durch meine be-
rümbte vnd in Eherne vnd Marmelne tafeln schreibwürdige thaten,
die zeit vnd jähre gluckselig gemacht, vnd manche Nacht, mit
meinem Helm aufm häupte, auf der harten Erde, vnd etwa in
einer zerfallenen mawer, geschlafen habe. Ich, der recher aller
beschwerung vnd gewalt, Erlöser aller Witwen vnd Waisen, Ein
besitzer der wunderbaren Bücher, der thaten der vmbschweifenden
Ritter, der Abenthewren dess Esplandians, dess Amadis auss
Griechen, der Königin Pintiquiniestra, dess Florismarte auss Hir-
cania, der zwölf Vettern auss Franckreich, dess warhaften Historien-
schreibers Tarpins [sie], dess Palmerius d 'Olive See. Ich der Spiegel
aller Ritterschaft, die blum der Höfligkeit, die liebe der Königin
Xarilla, die hofnung der Keyserin Pandasüanda, die frewd der
holdseligen Maritornes, der schätz vnd hülff aller dürftigen, die
forcht aller Tyrannen, der schrecken aller grawsamen, vnd der
Kernsafft vnd Marck aller vmbsebweiffenden Ritter.
Das Cartell ist gerichtet
an alle Vmbschweifende Ritter, seine Landsleute, die das ziperlen
im gehirn haben, auch vnderm Hütlein nicht wol verwahret, vnd
der Art vnd gewechss der Baronci seind.
Tübingen. Hermann Fischer.
J. U. Königs Gevatterbriefe.
Zu Yierteljahrschrift 4, 582 ff.
Der erste der von Lindner mitgetheilten Rostocker
Findlinge ist doch auch in der Egl. öffentl. Bibliothek zu
Dresden handschriftlich erhalten; nur entschlüpfte er dem
Auffinden dadurch, dass er einem gedruckten Bande bei-
gebunden ist. Im alten Realkataloge der Hist. Sax. Imper.
sowie im neuen Standorts-Zettelkataloge konnte ich ihn als
die achte Miscelle eines jetzt die Signatur IL Sax. C. 1025
tragenden Bandes finden.
Die Dresdner Handschrift weicht theilweise von der
Rostocker ab. Der Wortlaut der Überschriften und der
Verse der ersten vier Nummern stimmt fast genau überein.
Aber bei Y heisst es hier: 'An ihro ExcelL die Frau Ober-
hoffmarschallin, Baronnesse von Löwendahl'; der Text ist
wie der Rostocker. In der Dresdner Handschrift folgt nun
als Nr. VI:
Dancksagung an ihro Gnaden die Frau Gammerherrin, Ba-
Richter, J. U. Königs Gevatterbriefe. 333
ronesse von Schenk, als Sie vor Ihro Hoheit die Printzess die
Stelle bey der Tauffe vertrat
Ob so verwegen ich gleich selber nicht gewesen
als Dir noch unbekannt damahlen von Gesicht
Hat doch ein höherer Befehl dich auserlesen,
Zu einem Liebeswerk, wofür ich Dir verpflicht.
s Durch Deine Gottesfurcht, ö Spiegel frommer Frauen,
Glaub ich fest, dass mein Hauss sich wird gesegnet schauen;
Und wie Dir meinen Danck itzt dieser Vers bezeugt,
So bitt ich, bleibe mir und meinem Hauss geneigt.
Mehr wünsch ich nicht Iiiebey, als dass mein Kind auff Erden,
10 Dir gleich an Tugenden und Frömmigkeit mag werden.
Hieran schliesst als Nr. VII 4An Ihro Excell. den Ge-
neralFeldmar8challn Grafen von Flemming', worin es in
V. 10 'mir gebracht' st 'mitgebracht', V. 13 4Wein-Monds-
Tag' st. 'Weinmonath', in V. 1 4 'WasserTrinker' st. 'grosser
Trinker', V. 21 'Tonin' st. 'Tovin', V. 25 'Momus' st. 'Mor-
nus% 'Jungen hecken' st. 'junge Hecken' heisst u. dgl.
Die Nr. VI auf 8. 587 des Abdruckes ist hier VIII,
die VII ist X, die VIII endlich IX.
Auf der Rückseite des letzten Blattes der Dresdner
Handschrift steht von anderer Hand als der des Verse-
schreibers :
Des Königl. Hofpoeten Königs, zu Dressden, Gevatter-Briefe,
zu seinem Sohn, Friedrich August Christian Joseph, geb. 1 Okt.
1722. — Erhalten von Sr. Exe. Tit. Herrn Oberhof-Marschall
Baron v. Löwendal. — Die Copie hat des Secretarii, und Hof-
Poet Bruder und damahl. Famulus, nachheriger Str [Steuer] Ex-
peetante, und Gopiste, Jacob Bernhard, König, gefertiget, und
herum getragen, gegen Trinckgeld, und ist seine Handschrift
solche vorstehende Gopie.
Da über den Dichter König wenig bekannt ist, möchte
ich auf die Angaben in Eneschkes Adelslexikon 5, 188
verweisen. Weniger verbreitet als dies Werk dürften die
in der Egl. off. Bibliothek zu Dresden vorhandenen 'Dresdner
Politischen Anzeigen auf das Jahr 1792' sein, in deren
Nr. 22 vom 29. May mit dem Kopfe 'Dressdnische Frag-
und Anzeigen9 es heisst:
Am 16. May a. c. verschied allhier Herr Friedrich August
von König, des Kgl. Poln. St. Stanislai-Ordens Ritter, Churfürstl.
Sachs. Directeur des Plaisirs, im 70sten Lebensjahre. Er wurde
zu Dressden den 4. Oct 1722 l) getauft, als ein Sohn des da-
maligen Kön. Poln. und Ghurf. Sachs. Geh. Secretairs, Johann
>) Oben hiess es: am 8. October.
334 Nenmann, W. Heinses Erklärung der aristot Katharsis.
Ulrich Königs8), welcher sich als Dichter seit 1717 am hiesigen
Hofe bekannt gemacht hatte, 1741 unter dem Chur-Sächs. Reichs-
Vicariate geadelt ward, und als Hof- und Geremonien-Rath den
1 3. März 1 744 verstorben ist. Unser Wohlsel. hatte anfangs den
Charakter eines Kön. Poln. und Ghurfürstl. Sachs. Hofraths, und
erhielt 1 754 die Stelle als Directeur des Plaisirs. Er war Erangel.
Lutherischer Religion, und unverheirathet.
Damit ist Eneschkes Angabe widerlegt, Frdr. Aug. von
König sei 1790 gestorben. Von 1748 — 52 kommt er im
'Kgl. Poln. und Churf. Sachs. Hof- und Staats- Calender'
als 'Secretarius bey der General-Accis-Expedition' vor.
Dresden. P. E. Richter.
W. Helnses Erklärung der aristotelischen
Katharsis.
Die Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristo-
teles über Wirkung der Tragödie, die Jacob Bernays 1857
in seiner berühmtesten Untersuchung aufzuzeigen unter-
nahm, gehen von dem 6. Kapitel der aristotelischen Poetik
aus und suchen zu ermitteln, was Aristoteles eigentlich
unter der von der Tragödie bewirkten Katharsis verstanden
habe. Wenn die Tragödie hier als dt iXiov xai (poßov
Tteqaivovaa Trjv %wv TOiovTtav 7tad7/fidr(ov xddxxQCcv bezeichnet
ist, so wies er zunächst nach, aase ra TOtavra 7ta&rmata
ausschliesslich auf ekeog und woßog gehen, dass es sich also
um eine Ka&ctQOcg ileov xai (poßov dt ileov xal woßov handle.
Furcht und Mitleid sollten aber nicht etwa selbst gereinigt
werden, sondern würden, da xd&aQOig hier im medicinischen
Sinne gebraucht sei, als die durch Reinigung auszustossen-
den Stoffe bezeichnet: durch Mitleid und Furcht bewirke
die Tragödie eine Reinigung, nicht dieser oder irgend-
welcher Leidenschaften, sondern des Zuschauers eben von
den Affectionen des Mitleids und der Furcht.
Wenn gegen diese Deutung sich auch gelegentlich noch
ein vereinzelter Widerspruch erhebt, so findet er doch kaum
mehr Gehör. Gerade auf sie hat Wilamowitz sich berufen,
um an ihr zu exemplificiren, wie Untersuchungen endlich
einmal ihren Abschluss finden.1)
*) Geb. 8. Oct. 1688 zu Esslingen, weshalb er sich den ;schwäbi-
schen König' nannte.
l) 'Die historische Forschung hat im Princip ein Ende; die Phi-
lologie, soweit sie Wissenschaft ist, also auch. Es kommt die Zeit,
Neumann, W. Heinsea Erkl&rnng der aristot. Katharsis. 335
So überraschend die Deutung von Bernays wirkte, so
selbständig sie auch gefunden, so eigentümlich sie aus-
geführt und begründet war ; und so weit die überwältigende
Mehrzahl aller Deutungen auch dem Wege fern geblieben
war, den Bernays einschlug: es hat der Deutung nicht an
Vorbereitung und dem Erklärer doch nicht ganz an Vor-
läufern gefehlt. Die sorgfaltigen Zusammenstellungen von
Reinkens und Döring haben in der Übersicht über die Ge-
schichte der Deutung nicht übergangen, was an solcher
Vorbereitung ihnen bekannt war; vgl. Reinkens, Aristoteles
über Kunst, 1870 S. 78 ff.; Döring, Die Kunstlehre des
Aristoteles, 1876 S. 263 ff. Ich vermisse aber einen Hin-
weis darauf, dass sich Wilhelm Heinse mehr als 70 Jahre
vor Jacob Bernays dem rechten Wege genähert hat.
Bruchstücke aus Heinses 1787 erschienenem Ardinghello
sind bereits 1785 und 1786 im Deutschen Museum gedruckt
worden, zuerst das Künstlerbacchanal im Juni 1 785: Deutsches
Museum 1785 1, 473—515 = Heinse's sämmtliche Schriften
hg. von Heinrich Laube 1838, 1,220—277. Hier redet
Heinse S. 478 des ersten Drucks, bei Laube S. 226 folgen-
dermassen von den Römern: 'Es ist klar, dass ein solches
(nämlich an Thierkämpfe und Gladiatorenspiele gewöhntes]
Volk, welches noch überdies wirkliche Könige und Helden
am Leben, wie Jugurtha, ihren letzten Tropfen Existenz in
seinen öffentlichen Gefangnissen bis auf den äussersten
Hunger ausdauern sah, der kleinern Atheniensischen Tra-
gödie nicht bedurfte, um das Herz nach dem Aristoteles
von Furcht und Schrecken zu reinigen. Und was sind wir,
denen die Vorstellungen des Sophokles und Euripides zu
grausam vorkommen?1
Es bedarf nicht vieler Worte zum Erweise, in wie weit
Heinse und Jacob Bernays hier übereinstimmen: nicht die
Furcht, sondern das Herz des Zuschauers wird von der
Furcht gereinigt, und zwar durch einen furchtbaren Anblick.
Aber Bernays versteht den Aristoteles, und mit vollem
Rechte, dahin, dass die Tragödie in dem Zuschauer Furcht
erwecke und ihn eben dadurch von Furcht befreie, während
es sich bei Heinse nicht sowohl um eine solche homöo-
pathische Wirkung, als vielmehr um die Gewöhnung an
einen furchtbaren Anblick handelt, welche Furcht und
Schrecken nicht mehr aufkommen lässt. Die an stärkere
Eindrücke gewohnten Römer bedurften dazu der 'kleinem
Atheniensischen Tragödie9 nicht; und noch weichlicher seien
wo eine 4Fragc\ wie z. B. die xci&ccQig rtZy ntt9rniaxtav durch Bernays,
erledigt ist.' U. von Wilamowitz-Moellendorn, Homerische Unter-
suchungen, 1884 S. 418 f.
336 Neumann, W. Heinses Erklärung der aristot. Katfaani».
wir, denen selbst die attische Tragödie zu grausam er-
scheine.
Mit der letzten Bemerkung geht Heinse bereits zu einer
anderen Erklärung für die Freiheit der Griechen und Römer
von theilnehmender Furcht über; er sieht diesen Grund in
ihrer starken Natur. 'Ein Miltiades, Themistokles, ein Sylla
und Cäsar können bei Gegenstanden Vergnügen empfinden,
die bei einem Schwachen Abscheu erregen und ihn martern,
weil er nicht grosse, starke Selbständigkeit hat, die Leiden
andrer ausser sich zu fühlen, ihre Natur und Eigenschaften
wie jene mit ihren Kräften zu ergründen und zu erkennen,
die Sphäre seines Geistes dabey zu erweitern, und zugleich
über alles dies emporzuragen, ohne sich als Theil damit zu
vermischen und selbst zu leiden.9 Man wird nicht umhin
können, einen Widerspruch darin zu finden, dass die Ge-
wöhnung an einen furchtbaren Anblick das Herz von
Männern, welche bei ihrer starken Natur diesen Empfin-
dungen überhaupt nicht unterliegen, von Furcht und
Schrecken reinigen soll. Und Heinse selbst hat diesen
Widerspruch empfunden, aber freilich nicht gehoben, wenn
er S. 479, bei Laube S. 227, von dem Eindrucke redet, den
in der griechischen Tragödie der Untergang oder das Leiden
des Helden ausübt: 'Dies ergreift männliche Seelen, und
ein solch ausgewählt Leben, von trivialen Lumpereyen fern,
dringt in nichts desto weniger rein und scharf fühlende
Herzen; es gieng nach dem grossen paradoxen Grundsatz
der Stoiker: Der Weise erbarmt sich, hat aber kein Mit-
leiden1.
Yon Mitleid und Furcht, nicht von der Furcht allein
redet Aristoteles, und auch in die Ausführungen Heinses
auf S. 478 passen beide Empfindungen. Wenn dieser also
nicht von Furcht und Mitleid oder von Mitleid und Schrecken,
sondern von Furcht und Schrecken redet, so wird man
darin eher eine Flüchtigkeit als die Absicht einer Wieder-
gabe von woßog allein durch beide Bezeichnungen anzu-
nehmen haben.
Die Differenz zwischen Heinse und Bernays ist nun-
mehr deutlich, aber darum bleibt ihr Zusammentreffen in
einem wesentlichen Punkte doch bestehen. Ob Heinse in
seinen ungedruckten Abhandlungen über Aristoteles, die
Hettner im Archiv f. Literaturgeschichte 1881, 10, 39 er-
wähnt, auf die Katharsis zurückgekommen ist, weiss ich
nicht; auf jeden Fall ist ihre Behandlung im Ardinghello
für sich verständlich und unabhängig von Heinses späteren
Aristotelesstudien zu erörtern.
Strassburg i. Eis. Karl Johannes Neumann.
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 337
Johann Joseph Beckh.
Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Dramas
im 17. Jahrhundert.
Johann Joseph Beckhß1) Name ist nicht ganz unbekannt.
Sein 'Schauplatz deß Gewissens' hat seit Menzel, der auch
einige andre Dramen Beckhs berührte, mehrfache Beachtung
gefunden ; und die Beziehungen, die dieses Werk zur Faust-
sage aufweist, geben dem Dichter bei der Theilnahme, mit
der man in Deutschland allem mit Faust in Verbindung
Stehenden entgegenkommt, immerhin mehr Interesse, als es
sonst den Durchschnittsdramatikern des 17. Jahrhunderts
geschenkt wird. Unsere nachfolgende Betrachtung gilt
hauptsächlich dem Dramatiker; doch durften seine übrigen
Werke nicht übergangen werden, da sonst das Bild der
dichterischen Persönlichkeit nicht vollständig gewesen wäre.2)
Die erste nachweisbare Publication Beckhs war eine
Sammlung geistlicher Lieder. Diese, die 'Geistliche
Echo' (1660) s) enthält 27 Lieder. In den meisten der-
selben ist irgendwelche hervorstechende Eigenart nicht zu
finden; sie handeln die hergebrachten Gegenstände der
religiösen Dichtung in der hergebrachten AusdrucksweiBe
ab, die sich fast nirgends über die gewöhnliche Sprache
der geistlichen Poesie des 17. Jahrhunderts erhebt. Unter
den ersten zwanzig Liedern verdienten eigentlich nur das
zweite, in dem nach einer in der religiösen Dichtung des
17. Jahrhunderts so häufig wiederkehrenden Aufzählung der
Wunder der Schöpfung das Lob Gottes aus der Natur ge-
sungen wird, und das zehnte, wo ihn das Vorbild von
*) Seine Lebensumstände sind zum Theil noch dunkel, ich denke
darauf zurückzukommen.
*) Nicht alle ausserdramati sehen Werke Beckhs waren aufzutreiben.
Nach den von Goedeke, Grundr. 3 *, 222 aufgeführten 'Morgengedanken*
und 'Politischen Geschichtserklärungen1 habe ich in vielen Bibliotheken
vergebens gesucht.
») Genaue Angabe des Titels bei Goedeke * 3, 179. Exemplar auf
der Universitätsbibliothek in Göttingen.
Vierteljahrschrift für Litteratoigesohichte V 22
338 Ellinger, Johann Joseph Beckh.
Luthers: 'Vom Himmel hoch, da komm ich her' zu einer
gewissen Schlichtheit des Ausdrucks zwang, eine besondre
Hervorhebung. Etwas individueller als die grosse Mehrzahl
der andern Lieder sind die letzten Stücke, die 'Klag eines
unruhigen Lebens9 (Nr. 21), das 'Traur-Lied über die länge
seines Vnglücks', worin in einer an das Komische streifen-
den Häufung die ganze Natur angerufen wird, an seinem
Unglücke Theil zu nehmen. Ansprechend wegen seiner
verhältnissmäBBigen Einfachheit ißt auch das 'Trost-Lied.
Wider alle Anfechtung', und eine gewisse Kraft anschau-
licher Schilderung mag man in dem den 'Abend-Gesang'
(Nr. 18) einleitenden Bilde des Abends immerhin finden
(S. 18):
Der Tag, der müde Tag ist hin,
Die Sonn* ist schon verblichen,
Die Nacht die Arbeit -Trösterin,
komt nun heran geschlichen,
Apollo ist bereit zu Beth,
weil Hekate zu Felde geth
vnd auss dem Meer endwichen.
2. Ja Morfeus nimmt den Mantel um
vnd dekket seine Glieder
man höhret kerne Vogelsstim,
man höhret keine Lieder,
Die Luffl ist leer, das Feld veröd,
der Menschen Leib ist matt und blöd,
der legt sich sanfft darnider.
3. Nun liget alles in der Ruh,
die Welt ist eingeschlaffen,
nur GOTT hat nie kein Aug nicht zu,
Er wacht vns als den Schaffen,
Er dekt die Menseben, zam und wild,
Auss Lieb mit seinem Helm und Schild,
mit seines Geistes Waffen.
Im ganzen kann man der Sammlung irgendwelche Be-
deutung nicht zusprechen, und die Bescheidenheit, mit der
der Dichter auf den ersten Seiten der Vorrede von sich
und seinem Werke spricht, würde aus weiser Selbst-
erkenntnisB hervorzugehen scheinen, wenn nicht aus der im
17. Jahrhundert typischen Abwehr des Momus und Zoilus
die eigentliche Meinung des Dichters über seine dichterische
Befähigung zu klar zu erkennen wäre (Vorrede S. 4) :
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 339
Ich bin es gar nicht in abred, dass nicht auch diesem meinem
Beginnen vnd aussgegebenen Liedern, viel stachlichte und spöttische
Otterzungen nachschleichen werden, die theils aus dummer Un-
wissenheit vnd neidischem Herzen, dieses tadeln, welches jhnen
GOtt nimmer gibt zu verstehen, noch sie bewürdigt damit begabt
zu sein, theils mit allzuscharffsichtigen Verstände, damit ein
mancher einfältiger Elögling gedenket den Himmel durchzusehen,
ein jedes Wort, ja Buchstaben tadeln, vnd auss einer Fliege einen
Ellefanten machen werden, ich werde es aber achten, wie der
Mohn der Hundebellen, vnd die Sternen der Eulen Geschrey, die
Sonne bleibt doch das grosse Tages-Liecht, vnd wird nicht ver-
finstert, ob sie schon die Fledermäuss meiden.
Einen Fortschritt diesen geistlichen Gedichten gegen-
über zeigen die Kirchenlieder, welche Beckh seiner Prosa-
schrift: 'Sichtbare Eitelkeit und unsichtbare Herr-
lichkeit. Das ist ein Spiegel aller Stande Lauff und
Endliches Wol- und Ubelergehen, nebenst der himmlischen
Seeligkeit Bedencken, über alle Irrdische Grossmächtigkeiten,
Eürtzlich entworffen. Hamburg. 1671.' 4) anfügte. Die vier
hier S. 21 1 ff. mitgetheilten Gedichte verrathen eine grössere
Gewandtheit in Ausdruck und Yersification als die in der
Geistlichen Echo vereinigten, reichen aber freilich an Wohl-
laut und Glätte nicht an die vier Jahre früher entstandenen
weltlichen Lieder heran, die sich in der sogleich zu be-
sprechenden Elbianischen Florabella finden. Die Prosaschrift
seihst malt mit ßtarken Farben die Nichtigkeit und Ver-
gänglichkeit des menschlichen Daseins aus; sie zeigt, wie
wenig Freuden dem Menschen auf dieser Welt zutheil wer-
den, wie viele Anfechtungen und Leiden er dagegen zu er-
dulden hat. Die Mittel, durch die er eine gewisse Disposition
herzustellen Bucht, sind älteren Datums; sie stammen aus
dem 15. Jahrhundert und sind dann namentlich im 16. Jahr-
hundert durch die ganze Reformationslitteratur zu verfolgen.5)
Beckh spricht z. B. von verschiedenen Ungeheuern und
meint damit die Leidenschaften und Laster des Menschen;
*) Exemplare auf der Stadtbibliothek in Hamburg und der Biblio-
thek in Stuttgart.
B) Es wäre eine gewiss nicht undankbare Aufgabe, das Fortwirken
dieser Formen im 17. Jahrhundert zu verfolgen, vgl. z. B. Harsdörffer,
Gesprächsspiele 1,28 f., wo wohl Huttens Trias Romana vorschwebt.
22*
340 Ellinger, Johann Joseph Beckh.
er zählt dann die einzelnen Ungeheuer der Reihe nach auf
und behandelt jedes im einzelnen. Oder er spricht von
drei Kränzen, die der gute Mensch im Jenseits erhält und
deutet einen jeden der Kränze als Belohnung aus. Nicht
überall hält sich Beckh allzu ängstlich an sein Thema, zu-
weilen macht er ziemlich lange Abschweifungen, er bringt
mancherlei lehrhafte Elemente, Vorschriften über die beste
Führung des Lebens und ähnliches hinein, auch anekdotische
und unterhaltende Elemente fehlen wenigstens nicht ganz.
Das Buch ist gut geschrieben und bietet wenige Stellen,
durch die man sich mühsam hindurchlesen muss, was man
bekanntlich nicht vielen Erbauungsschriften des 17. Jahr-
hunderts nachrühmen kann. In der Ausmalung einzelner
Scenen zeigt ßich der Dramatiker, und ganz an die Schluss-
scene des Schauplatzes des Gewissens erinnert eine Situation,
die Beckh mit lebhaften Farben ausgemalt hat und die auch
durch die Einfuhrung der allegorischen Gestalten deutlich
an die Stoffkreise gemahnt, denen Beckh sein Drama ent-
nommen (S. 177 f.): die Gerechtigkeit versperrt der Seele
die Himmelsthür, indem sie ihr die früher begangenen
Sünden vorhält, die Seele beruft sich auf das Verdienst
Jesu und fuhrt ihren Glauben inß Feld.
Siehe die Gerechtigkeit weicht, und die Barmhertzigkeit Gottes
reicht dir die Hand, und führet dich etwas näher, wo stehest du
nun die Welt? Sie ist verschwunden mit all ihrem Pracht; Was
hörest du? Unaussprechliche Herrlichkeiten, lauter Engel-Zungen.
Begehrtest du nun wieder in die vermeinte prächtige Welt? Du
speyest aus, und haltest alle Vortrefflichkeit des gantzen Erdbodens,
vor lauter Thorheit, Elend und Verwirrung, nun gehe vollend in
das Allerheyligste.
Sey willkommen
Aus den Frommen,
Lebe nun mit uns zugleich,
Dieses Ewge Gottes Reich
Gibt dir ewge Herrlichkeit
Die dein Jesus dir bereit.
Sey gegrüsset,
Sey geküsset,
Hier ist Freude, sonder Noth
Hier ist Leben, sonder Tod,
Diese höchste Herrlichkeit
Hat dein Jesus dir bereit. [Es folgen noch 4 Strophen.]
TN^_'—
EUinger, Johann Joseph Beckh. 34 1
Siehe, dieses ist der Anfang, da dich die heylige Engel und Gläubige
empfangen.
Nicht ohne Interesse tritt man auch an Beckhs 'El-
bianische Florabella'6) heran, einen Roman, in welchem
Beckh die Geschichte seiner wirklichen oder zum Theil
der Wirklichkeit entsprechenden Liebes- und Lebensaben-
teuer unter den bekannten pastoralen und übrigen modischen
Masken gegeben hat. Denn dass unter dem Haupthelden
Amandus, der seines Missgeschicks wegen zuletzt diesen
Namen mit dem Namen Talander vertauscht, der Dichter
selbst zu verstehen ist, hat dieser selbst ausgesprochen:
'aber wer ist anders dieser Amandus als ich?9 (C6b.) Das
Pastorale ist nur äusserlich aufgeheftet ; zwar wird der Held
zuerst als Schäfer gedacht, auch wenn von seinem Vermögen
die Rede ist, immer von seinen Schafen gesprochen; ferner
wird er uns als Theilnehmer an einem grossen ländlichen
Feste vorgeführt, wo Schäfer und Schäferinnen sich durch
feingedrechselte Reden, Vorlesung von Liebesbriefen und
Vortragen von Liedern unterhalten, aber manchmal lässt der
Dichter auf längere Zeit das pastorale Kostüm ganz fallen
und behält bloss die allgemein modische Einkleidung bei.
Der Inhalt des Buches ist kurz zusammengefasst fol-
gender : Amandus, ein junger Schäfer, verliebt sich in eine
junge Dame, die ihm auch Gegenliebe gewährt. Ihre Eltern
machen ihm den Vorschlag sie zu heiraten und versprechen
sie stattlich auszustatten, aber Amandus kann sich nicht
entschliessen seine Freiheit aufzugeben, er verlässt sie da-
her und vernimmt bald darauf, dass sie sich mit einem
andern vermählt hat. Auf einer Reise sieht er dann wiederum
ein Mädchen, welches er beim Gesänge belauscht und das
einen tiefen Eindruck auf ihn macht. Er weiss sich Ein-
gang in das Haus zu verschaffen und wird, da es sich er-
•) Johann JosefF Bekkhs gekröhnten Poeten Elbianische Flora-
bella Oder Liebes-Beg&bnüsse Nach Arth einer Schäferey In vier Theile
abgetheilet, darinen Natürliche Beschreibungen, höffliche Wort- Wechsel,
liebliche Lieder, nützliche Lehrsätze, und zierliche Liebes-Brieffgen
nach unterschiedener Begebenheit zufinden. Allen Liebhabern solcher
Sachen zu sonderbahren Gefallen hervor gegeben in Dressden des 1667
Jahres. Dressden, in Verlegung Christian Bergens, gedrukkt in Seytierts
Drukkerey, 1667 [Exemplar auf der Stadtbibliothek in Leipzig].
342 EUinger, Johann Joseph Beckh.
giebt, daB8 seine Eltern denen des Mädchens bekannt und
vertraut waren, wohl aufgenommen. Die Jungfrau gewinnt
durch ihre Anmuth und ihre Klugheit sein Herz immer
mehr, er gesteht ihr seine Liebe und findet Gegenliebe. So
erfreuen sie sich ihrer Liebe eine Zeit lang in Ehren, aber
heimlich und unter mancherlei Gefahren, da die Geliebte
und ihre Eltern anderer Confession sind als Amandus. Als
aber endlich die Eltern ihre Liebe entdecken, machen sie,
um die Liebenden von einander zu trennen, mit der Tochter
eine weite Reise, und Amandus muss zu seinem Schmerze
nicht lange darauf hören, daßs seine Geliebte auf dieser
Reise gestorben ist. Andere Schläge deß Schicksals kommen
noch hinzu und lassen ihn sein Unglück noch schmerzlicher
empfinden: durch den Betrug falscher Freunde und die Un-
gerechtigkeit der Grossen kommt er um sein ganzes Ver-
mögen. Amandus, oder wie er ßich jetzt nennt, Talander,
zieht nunmehr in entfernte Gegenden, in rauhe und' wüste
Berglandschaften, deren Aussehen mit seinem Schmerze
harmonirt; auf sein späteres Geschick, wie er von guten
Freunden wohl versorgt, von den Schäfern und Schäferinnen
des Eibstromes über sein Unglück getrottet wird, deutet der
Dichter nur in einem kurzen Ausblick hin.
Inwieweit die geschilderten Vorgänge das wirkliche
Schicksal des Dichters wiedergeben, lässt sich natürlich
im einzelnen nicht entscheiden7), doch werden wir immer-
hin annehmen dürfen, dass wenigstens einem Theil der von
dem Dichter erzählten Thatsachen wirkliche Begebenheiten
aus seinem Leben zu Grunde liegen. Den verhältnissmässig
einfachen Stoff hat nun der Dichter auf die verschiedenste
Weise interessant zu machen gesucht. Grosse Episoden
wie das bereits erwähnte Fest der Schäfer und Schäferinnen
sind eingeflochten worden, auf die zierliche Ausgestaltung
der Gespräche hat der Dichter offenbar grossen Werth ge-
legt und in diesen in möglichster Höflichkeit schwelgenden
Worten offenbar etwas besonders Anziehendes zu bringen
geglaubt, das durch die ausgesuchten Feinheiten der Rede
7) Indessen vermögen wir wenigstens eine der vorgefahrten That-
sachen auf ein Erlebniss des Dichters zurückzuführen, vgl. unten Anm. 9.
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 343
und Gegenrede, die Gleichnisse und allgemeinen Sentenzen
seine Wirkung unmöglich verfehlen konnte. Indessen trotz
aller galanten Bedewendungen und GeBuchtheiten in der
Sprache der Höflichkeit hat der Verfasser doch gegen die
Modenarrheiten, namentlich gegen die modische Sprach-
mengerei opponirt8), indem er seinem als albernen Gecken
gezeichneten Nebenbuhler Celino folgende Worte in den
Mund legt:
Madam ich erfreue mich die Fortun zu haben ihr Serviteur
zu seyn, wiewohl ich die occasion lang nicht gehabt, ihren Meriten
zu begegnen, ich verhoffe aber die Zeit soll nicht perdirt heissen,
in der ich die Gelegenheit Utire vor ihro zu erscheinen, dann
meine qualitäten werden vielleicht so viel dinnitäten (pro dignität)
haben, das ich ihren Augen placitiren könne, Madam fürwahr die
Zeit welche vacirt, das ich ihr nicht habe participirt können seyn,
hat mich ein eeculum gedeucht, nun aber da es an dem ist, sie
als meine Dominatriz zu sehen, bin ich auch wieder Mal-Content
(vor Content).
Die Erzählung fährt folgendennassen weiter fort (K 3 b) :
Florabella als die es besser verstünde was die Frantzösische
Sprache auff sich hatte, fiel ihm in die Rede und sprach, Monsieur,
S4^avez vous bien parier franqois? da stunde Matz, und wüste nicht
was er solte sagen, Madam (fuhr er fort) ich will vor zu ende
mit meinen Complimenten schreiten, alsdann mag sie auch ant-
worten, alleine dass es mir deutsch ist, dann wann ich schon
etwas Frantzösisches kan, so gebrauche ich es nur zur Aus-
stafiirung meiner Discoursen, im übrigen kan ich nichts, nichts
desto weniger soll sie genügsame Satisfaktion empfangen.
Auch durch Schilderungen aller Art Bucht der Dichter
seine Darstellung zu beleben. Wenn er dabei allen Er-
scheinungen im einzelnen nachgeht und eineß nach dem
anderen aufzählt, bo mag man das freilich wenig poetisch
finden, auch laufen selbstverständlich wie stets im 17. Jahr-
hundert manche Pedanterien mit unter. Immerhin aber ver-
dient die nachfolgende Stelle (wozu u. a. noch zu ver-
gleichen die Schilderung des Frühlings B a f., des Gewitters
F 3 f.) eine Hervorhebung um der Sorgfalt willen , mit
welcher der Dichter sie offenbar ausgeführt hat (B 2 a ff.).
») Ähnliche Angriffe gegen das fremde Modewesen auch : Sichtbare
Eitelkeit S. 28 f.
344 Ellinger, Johann Joseph Beckh.
Er aber gieng in ein nechst dabey gelegenes Wäldgen, mit
niemand anders dann mit seinen eigenen Gedanken begleitet, in
willens alda sein Gemütbe zu erfrischen, worzu es dann nicht viel
Sorgens bedurfte, alles kam so nett überein, dass es schiene der
anmuthigste Orth in gantz Arcadien hätte sich anhero geleget,
umb nur diesem Schäffer und seinem Verlangen einiges Ver-
gnügen zu thun, Inmassen der Orth an sich selbsten mit der
lieblichsten Gegend umbgeben war, dass sich Amandus nicht
gnugsam drüber erlustiren kunte, dann auff der einen Seiten lieff
ein kleines Bächlein, welches ein anmuthiges Gemurmel ver-
ursachte, dass man nicht wissen kunte, ob sich die darin be-
findlichen Kieselsteine oder das Wasser selbsten beklagten, oder
ob sie alle beyde von dem lieblichen Orthe zu reden schienen,
keines mochte gefehlet seyn, das Wasser wolte sich gleichsam be-
schwehren, dass es so schnell aus dieser lieblichen Gegend ge-
trieben würde, da hingegen die Steine alda liegen blieben, und
sich fort für fort des Schattens, welchen die zu beyden Seiten der
Ufern stehenden Weyden Bäume verursachten, sich bedienen
könten, die Steine hingegen geben die Stille und Einsamkeit des
Orths zu verstehen, und betrauerten gleichsam, dass er nicht von
mehrern Schäfern und Schäferinnen besucht würde, und hinten
sich auch wohl alle beyde von der Lieblichkeit Sprach halten, In
dem von ermeldten Weyden Bäumen je einer von dem andern
die Äste aussbreiten wolte, umb nur dem lieblichen Gelispel des
Wassers den Schatten mitzutheilen, und solches desto besser ins
Werk zu setzen, machten sie eine solche Freundschafft zusammen,
dass sie einander zu umbfangen schienen, damit ja die Sonne mit
ihren Straten nicht durchbrechen kunte, wie denn auch nicht
mehr Schnee hinein fiehle, dann von nöthen war . . .
Daneben spielen allerlei abenteuerliche Geschichten
mit hinein, die wohl ebenfalls eine besondere Würze ab-
geben sollten. Auf zwei nächtlichen Fahrten wird Aman-
dus von spukhaften Erscheinungen heimgesucht: das erste
Mal hört er die wilde Jagd und sieht verschiedene wunder-
bare Erscheinungen, von denen ßie begleitet ist (C 5 a ff.)9);
das zweite Mal wird er von einem hexenhaften Weib auf
•) Diese Schilderung beruht auf einem Erlebnis des Dichten, von
dem dieser Sichtbare Eitelkeit S. 50 f. uns Kunde giebt: 'Ich bin selbsten
einsmahls im Schwartzwald bey Nacht in einem finstern Wald, welcher
auch bey Tag finster und forchtsam war, gerathen, dass ich dem An-
sehn und Geschrey nach unter mehr als hundert Jäger nnd Hände
schiene zu seyn, da anstatt des Fortlauffens, ich mit dem Pferde stock-
stille muste stehen bleiben, wie einem da zu Math ist, lass ich diesen
urtheilen, der es erfahren;
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 345
einen Felsen geführt, wo die Hexen ihren Babbath halten ;
zwei Hexen wollen ihn herunterstürzen, er aber nennt den
Namen Jesus, worauf die Hexen verschwinden. Dann schläft
er ein und entdeckt beim Erwachen, dass er dicht neben
einer schroff abfallenden Felswand, die in unermessliche
Tiefe hinabführte, eingeschlummert war.
Eine besondere Anziehungskraft suchte Beckh dem
Romane noch durch die zahlreich eingestreuten allgemeinen
Bemerkungen zu geben, die sich über die verschiedensten
Gegenstände verbreiten. Bemerkenswerth unter ihnen ist
namentlich eine längere Betrachtung über die Poesie, in
welcher Beckh den Werth und die Bedeutung der Poesie
genügend auseinanderzusetzen sucht und in der sein Stolz,
selbst einer ihrer Vertreter zu sein, überall hervortritt; man
vgl. z. B. Bl. vor H f.:
Ein Poet muss seyn voller himmlischer Einflüsse, und wie
ein anderer sagt, gantz von der Erden ausgehoben, und dessen
Geist man nur bey den Sternen suchen muss, wesswegen sie, die
Poeten, auch diese Loosung oder Kennzeichen führen, wann sie
mit recht dörffen sagen:
Es ist ein Gott in uns, ein Geist wann der sich reget,
Brennt unser Geist auch an, und sich wie Gott beweget.
Dahero sie vor diesem von den Kaysern, Königen, Fürsten
und Herren theils gar vor Götter theils sonsten in hohem werth
gehalten worden, dass sie auch allein solcher grossen Herrn Ruhm
und Thaten beschreiben dörffen, es thut aber die Natur auch
nicht gnung dabey, sondern es wird grosser fleiss erfordert, wann
man ein rechter Poet seyn will, die Wissenschafften und die Er-
fahrung die müssen der Natur auffhelffen, dann, in dem ein Poet
alles beschreiben muss können, was ihme vorgegeben wird, so ist
warhafftig vonnöthen, dass er sich in der heiligen Schrifft, in der
Welt Weissheit, in der Naturforschung, in der Himmels- und Erd-
kugel, in den geist- und weltlichen Geschichten, sonderlich aber
in der Erfahrung, da er selbsten die Sach mit Augen gesehen,
nicht unwissend und unerfahren finden lasse, wo auch ein Poet
obiges nicht von sich rühmen kann, so bilde er sich nicht ein,
dass er mit recht ein Poet genant mag werden, der Unterscheit
ist leicht zu sehen, man lese eines rechten Poeten Schrifft und
eines Stümplers, iener wird allezeit nützliche Lehr-sätze, dieser
aber narren Grillen einführen, unsere Christliche deutsche Poeterey
soll vornehmlich zu Gottes und der grossen Herren Ehr und Ruhm,
zu dess gemeinen nechsten Nutzen, und zu zeiten zu ergötzlich-
keit des löblichen Frauen-Zimmers angewendet werden, dann das
346 Ellinger, Johann Joseph Beckh.
Frauen-Zimmer kann von niemand mehr erfreuet werden, dann
von den Poeten, dahero sie wohl sagen mögen
Das lehren die Poeten,
Die uns den Unmuth tödten.
Nicht ohne ist es zwar dass ihrer vielmehr haasiren dann
Poetisiren in ihrem Dichten, aber nichts destoweniger bleibt die
rechte und vernünftige Poeterey in ihrem hohen Glantz und
Würde, ohnangesehen sie von vielen Elüglingen, denen Gott solche
Gnade und Habe nicht verliehen, vor nichts gehalten wird, nur
dieses ist zu beklagen, dass auch offt einige Poeten ihre hohe
Gabe zu leichtfertigen Liedern, schä[n]dlicher verläumbdung und
andern unnöthigen Sachen anwenden . . . man sehe an, wer nur
heut zutag einen Vers machen kan, der wendet ihn meistentheils
an garstige Lieder, ich vor meine Person trage gar kein belieben
von dergleichen Sachen zu schreiben, welche keuschen Ohren ein
abscheu zu seyn pflegen, das ich von Heiligthümern schreibe, das
kan ich zwar nicht sagen, aber doch gleichwohl hüte ich mich
vor Ärgerniss, man kan wohl Politische und verliebte Sachen
schreiben, wann nur der rechte Zwekk und die Erbarkeit nicht
ausgelassen wird. Beyspiehl und Lehre von der Liebe zu geben,
ist so heilsam, als von etwas anders zu schreiben, weilen in
keinem stükke mehr gefehlt wird dann in der Liebe.
Diese Stelle ist in extenso hierher gesetzt worden,
nicht etwa, weil die Ansichten, welche hier vorgetragen
werden, von den sonst im 17. Jahrhundert herrschenden
Anschauungen so durchaus verschieden wären, sondern weil
sie wirklich für unseren Dichter charakteristisch sind. Seine
Forderung, daßs der Poet alles, was er darstellt, selbst mit
Augen gesehen haben soll, stimmt durchaus zu dem Bilde,
das wir namentlich aus diesem Romane von seiner Art zu
arbeiten empfangen. Auch die weiteren Bemerkungen über
den Missbrauch der Dichtung zu unreinen Zwecken war er
durchaus zu machen berechtigt ; wir finden in seinen Werken
nirgends Zweideutigkeiten und Zoten; so hat er sich z.B.
bei den Buhlscenen im Schauplatz des Gewissens sehr zurück-
gehalten, wenn wir erwägen, wie nahe hier die Versuchung
zur weiteren Ausmalung lag.
Mancherlei Einflüsse aus anderen Romanen des 17. Jahr-
hunderts lassen sich in der Elbianischen Florabella nach-
weisen ; am stärksten hat Zesens Adriatische Rosemund auf
ihn eingewirkt. Aub Zesen ist offenbar das Hauptmotiv
des Schäferromans entnommen: das verschiedene religiöse
EUinger, Johann Joseph ßeckh. 347
Bekenntni88 der Liebenden 10), das endlich auch zur Trennung
derselben Veranlassung giebt. In beiden Fällen ist es auch
der Yater der Geliebten, welcher die endgültige Scheidung
herbeifuhrt. Auch manches in der Führung der Gespräche
und in der Wahl der besprochenen Gegenstände erinnert
an Zesen; für die Schilderung des bäuerlichen Feßtes könnte
auf Zesens Beschreibung der Weinleßefeier in Rouen ver-
wiesen werden.
Den erfreulichsten Eindruck machen unß indessen in
dem Romane die eingestreuten Lieder. Vergleichen wir
dieselben mit dem an die erneuerte Chariklia angehängten
Liebesliede, so lässt sich ein bedeutender Fortschritt nicht
verkennen. Jenes. Lied ergeht ßich in öder Schilderei und
erhebt sich auch in der Form nirgends über die Leistungen
der Durchschnittsreimer des 17. Jahrhunderts. Die in die
Elbianische Florabella eingefügten Lieder dagegen zeichnen
sich durchweg durch Leichtigkeit in der Handhabung der
Form, durch Anmuth und Zierlichkeit aus. Wir können
natürlich nur auf wenige dieser Gedichte aufmerksam machen,
aber man vgl. z. B. folgende Strophe (P iiij) :
Fliegt ihr Vögel wie die Pfeile,
Bringt der Liebsten meinen Gross,
Sagt, wie ich mit ihro theile
In Gedankken Kuss, umb Kuss,
Küst sie euch, so sagt mirs an,
Dass ich wieder küssen kan.
Ferner folgendes Lied (Q. a f) :
1. Kan dann wohl die Liebste leben,
Wann ich nimmer bey Ihr bin?
Hatt mir dann den Abschied geben
Meines Hertzens Meisterin?
Ach! so will ich nimmer nicht
Fröhlich sehn der Sonne Licht.
10) Natürlich fehlt es auch nicht an Klagen über den Glaubens-
streit. Man vgl. G. 5 b : 'Der Glaubensstreite kan am meisten Wieder-
wertigkeit verursachen, zumahlen bey denjenigen, welche also blind-
eyferig auff ihrer bekantnnss bleiben, dass sie auch alle Satzungen,
wann sie schon schnurrstracks wieder die reine Warheit lauffen, vor
ein lauter Heyligthnmb halten, und das geschiht gemeiniglich mehr
bey den Einfältigen dann bey den Gelehrten.1
348 Eüinger, Johann Joseph Beckh,
2. Also will ich nunmehr werden
Einer der das Dunkle liebt,
Weil mich machen die Gebärden
Meiner Liebsten so betrübt,
Donner, Blitz, und Ungemach
Folgen jhren Augen nach.
3. Soll der Zorn von deinen Strahlen
Deinem Diener (wie du weist,)
Nur des Todtes Bildniss mahlen
Ach, so werde Dir mein Geist
(Der sich nach und nach verliehrt,)
Nach dem Leben zu geführt.
4. Fiehlest du an deinem Hertzen
Wann ein Wind fallt auf die Brust,
Denke dass er nur will schertzen,
Und erwählet seine Lust,
Aber denke doch darbey
Dass es selbst mein Athem sey u. s. w.
Mehr indessen als die bisher behandelten Zweige der
dichterischen Production Beckhs zieht uns seine Th&tigkeit
als Dramatiker an. Auch hier hat er es zu wirklich be-
deutenden Leistungen nicht gebracht, wenn auch einzelne
Scenen in Beinen Dramen immerhin ein nicht gewöhnliches
theatralisches Geschick aufweisen. Allein in einer Geschichte
deß Dramas, welche so verläuft wie die Deutschlands im
17. Jahrhundert muss auch das Mittelmässige seinen Platz
erhalten und man muss sich durch die Untersuchung klar
darüber zu werden Buchen, in welcher Stelle der Entwicklung
es als Factor mitzuzählen ist. Mit vielen Dramatikern des
16. Jahrhunderts könnte es übrigens Beckh an Erfindungs-
kraft und dramatischem Talent getrost aufnehmen.
Beckh hat vier Dramen verfasst, die sämmtlich in Prosa
geschrieben sind. Die Acte bezeichnet er als Abhandlungen,
die Scenen als Aufzüge.
Seine Laufbahn als Dramatiker begann Beckh mit einer
Dramatisirung des altgriechischen Romanes von Theagenes
und Chariklia.11) Der anmuthige Roman Heliodors hat
durch die bunte und vielfach verschlungene Kette seiner
Abenteuer auf die Phantasie der deutschen Dichter des
n) Erneuerte Chariclia. Dreseden. 1666. Exemplar auf der königL
Bibliothek in Berlin.
Etlinger, Johann Joseph Beckh. 349
17. Jahrhunderts einen mächtigen Eindruck gemacht und
auch auf die Entwicklung des deutschen Bomanes in der-
selben Zeit einen nennenswerthen Einfluss ausgeübt, den
im einzelnen zu verfolgen und nachzuweisen eine lohnende
Aufgabe sein würde. Bereits im 16. Jahrhundert hat sich
in Deutschland der Roman offenbar grosser Gunst erfreut:
im Jahre t559 erschien die Übersetzung des Romanes von
Johann Zschorn, Schulmeister zu Westhofen im Elsass, der
nicht das griechische Original, sondern eine von Stanislaus
Warschewiczki verfertigte lateinische Übersetzung desselben
(1552) zu Grunde lag (Exemplar auf der königlichen Biblio-
thek in Berlin). Was den Übersetzer an dem Werk, dem
er seine Kräfte gewidmet hatte, so anzog, war der moralische
Werth, den er ihm zuschreiben zu können glaubte; erhob
es besonders hervor, 4das diese Poetische Hißtori, souil
schöner Moralia in ßich hatt, welche hohem vnd niderm
stand, Alten vnd Jungen, ihre tugend vnd Laster anzeigen,
▼und gute lehr geben, wie beide junge gesellen und junck-
frawen, sie seyen bey jhren älteren, oder in der fremde,
einen feinen züchtigen, keuschen vnnd frommen wandet
füren sollen, welches Gott gefällig, vnd ihnen nutz vnd
glücklich ist, auch wie man sich ifl glück vnd vnglück, in
lieb vnnd leid, vnder feinden vnd freunden halten soll'.
Die Übersetzung selbst ist, wenn man den aus der Zeit sich
ergebenden Masstab anlegt, eine wohlgelungene zu nennen.
Natürlich fehlt es weder an steifen Partien, noch an Fällen
einer unbeabsichtigten Komik, aber im ganzen hat sie den
richtigen Ton getroffen. Sie muss sehr viel gelesen wor-
den sein, denn sie ist wiederholt neu aufgelegt worden
(Frankfurt 1580; hierauf im Buch der Liebe, Bl. 179. Leipzig,
1597, Strassburg 1620 und 1624), ja noch aus der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts liegt ein Nürnberger Druck der
Übersetzung vor (Eönigl. Bibl. in Berlin Vz 1040).
Bei der Beliebtheit, der sich Heliodors Erzählung also
in Deutschland erfreute, kann es uns nicht Wunder nehmen,
wenn ebenso wie in Spanien (durch Juan Peres de Mon-
talvan und Calderon), in Frankreich (durch Hardy) und in
England (durch einen unbekannten Dichter) auch in Deutsch-
land der so interessante Stoff dramatische Bearbeitung fand.
350 Ellinger, Johann Joseph Beckh.
Aber auch in Deutschland war Beckh nicht der erste, der
den Stoff ergriff; er fand schon einen Vorgänger und zwar
keinen geringeren alß Brulowius (Chariclea 1614). Die Frage
wäre wohl aufzuwerfen, ob Beckh Brülows Drama gekannt hat.
An sich wäre die Bekanntschaft Beckhs mit Brülow nicht un-
wahrscheinlich; Beckh ist in Strassburg zu einer Zeit auf-
gewachsen, wo Brülows Stücke dort unmöglich schon ganz
vergessen gewesen sein können. Aus dem Drama Brülows
selbst lässt sich freilich irgend welche Folgerung nicht
ziehen; in Beckhs Chariklia ist nichts zu finden, was eine
Bekanntschaft mit Brülow bewiese; gemeinsame Ab-
weichungen und Erweiterungen finden sich fast gar nicht;
nur die veränderte Folge der Handlung ist bei beiden ähn-
lich; doch kann aus dem einen Moment unmöglich mit ab-
soluter Sicherheit auf die Beeinflussung des einen durch
den anderen geschlossen werden.
Der altgriechische Roman führt uns mitten in die
Schicksale des liebenden Paares hinein; wir begegnen am
Anfange des Romanos Theagenes und Chariklia an der
herakleotischen Mündung des Niles, wo sie, soeben erst von
der Gefahr befreit, Räubern zur Beute zu werden, aufs
neue in die Hände von*Räubern fallen. Erst im weiteren
Verlaufe der Erzählung werden uns die wichtigsten That-
sachen aus dem früheren Leben des Paares enthüllt, wir
erfahren, dass Chariklia von ihrer Mutter, einer äthiopischen
Königin, ausgesetzt worden, dann von dem Priester Charikles
in Delphi aufgezogen worden ist; hier hat sie den thessa-
lischen Fürstensohn Theagenes kennen gelernt und ist,
nachdem sie von andrer Seite über ihre Abkunft unter-
richtet worden ist, mit diesem entflohen. Brülow ist bei
seiner Neigung zur epischen Entfaltung der Stoffe ziemlich
vom Anfange der Geschichte ausgegangen. Zwar beginnt
er nicht mit der Geburt der Chariklia, wohl aber zehn
Jahre danach; ganz im Geiste des 16. Jahrhunderts wird
uns zuerst die trauernde Mutter vorgeführt, die sich nach
dem Kinde sehnt, das sie hat aussetzen müssen, und rührend
sind die Klagen, die der Dichter der Mutter in den Mund
legt. Die Innigkeit der Beziehungen zwischen Eltern und
Kindern spricht auch aus den darauf folgenden Scenen, die
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 351
von Brülow frei erfunden sind und die die zehnjährige
Chariklia unter den Hirten zeigen, denen sie bald nach
ihrer Geburt übergeben und unter denen sie aufgewachsen
ist: es ist ein Bild von anmuthender Frische und Natürlich-
keit, in welchem wiederum, wie so häufig im 16. Jahr-
hundert, das Lob des Landlebens gesungen wird, wo Un-
schuld und Einfachheit wohnen, aber Geiz, Hoffahrt, Stolz
und Ehrsucht keine Stätte haben und die Natur die
mannigfaltigsten reinsten Freuden gewährt.
Es ist kaum anzunehmen, dass Beckh, wenn er Brülow
gekannt hätte, bei seiner eignen Neigung zur pastoralen
Dichtung sich die Erfindungen Brülows ganz hätte entgehen
lassen. Das Gleiche gilt wohl von den mythologischen
Scenen, die Brülow dem in seiner Yorlage gefundenen Stoff
aufgeheftet hatte, dem Gespräch, in dem Venus den Cupido
veranlasst, Chariklia mit seinem Pfeil zu verwunden (1, 4)
und dem Zank zwischen Venus und Diana (II, 5, vgl. auch
11,2), der an die seit Benedictus Chelidonius im 16. Jahr-
hundert so häufig vorkommenden Erfindungen erinnert, für
welche namentlich auf Jakob Funckelin und Hans Sachs
zu verweisen ist. Bei der Vorliebe des 17. Jahrhunderts
für derartige mythologische Einkleidungen würden wir wohl
auch in dieser Beziehung einen Nachklang des Brülowschen
Stückes bei Beckh vernehmen, wenn ihm dieses eben be-
kannt gewesen wäre.
Auch Beckh weicht wie Brülow in seinem Ausgangs-
punkt von Heliodor ab; er lässt sein Stück ebenfalls in
einer früheren Zeit anfangen als der alte Roman beginnt.
Freilich so weit wie Brülow geht er nicht zurück, sondern
sein Stück wird eröffnet mit Theagenes' Werbung um
Chariklia in Delphi, während Heliodor uns unmittelbar in
die Abenteuer einfuhrt, die das Paar nach seiner gemein-
samen Flucht aus Delphi zu bestehen hat. Man kann sich
leicht erklären, weshalb Beckh diese Änderung vorgenommen
hat: er wollte auf die Ausmalung des dankbaren Themas,
der beginnenden Liebe zwischen Theagenes und Chariklia
nicht verzichten. Freilich ist ihm gerade dieser Theil sehr
wenig gerathen, man wird durch beständige Steifheiten und
Nüchternheiten gestört. Zunächst hat Beckh ein Motiv
352 Eilinger, Johann Joseph Beckh.
hereingebracht, welches bei Heliodor fehlt und für das
17. Jahrhundert sehr charakteristisch ist: den Standes-
unterschied. Der thessalische Fürst Theagenes wird einiger-
massen von Gewissensbissen gequält wegen seiner liebe
zu Chariklia, von deren königlicher Abkunft er noch nichts
weiss: 'Ach Himmel! Könte der Himmel dich zu einer
Fürstin machen, Ich wolte mich den Glückseeligsten der
Welt schätzen, aber die Unmöglichkeit schneidet aller
meiner Hoffnung den Pass ab, Ich verbleibe der Thessalische
Fürst, Du aber nur eines Priesters Tochter9. Doch ent-
schliesst er sich um ihrer Schönheit willen alle seine Vor-
urtheile zu überwinden und ihr Herz und Hand anzutragen,
wofür er aber dann durch die Entdeckung ihrer edlen Ab-
kunft sattsam belohnt wird. Mehr noch als die Einfügung
dieses Motives, die aber doch auch eine recht nüchterne
Gesinnung verräth, stören gewisse Plattheiten, die in den
Worten der auftretenden Personen zu finden sind. So wenn
Chariklia I, 3 auseinandersetzt, weshalb sie dem Theagenes
nicht sogleich ihre Liebe verrathen habe und der Anfuhrung
des letzten Grundes, sie habe sich vor ihrem Pflegevater
gefürchtet, folgendes in ihrem Munde so wenig als möglich
passende Räsonnement hinzufügt:
Das seynd auch die thörichsten Eitern, welche ihnen nicht
allein gefallen lassen, sondern vielmehr gross dadurch dunkken
zu seyn, wann ihre Töchter mit grossen Herren umgehen, da sie
doch wohl wissen, warumb solches geschiehet, warhafftig umb
den Ehestand ist es nicht zu thun, durch solche vermeinen sie
grossen Geniess zu haben, wenn ihnen bissweilen ein köstlich
Kleid an Halss geworffen, oder sonsten was zugeschantzet wird,
aber sie verlieren offtermahlen dieses, was sie in Ewigkeit nimmer-
mehr erwerben können, und verursachen dadurch, dass sie von
ihres Gleichen nimmer geachtet werden, sondern bleiben sitzen.
Muthen uns derartige Ausführungen ebenso wie der
von Beckh gemachte Zusatz, dass sich Theagenes und
Chariklia, bevor sie ihre Flucht unternehmen, erst von einem
Priester trauen lassen, recht steif und altfränkisch an, so
zeigt sich etwas mehr poetischer Sinn und wirkliche Leiden-
schaft in den Scenen, welche die Liebe der Frau des Sa-
trapen Oroondates Arsace zu dem gefangenen Theagenes
und ihrem Versuche, ihn zu gewinnen, schildern — Scenen,
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 353
für die Brülow die Yerführungsscenen der Josephsdramen
benutzen konnte und thatsächlich auch benutzt hat. Gleich
der Eingangsmonolog der von rasender Liebe zu dem ge-
fangenen Theagenes gefolterten Frau lässt das Bestreben
des Dichters erkennen, der leidenschaftlichen Liebesglut
der Arsace einen adäquaten Ausdruck zu geben (111,2):
Ich sinke zur Erden, ehe dass ich anfange zu reden, Ich
verzweifele, ehe dass ich klage! mein Gemüthe wird von den
grausamsten Furien zurissen und mein Herz leidet die grösten
Folterungen, Ich habe eine Person in der Seelen, die ist mein
Leben und Todt, Ich führe ein Wort auf der Zungen, das brichet
mir den Halss, Theagenes thuts, Theagenes ists, Ein wunderbahrer
Wechsel, Theagenes ist als ein Gefangener hierher gebracht wor-
den, und hatt mich Selbsten gefangen, so gar, dass wo ferne ich
jhn nur einen Tag nicht sehe, ich zu sterben gedenke.
Sind diese Scenen nun auch mit Liebe und nicht ganz
ohne Geschick ausgeführt, so ruhte doch das Hauptinteresse
des Autors nicht auf ihnen, sondern auf einem andern
Gegenstande. Der Kriegszug, den der wirkliche Vater der
Chariklia Hydaspes gegen den Satrapen Oroondates führt,
gab ihm Gelegenheit, eine Berathung des Fürsten mit seinen
Käthen einzuflechten, in welcher nicht nur die verschiedenen
Arten der Kriegsführung, die Wirkung des Krieges auf die
Unterthanen in ganz allgemeiner Weise erörtert, sondern
auch volkswirtschaftliche und finanzielle Fragen weitläufig
besprochen werden. Die beiden Scenen umfassen zwanzig
Seiten (II, 1 und 4) und fallen natürlich vollständig aus
dem Rahmen des Stückes heraus. Der Dichter aber muss
hierauf besonderen Werth gelegt und grosse Sorgfalt ver-
wendet haben; er ist offenbar auch sehr stolz gewesen auf
die Schulweisheit, die er mit gespreizter Pedanterie aus-
gekramt hat.
Yon Geistererscheinungen, die Beckh später so häufig
verwandte, findet sich in dem Stück nur eine (II, 4). Die
grausige Scene bei Heliodor (VI, 14 f.), wo die Hexe, eine
Vorläuferin von Heines Uraka, ihren todten Sohn belebt,
musste Beckh ebenso wie Brülow sich entgehen lassen.
Fasst man alles zusammen, so kann man das Stück
nicht sehr hoch stellen. Und zwar nicht allein wegen der
nur selten unterbrochenen Trockenheit und Nüchternheit
Vierteljahischrift für Utteratoigeechiohte V 23
354 Ellinger, Johann Joseph Beckh.
des Ausdrucks, sondern auch um vieler Mängel in der
Composition und Schwerfälligkeiten in der Scenenführung
willen. Von dem theatralischen Geschick, das Beckh so-
wohl im Aufbau des ganzen Stuckes als auch in der Be-
handlung des Einzelnen gleich in seinem zweiten Drama
an den Tag legte, war hier noch nichts zu spüren ; freilich
war auch der von ihm gewählte Stoff zur Dramatisirung
wenig geeignet oder es war ein grosserer Dramatiker als
Beckh nöthig, um die abenteuerreiche, vielfach verschlungene
Geschichte zum einheitlichen Drama umzuschmelzen.
Ebenso steif und pedantisch wie das Stuck selbst ist
das Zwischenspiel, von dem je ein Act nach dem ent-
sprechenden Acte des Dramas eingeschaltet ist. Der In-
halt des ebenfalls in Prosa geschriebenen Stückes ist fol-
gender :
Der Tagelöhner Tilon wfll aus seinem Sohne Alamod etwas
Rechtes machen, daher giebt er ihn zunächst einem Gelehrten in
die Schule, der, nachdem er aus den Antworten des Alamod auf
seine Fragen in dem Jungen einen anschlägigen Kopf gefunden
zu haben glaubt, erklärt, er hoffe aus ihm wohl etwas machen
zu können. Aber das Studium behagt dem Alamod nicht, und
er wendet sich desshalb dem Hofleben zu. Allein auch von
diesem hat er bald genug und spricht seine Absicht aus, in den
Krieg ziehen zu wollen. Aber schon bei seinen ersten Be-
gegnungen mit den Vertretern des Kriegshandwerks macht er
schlimme Erfahrungen und kehrt endlich recht heruntergekommen
wieder zu seinem Vater zurück. Dieser räth ihm, sich um eine
reiche Alte zu bewerben, was Alamod zunächst durch einen
albernen Liebesbrief und dann auch mündlich thut. Er wird er-
hört, macht aber schlimme Erfahrungen, seine Frau setzt ihm
Hörner auf, und nur durch den Zufall, dass sie ins Wasser fällt,
wird er von ihr erlöst.
In der Vorrede spricht sich Beckh über den Zweck,
den er mit dem Nachspiele verfolgt habe, dahin aus, es
sei zwar nicht allzu viel Kurzweiliges darin, allein, es sehe
'weit in den iezigen Welt-Lauff hinein9.
Es wird dieser Alamod nicht umsonst Alamod genannt, man
erwege seine Discours, und zwar anfangs wird er verständig, bald
aber, und auf die letzte thöricht und alber vorgestelt, auch nicht
sonder Ursach, seine Reden und ganze Handlung haben ihr ge-
wisses absehen, nicht dass ich auff eine oder die andere Person,
die sich getroffen findet, in specie geziehlet hätte, ich habe es in
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 355
genere, und wie es an einem und dem andern Orth herzugehen
pfleget, vermeidet, Sonder Ruhm hab ich die Arth und Weise an
unterschiedlichen Fürstlichen und Gräßlichen Höfen, wie auch in
Reichs-Städten zu regieren und zu leben, öffters wohl observirt,
dass ich leichtlichen einen oder den andern Orth getroffen mochte
haben, wann ich schon daran nicht gedacht, wie es mir einfiel
und zu appliciren vermeinte, also schrieb ichs hin, wer sich aber
getroffen befind und übel zufrieden damit ist, der fechte es mit
Alamoden aus, ich werde ihn wohl gehen lassen, ob er mich
schon selbsten mit getroffen, das ist wahr, seine Frau die Pythia
hat Aber alle die massen viel Schwestern.
Man wird Beckh darin Recht geben, dass sich sehr
wenig Kurzweiliges in dem Stücke findet, die eingefügten
Spässe, so z. B. der schon seit dem 1 5. Jahrhundert auf-
tauchende, von Gryphius zu Tode gehetzte, dass jemand
ein lateinisches Wort für ein deutsches hält und auf diese
Weise alle möglichen Missverstandnisse entstehen, sind recht
plump und ungeschickt (C 2 b). Offenbar wollte Beckh in
dem Alamod einen in seiner Zeit häufig wiederkehrenden
Typus schildern, daher auch die Ausfalle gegen bestimmte
Unsitten der Zeit, das Alamodewesen, auf welches schon der
Name des Helden hindeutet, daher das lange Verweilen
bei der Yerhöhnung der närrischen ausländischen Kleidung
und ähnliches mehr. Aber zu einer Charakteristik des
frechen, pietätlosen und albernen Helden sind fast gar keine
Ansätze gemacht, die Scenen sind dürftig und ungeschickt
und nur einzelnes, auf das der Verfasser offenbar grossen
Werth gelegt hat, ist sorgfaltiger ausgeführt worden; so
das Gespräch des Alamod mit dem Philosophen Celintes,
in welchem dieser dem Alamod verschiedene Beschäftigungen
empfiehlt, von denen Alamod eine jede mit anderen Grün-
den zurückweist. Das Stück bietet nirgends etwas An-
ziehendes.
Lehnte Beckh sich in der erneuerten Chariklia Zug
für Zug an eine erzählende Vorlage an und kann man in
den Änderungen, die er dem überlieferten Stoff aufheftet,
die Zeichen eines wirklich originalen poetischen Schaffens
eben nicht erkennen, so beweist er in seinem zweiten und
besten Drama eine gewisse dichterische Selbständigkeit.
Der 'Schauplatz des Gewissens' (1666) ist das einzige
23*
356 Ellinger, Johann Joseph Beckh.
der Dramen Beckhs, welches um seines Stoffes willen schon
seit längerer Zeit eine gewisse Beachtung gefunden hat.1*
Es behandelt ein faustisches Problem, und obgleich der
Held nicht Fausts Namen trägt, so fehlt es doch in dem
Stücke nicht an deutlich erkennbaren Anklängen an die
Faustsage, ja auch dem Volksdrama scheinen einige Züge
entlehnt zu sein, wovon noch weiter unten die Rede sein solL
Am Anfange des dreiactigen Stückes beklagt sich der faustische
Held Gosraophilus über den geringen Lohn, den ihm sein tugend-
haftes Leben eingebracht und beschliesst sich der Wollust und
dem Vergnügen zuzuwenden; deshalb weist er auch den Theophilus,
der ihm ein Kreuz und ein Buch anbietet, ab, obgleich dieser
ihm das Buch überlässt, ohne etwas dafür zu fordern, und wendet
sich dem Falsarius zu, der ihm einen Ring mit einem Spiritus
familiaris, einen Kristall zum Schätzefinden, Würfel und Karten,
die immer gewinnen, zum Kaufe anbietet. Dann treffen wir den
Gosmophilus in der Gesellschaft der schönen, aber unzüchtigen
Amartia, die ihm die Freuden der Liebe willig gewährt, und
ihres Bruders Cosmus; Schätze, die er mit Hilfe des erhandelten
Kristalls findet, geben ihm die Möglichkeit zu einem wilden
Prasserleben; bei einem mit Cosmus, Amartia und anderen Ge-
sellen abgehaltenen wüsten Gelage erschlägt Gosmophilus den
Händler TheophiJus, der ihm wegen seines lästerlichen Fluchens
Vorhaltungen macht. Von dem Erzengel Michael und dem Geist
des Theophilus zunächst vergeblich zur Busse ermahnt, wird Gos-
mophilus von den Freunden des Theophilus gefangen genommen
und dem Gericht überliefert. Im Gefängniss, wo er dem Tode
entgegenharrt, der ihn am anderen Tage um seines Mordes willen
treffen soll, erscheint ihm Lucifer und verspricht ihm Befreiung,
wenn Gosmophilus sich ihm mit seinem Blute verschreiben wolle;
Gosmophilus geht darauf ein, Lucifer erschreckt den eintretenden
Wächter so, dass dieser davon läuft und Cosmophilus aus dem
Kerker, entweichen kann. — Im zweiten Act finden wir Cosmo-
philus in einem einsamen Walde und hier beginnt zuerst die
mahnende Stimme seines Gewissens zu sprechen, neben den
Klagen, die er selbst ausspricht, namentlich durch die Donner-
worte der auftretenden Conscientia versinnbildlicht. Hierauf er-
") Exemplar in Berlin. Vgl. Zeitschrift f. deutsches Alterthum
u. deutsche Litt. 29, 97 ff. Spengler, Zur Geschichte des deutschen
Dramas, Progr. Ig] au 1886 S. 4. Auf eine Notiz, die von einer Auf-
führung des Stückes in Leipzig 1675 berichtet (vgl. Dohmke, Die
Nicolaischule im 17. Jahrhundert. Progr. Leipzig 1874 S. 32), verweis
Bolte in seiner inhaltreichen Einleitung zu der Ausgabe des Düdeschen
Schlömers, 1889 S. 32.
Ellinger, Johann Joseph Beckh. 357
scheinl Helena und nimmt den Cosmophilus als einen Leibeigenen
ihres Herrn, des Lücifer, in Anspruch, indem sie ihm die Hand-
schrift vorzeigt; sie lässt ihn einen Blick in die Hölle und die
Qualen der Verdammten thun, entflieht aber, als Cosmophilus den